Polens neue Chancen: Zur Situation des Landes nach den Präsidentschaftswahlen

Bild: Bronislaw Komorowski. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

15. Juli 2010
von Wolfgang Templin
Die Auszählung der Stimmen aus der zweiten  Runde der polnischen Präsidentschaftswahlen am 4. Juli wurde plötzlich zur Zitterpartie. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als wäre der Vorsprung des liberalkonservativen Kandidaten Bronislaw Komorowski vor seinem nationalkonservativen Herausforderer Jaroslaw Kaczynski  völlig dahin geschmolzen. Zum Schluss waren es dann doch rund fünf Prozentpunkte mehr, die Komorowski zur Präsidentschaft führten. Dieser Entscheidung der polnischen Wähler war ein kurzer, ausgesprochen ungewöhnlicher Wahlkampf vorausgegangen.  Die Flugzeugkatastrophe von Smolensk erzwang die Vorverlegung der Präsidentschaftswahlen, die ursprünglich für den Herbst anstanden. Ganz Polen stand unter dem Schock des Flugzeugabsturzes vom 10.April, dem über neunzig Angehörige der politischen, militärischen und gesellschaftlichen Elite aus allen politischen Lagern zum Opfer fielen,  darunter der Staatspräsident und Zwillingsbruder Jaroslaws, Lech Kaczynski und sein engster Mitarbeiterstab.

Komorowski, der bereits als Spitzenkandidat der Bürgerplattform (PO) für die Herbstwahlen feststand, wurde als Parlamentspräsident urplötzlich zum Interimisstaatsoberhaupt. Da die polnische Verfassung für einen solchen Fall Neuwahlen binnen sechzig Tagen vorsieht, musste er sich mitten in den Trauerfeierlichkeiten auf den Wahlkampf vorbereiten. Lange Zeit war in Polen damit gerechnet worden, dass Donald Tusk, der Führer der PO und Ministerpräsident einer Koalition aus PO und Bauernpartei (PSL) selbst kandidieren würde, um die Gefahr einer Wiederwahl von Lech Kaczynski zu bannen.  2007 war es Tusk gelungen die knapp dreijährige Regierungszeit der Partei  „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) zu beenden und damit die politischen Verhältnisse zu konsolidieren. Sein Entschluss, nicht selbst für das Amt des Staatspräsidenten zu kandidieren, sondern einen Kandidaten aus der eigenen Partei zu nominieren, entsprang politischem Kalkül. Staatspräsident Kaczynski hatte es geschafft, die leidlich erfolgreiche Regierungsbilanz Donald  Tusks durch ständige Blockaden zu einzutrüben und dringend notwendige Reformvorhaben zu behindern. Mit einem Staatspräsidenten aus dem eigenen Lager und einer Stärkung seiner Rolle als Regierungschef wollte Tusk Polen zum Mittelosteuropäischen „Tiger“ werden lassen.

Die Rolle als Wahlkämpfer stand Komorowski nicht besonders gut. Er schaffte es kaum sich inhaltlich zu profilieren; Trauerschock und Hochwasserkatastrophe überlagerten die ohnehin kurze Wahlkampfzeit. Nach der ersten Wahlrunde am 20. Juni lag er nur knapp vor Kaczynski und musste um seinen Sieg bangen. Gesellschaftspolitisch eher konservativ, versuchte er sich relativ erfolglos für die Wähler der Linken zu öffnen, da das gesamte rechte Lager, die Kirche und große Teile der öffentlichen Medien hinter Kaczynski standen.

Die knappe Wahlentscheidung wurde von Kommentatoren als Sieg des westlichen über das östliche, als Sieg des reichen über das arme Polen bewertet. Beide Bewertungen greifen zu kurz, denn weder regionale noch ausschließlich soziale Kriterien gaben hier den Ausschlag. Mehrheitlich jüngere, großstädtische, meist besser ausgebildete und für Europa geöffnete Bürger wählten Komorowski, selbst wenn er ihnen zu blass war und sie ihn nur als kleineres Übel gegenüber seinem fundamentalistischen Widerpart sahen. Dessen Anhänger waren  stärker in Dörfern und kleineren Städten vertreten,  gehörten den traditionsfixierten nationalkonservativen Milieus an oder sahen sich als Opfer der liberalen Modernisierungspolitik

Jaroslaw Kaczynski – ein geläuterter Fundamentalist?
Die Tage nach der Katastrophe von Smolensk zeigten Jaroslaw Kaczynski, den Zwillingsbruder des ums Leben gekommenen Präsidenten und uneingeschränkten Führer der PiS, im Schmerz erstarrt. Er galt als der Härtere und Entschiedenere der beiden Brüder, der Lech Kaczynski in das Amt gehoben hatte und ihn bei dessen zahlreichen Veto-Blockaden und Angriffen auf das Regierungslager antrieb. Als er sich nach Tagen der Trauer und des Schweigens zur eigenen Kandidatur entschloss, zeigte er Gesten der Versöhnung und Läuterung. Ein „neuer“ Kaczynski sollte entstehen, der seinen Widersachern die Hand ausstreckte und nicht mehr auf der Vision einer IV. Polnischen Republik beharrte, die sich vor dem Rest der Welt verbarrikadierte.

