Palästinas Antrag auf UN-Vollmitgliedschaft: Reaktionen in Israel

Wurde bei seiner Rede vor der UN-Vollversammlung gefeiert wie ein Rockstar: Mahmoud Abbas. Bild: Olivier Pacteau. Lizenz: CC-BY Original: Flickr.

26. September 2011
Marc Berthold
Die Reden sind gehalten. Der große Knall ist (vorerst) ausgeblieben. Palästinenser wie Israelis verfolgten die Ansprachen von Präsident Abbas und Ministerpräsident Netanyahu vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen an den Bildschirmen. Während sich tausende Palästinenser zum „Public Viewing“ in mehreren Städten des Westjordanlandes versammelten, sahen die Israelis während des Sabbat-Dinners vor den eigenen TV-Geräten zu. Das israelische Fernsehen zeigte im Wechsel die feierliche Stimmung in Ramallah, Bethlehem und Hebron. Es ließ sich nicht leugnen, dass dieser Abend etwas Historisches hatte, wenn auch nicht von unmittelbarer Konsequenz.

Zwar hatte das israelische Militär die Alarmstufe erhöht, und es kam im Laufe des Freitags am Übergang Qalandia sowie auch im Ostjerusalemer Stadtteil Silwan zu Zusammenstößen, aber ein größerer Ausbruch von Gewalt blieb auch über das Wochenende hin aus. Der einzige Zwischenfall passierte nahe Nablus: ein junger Vater kam, vermutlich durch Gummigeschosse israelischer Truppen, ums Leben. Unmittelbar nach den Reden berichteten die israelischen Medien von einem drohenden Terrorangriff an der israelisch-ägyptischen Grenze, doch dazu kam es nicht.

Kurz vor seiner Rede hatte Präsident Mahmut Abbas formal den Antrag auf UN-Vollmitgliedschaft Palästinas bei Generalsekretär Ban Ki-Moon eingereicht, der ihn noch am Abend an den Sicherheitsrat weiterleitete. Nahezu zeitgleich einigte sich das Nahost-Quartett auf einen Zeitplan zu neuen, direkten Verhandlungen von Israelis und Palästinensern. Es schien, der Antrag der Palästinenser sei damit vorerst auf Eis gelegt. Am Samstag jedoch lehnte die palästinensische Seite den Quartett-Vorschlag ab, da er keinen Siedlungsstopp beinhaltete. Stattdessen kündigte Ban Ki-Moon an, der UN-Sicherheitsrat werde sich bereits am kommenden Montag mit dem palästinensischen Antrag befassen. Dort ist jedoch noch keine Entscheidung zu erwarten.

Unter progressiven und linken Israelis fand die Rede Abbas Sympathien. Er habe sie mit viel Klarheit und Pathos gehalten. Allerdings, so einzelne Stimmen, habe er wenig zur Vertrauensbildung beigetragen, mit der moderate Israelis auf ihrer eigenen Seite für Unterstützung in der Bevölkerung werben können. Israelische Regierungssprecher kommentierten die Rede als feindselig und geschichtsverzerrend. Die Ansprache von Ministerpräsident Netanyahu war zwar wie üblich eloquent, beinhaltete jedoch kein greifbares Angebot als Vorleistung für neue Verhandlungen. Sie wurde von Kommentatoren als nicht hilfreich erachtet. Beide Seiten sprachen davon, sich die Hand reichen zu wollen. Konkrete Gesten blieben aus.

Den israelischen Zuschauern blieb nicht verborgen, dass Präsident Abbas wie ein Rockstar mit „Standing Ovations“ empfangen wurde und, dass er auch an einigen fragwürdigen Stellen großen Applaus erhielt. Dagegen leerte sich die Generalversammlung zu Netanyahus Rede deutlich und der vereinzelte Applaus schien überwiegend von der israelischen Delegation und von der Zuschauertribüne zu kommen. Der Haaretz-Korrespondent Barak Ravid ging sogar so weit und schrieb: Abbas sei von der Generalversammlung wie Lady Gaga empfangen worden, während Netanyahu eher das Bild Gadaffis abgegeben hätte. Den Israelis wurde hier deutlich vor Augen geführt, wie isoliert ihr Ministerpräsident in der internationalen Staatengemeinschaft derzeit ist.

Die vergangenen Wochen und Monate waren geprägt von Befürchtungen. Bereits im Frühjahr hatte der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak von einem „politischen Tsunami“ gesprochen, der Israel bevorstünde. Spätestens seit der Ausweisung des israelischen Botschafters aus der Türkei in Folge des Palmer-Berichts zu den Vorgängen auf dem Flotilla-Schiff Marvi Marmara und der Erstürmung der israelischen Botschaft in Ägypten zeigten sich nahezu alle Experten beunruhigt über die bevorstehenden Entwicklungen. Die Frage sei, ob Israel durch die Hölle müsse, oder lediglich durch den Vorhof. Der Freitag, der großen Reden brachte zwar den ersten Herbstregen nach Israel, ansonsten war aber wenig von der befürchteten Unruhe auf Israels Straßen zu spüren.

Die israelische Regierung hat Monate darauf verwendet, die internationale Gemeinschaft von der Unterstützung des palästinensischen Antrags abzubringen. Botschaften wurden angewiesen, bei ausländischen Regierungen vorstellig zu werden. Netanyahu und Liebermann reisten in befreundete Länder, um sich eine „Moral Minority“ zu sichern. In Sicherheitskreisen hieß es bereits im Frühjahr, dieser Kampf sei verloren. Nur ein ernsthaftes Verhandlungsangebot könne helfen, so auch Mitglieder der israelischen Friedensinitiative. Es gehe eher darum, für den Tag danach zu planen, hieß es aus dem Militär. In Sachen Sicherheit, wie auch in der Frage der politischen Strategie.

Planungen im Bereich Sicherheit fanden statt: Das israelische Militär führte Trainingseinheiten zum Umgang mit den zunehmenden, gewaltfreien Protesten durch. Der Militärbeauftragte im Verteidigungsministerium Amos Gilad hatte laut Wikileaks gegenüber amerikanischen Diplomaten zugegeben: „We don’t do Gandhi very well“. Zudem wurden insbesondere die Siedlungen im Westjordanland mit zusätzlicher Ausrüstung ausgestattet und dortige Sicherheitskräfte fortgebildet. Es wird befürchtet, es könne um israelische Siedlungen im Westjordanland zu Massenprotesten kommen und radikale Siedler könnten zur Provokation und Eskalation beitragen. Bereits in der Vergangenheit haben radikale Siedler Olivenhaine in Brand gesetzt und Moscheen geschändet. Häufig wurden sie als Racheakte, sogenannte „Price Tag“ (Preisschild)-Aktionen, für palästinensische Übergriffe bezeichnet. Kürzlich kam es sogar zu einem „Price Tag“-Angriff auf eine israelische Militärbasis, nachdem Soldaten einen illegalen Siedlungsstandpunkt geräumt hatten.
 
Die politische Strategie der israelischen Regierung wird heftig debattiert und auch kritisiert. Zuletzt hat der Journalist Yoel Marcus dem Ministerpräsidenten vorgeworfen, sämtliche Chancen auf einen Ausweg verpasst zu haben. In der israelischen Öffentlichkeit wurde dies zuletzt immer weniger verstanden. Eine Umfrage des Truman-Institutes der Hebräischen Universität in Jerusalem fand heraus, dass knapp 70 Prozent der Befragten eine Entscheidung der Vereinten Nationen befürworteten. Zugleich ergab eine Haaretz-Umfrage zu Beginn der Woche jedoch hohe Zustimmungswerte für die Rede Netanyahus vor der Generalversammlung. Der Kommentator Carlo Strenger beschrieb die israelische Bevölkerung auf einer Podiumsdiskussion der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin kürzlich als von der zweiten Intifada traumatisiert und zutiefst verunsichert. Sie sei nicht radikal. Mit einer verantwortungsbewussten Führung seien die Israelis durchaus zu weitreichenden Schritten bereit.

Auch andere Kommentatoren, über ein breites politisches Spektrum hinweg, rufen dazu auf, einen palästinensischen Staat zu unterstützen und auch als Chance Israels zu begreifen. Am Tag vor den Auftritten von Abbas und Netanyahu in der UN- Generalversammlung unterzeichneten hunderte Intellektuelle und Künstler eine symbolische Unabhängigkeitserklärung für Palästina genau an dem Ort in Tel Aviv, an welchem auch die israelische Unabhängigkeit ausgerufen worden war; darunter der Schriftsteller Yoram Kaniuk, der ehemalige Botschafter Israels in der Türkei Alon Liel, und die bekannte Professorin Galia Golan. Es ist anzunehmen, dass die UN-Resolution nicht die erste Wahl der Israelis ist. Vielen ist jedoch deutlich geworden, dass der Oslo-Prozess in einer Sackgasse steckt, und eine neue Dynamik entstehen muss, um die Chance auf eine Zwei-Staaten-Regelung zu wahren.

Gleichzeitig ist in diesem Land niemand so naiv, nicht auch die Risiken dieser Entwicklung zu sehen. Wird es doch noch zu Massenprotesten kommen, die außer Kontrolle geraten könnten? Werden radikale Palästinenser oder Siedler tatsächlich eine Eskalation provozieren? Wie wird sich Hamas verhalten? Könnten sich die im Umbruch befindlichen Nachbarstaaten einmischen? Die Lage wird als vertrakt und brisant eingeschätzt. Niemand verharmlost die politische Gesamtlage. Zuletzt wurde auch deutlich, dass selbst ein Zurücknehmen des Antrags Konsequenzen haben könnte. Enttäuschung und Wut könnten sich genauso in Gewalt umsetzen.

Der Pfad der nächsten Wochen erscheint eindeutig. Der Antrag wird voraussichtlich im Sicherheitsrat scheitern. Eine Resolution der Generalversammlung wird überwiegend symbolischen Charakter haben. Israels größte Sorge ist, dass, nach einer Erhöhung des palästinensischen Status bei den Vereinten Nationen, Israelis vor dem internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden könnten. Darüber streiten sich die Völkerrechtler. Weder Israelis noch Palästinenser wissen jedoch bislang wirklich, wie es nach einer Entscheidung in New York weitergehen wird.

Höchste Zeit also, für diesen Tag danach zu planen. Den Sommer über hat Präsident Abbas auf eine internationale Initiative gewartet, um vom Weg nach New York in Verhandlungen einzubiegen. Auch israelische Stimmen haben dies gefordert. Diese Initiative kam nicht. Danny Rothschild und Tommy Steiner des Interdisciplinary Center Herzliya fordern in der aktuellen Ausgabe von „Internationale Politik“ den Schritt zu regionalen Verhandlungen für einen großen Frieden Israels mit seinen Nachbarn. Carlo Strenger sieht dafür derzeit insbesondere Europa in der Pflicht. Diejenigen, die in New York nun gegen die Resolution stimmen werden, haben die Verantwortung die Alternative anzubieten. Der bloße Ruf nach direkten Verhandlungen klingt zum derzeitigen Moment unzeitgemäß. Derweil wird die Gefahr von Gewalt in der Region nicht abnehmen.

Special

Israel und der palästinensische Antrag auf UN-Vollmitgliedschaft

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hat am 23. September 2011 bei der UNO einen Antrag auf Vollmitgliedschaft eines Palästinenserstaats eingereicht. Das Special bringt aktuelle Hintergründe und internationale Analysen.
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