Die radikalsten Verfechter seines fundamentalistischen Politikansatzes wurden im Wahlkampf zurückgenommen und durch moderate Stimmen ersetzt, die für das neue Gesicht des künftigen Präsidenten aller Polen stehen sollten. Es gab gute Gründe, an diesem Läuterungswunder zu zweifeln und es eher für Selbstsuggestion und wirkungsvolle Wahlkampfstrategie zu halten. Trotz veränderter Wortwahl und Auftretens blieb der Kern des politischen Projektes der PiS weiter sichtbar. Ein Blick auf die Geschichte der Parteiformation PiS verdeutlicht einiges.

Kaczynskis Lebenswerk war von der Vision des omnipotenten Staates getragen, hinter dem eine Partei steht. In dieser Partei herrscht das Führerprinzip: Abweichler und Abtrünnige werden aus der Festung verbannt und zu Gegnern erklärt. Feste Kriterien bestimmen wer ein Patriot und guter Pole ist. Polen bleibt die ewige Leidensnation und Hochburg des Katholizismus, von potentiellen Feinden umgeben und auf Verteidigung bedacht. In der IV. Polnischen Republik sollte das Erbe der kommunistischen Zeiten radikal aus sein.

Die politischen Strategen der PiS versuchten aus dem Trauermythos und der Läuterungspose des Kandidaten das entscheidende Kapital für den Wahlsieg zu schlagen. Diese Rechnung ging nur zum Teil auf, da sich ein großer Teil der polnischen Gesellschaft zu gut an die Schrecken der PiS- Ära erinnerte. Die Erschütterung über die Katastrophe und die Trauer um die Opfer,  hinderten die polnischen Bürger nicht daran eine rationale Wahlentscheidung zu treffen. Nach der knappen NIederlage am 4. Juli wurden die Weichen im Lager der PiS erneut auf Kampf gestellt. An die Stelle der liberalen Gesichter tritt erneut die Schar der Unversöhnlichen.

Wie einschneidend die jetzige Entwicklung in Polen ist zeigt der Unterschied zu den Präsidentschaftswahlen 2005. Damals verlor der PO- Kandidat Donald Tusk gegen Lech Kaczynski, den Zwillingsbruder  von Jaroslaw und der Rechtspopulist Andrzej Lepper kam auf 15%. Die polnische Linke lag in Trümmern. Heute ergibt sich ein anderes Bild.

Der Erfolg des linken Kandidaten
Zur Überraschung des Wahlkampfes wurde das starke Abschneiden des Führers der postkommunistisch-sozialdemokratischen SLD, Grzegorz Napieralski.  Er kam im ersten Wahlgang auf knapp 15% der Stimmen, während die anderen Präsidentschaftskandidaten, wie der Chef des Koalitonspartners der PO, der Bauernpartei (PSL) Waldemar Pawlak mit ihren Ergebnissen an der Grenze der Bedeutungslosigkeit verharrten. Als jüngerer Apparatschik und Ziehkind der ehemaligen Parteioberen betrachtet, sagten die Umfragen Napieralski vor  Beginn des Wahlkampfes 3-4 % voraus. Er führte jedoch einen spritzigen, lebendigen Wahlkampf, warb um Stimmen aus verschiedenen Milieus und sprach bewusst soziale Themen an, welche die wirtschaftsliberale PO eher vermied und die PiS rein populistisch anging. Vor allem stellte er die Dominanz der Kirche und deren unverhohlene Parteinahme für die PiS in Frage. Er beging auch nicht den Fehler, sich im zweiten Wahlgang sofort offen für Komorowski auszusprechen und damit in dessen Windschatten zu geraten. Andererseits durfte er nicht den Stimmen nachgeben, die einfach von zwei rechten Parteien sprachen, denen man frontal gegenüberstünde. Er betonte die Unterschiede zwischen dem liberalen und dem nationalkonservativen Projekt für Polen und sprach zugleich von den Aufgaben für eine erneuerte Linke. Wie wirkungsvoll sein Versuch sein kann, sich damit von seinen Ziehvätern innerhalb der SLD zu emanzipieren wird erst die Zukunft zeigen.

Entscheidende Gründe für den Erfolg des Kandidaten lagen jedoch nicht in seiner Person, sondern in den gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen der letzten Jahre. Polen zeigt sich zunehmend wirklich in Europa angekommen, vor allem die jüngeren Generationen. Kulturelle Modernität ist nicht mehr einer kleinen Avantgarde vorbehalten, sondern erobert sich zunehmend weitere Räume, aufgeklärter Patriotismus will sich nicht mehr an die Werte von Vorgestern klammern  sondern verbindet sich selbstbewusst mit den Gedanken einer europäischen Zukunft. In zahlreichen Milieus und Initiativen,  landesweiten Netzwerken, wie den Klubs der „Kritischen Politik“ (Krytyka Polityczna) werden linke und grüne Themen diskutiert, die lange Zeit als exotisch galten. Mitten in diesen Milieus finden sich die zahlenmäßig mehr als geringen Mitglieder und Anhänger der polnischen grünen  Partei. Weit über die Minipartei hinaus, wirken jedoch ökologische Basisinitiativen, wie die Klimakoalition. Noch fehlt diesem wachsenden Potential eine wirkliche starke Repräsentanz, erst die nächsten Jahre werden zeigen, was in diesem Teil des Politischen Raumes nachwächst.

Gewinner und Verlierer der Präsidentschaftswahlen rüsten sich bereits jetzt, für die Wahlen zu den lokalen Selbstverwaltungsorganen im Herbst, die ein wichtiges Barometer für die  Verschiebungen im politischen Spektrum sein werden. Die für Herbst 2011 anstehenden Parlamentswahlen fallen in die Zeit der polnischen Ratspräsidentschaft, für welche sich die Regierung Tusk ein ambitioniertes Programm vorgenommen hat. 2014 und 2015 schließlich folgen Europawahlen und Parlamentswahlen zusammen aufeinander. Spätestens dann wird sich zeigen, ob die Hoffnung auf eine erneuerte Linke und eine stärkere grüne Präsenz in Polen realistisch war oder nur ein Traum geblieben ist.

Warschauer Sommer
Mitten in die Zeit nach den Präsidentschaftswahlen fällt ein Ereignis, dass den Warschauer Sommerkalender prägt. Als erstes postkommunistisches Land wird Polen, wird die polnische Hauptstadt Gastgeber der Europride , die seit achtzehn Jahren stattfindet und jedes Jahr in einem anderen Land zu Gast ist. Vor fünf Jahren noch wurde der polnische CSD, von dem für seine Homophobie berüchtigten, damals amtierenden Stadtpräsidenten Lech Kaczynski verboten und später Jahr für Jahr behindert. Jetzt bestimmen zehn Tage lang schwul-lesbische Events zahlreiche Klubs  und öffentliche Plätze der Stadt, werden auf Podien und in Konferenzen die Fragen gleichgeschlechtlicher Partnerschaft und der Auseinandersetzung mit Homophobie und sexueller Diskriminierung diskutiert. Zehntausende internationale Gäste werden am 17. Juli den Höhepunkt der Parade erleben.  Im ehrwürdigen Warschauer Nationalmuseum, einem Bollwerk des Traditionalismus findet seit Wochen eine  Ausstellung „Ars Homo Erotica“ ihre Heimstatt. Der neue Direktor des Museums, ohne den die Ausstellung nie dorthin gelangt wäre, spricht von einer Tür, die sich damit für Polen öffne. Im Vorfeld der Ausstellung hagelte es Schmähungen und Verbotsforderungen, mittlerweile wird sie fast als Normalität angenommen. Die Besucherresonanz ist beeindruckend.

Ein wirklicher Durchbruch ist damit für Polen noch lange nicht erreicht. Während in London und Zürich als vorangegangenen Gastgeberstädten der Europride der Oberbürgermeister und die Oberbürgermeisterin an der Spitze der Parade marschierten, konnte sich die Warschauer Stadtregierung nicht einmal zur finanziellen Unterstützung entscheiden und zeigt mehr als verhaltene Präsenz. Die Warschauer Stadtpräsidentin verabschiedete sich in den Urlaub. Angekündigte Gegendemonstration zur Europride sollen der Verteidigung christlicher Werte dienen.

Große Teile der Kirche, rechte und konservative politische Kreise sperren sich gegen jede Öffnung in diesen Fragen. Daher wird der Kampf für sexuelle Selbstbestimmung, für Antidiskriminierungsgesetze und die rechtliche Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften noch lang und mühsam werden.

 

Wolfgang Templin ist Leiter des Warschauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung.