Friedensfilmpreis 2012: „Csak a szél - Just the Wind“












21. Februar 2012

Chris Kraus




Der Film “Just the wind”, der heute ausgezeichnet wird mit dem Friedensfilmpreis, handelt von der Vernichtung. Er zeigt uns eine Schlachtbank. Sie liegt am Rande eines idyllischen Waldes mitten in Europa. Im Film. Und in der Wirklichkeit.

Vor drei Jahren haben in Ungarn rassistisch motivierte Massaker an mehreren Roma-Familien stattgefunden. Das lesen wir gleich als erstes, wenn der Vorhang sich öffnet. Eine Schrifttafel als Prolog. Der Verweis auf Opferzahlen, auf das, was tatsächlich geschah. Damit ist der Ton gesetzt, das Thema, sogar die gesamte Handlung und der Schlussakkord.

Was danach mit einer grünlich aufblendenden Morgendämmerung beginnt, ist eines langen, bitteren Tages Reise in die Nacht. Ein Vierundzwanzig-Stunden-Schrei, den man kaum hört, so stumm ist er, so gehaucht, oft klingt er wie ein normaler menschlicher Atemzug.

Machen Sie sich auf was gefaßt. Diesen Film sieht man sich nicht an, weil man die Seele baumeln lassen möchte. Diesen Film sieht man sich an, um die Fassung zu verlieren. Und aus diesem Grund, weil jemand die Fassung verloren hat, wurde er auch gemacht.

Wut, Empörung, Auflehnung müssen die Geburtshelfer dieses Unterfangens gewesen sein. Dieser Film, so fragil und komplex er auch erscheint, wurde mit geballten Fäusten gedreht. Und er wird sicher nicht überall mit offenen Armen empfangen werden. Wie es im Redakteurssprech heißt: Kein love interest, kein Feelgood, kein Happyend, keine Fallhöhe, keine Dreiaktstruktur, null Identifikation, kaum Dialoge, viel Schmutz und Elend und wenig Überlebende. Auch in Ungarn wird es Filmförderer geben, die wissen, wie man die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Deshalb ist das erste große Wunder dieses Filmes, daß er überhaupt gemacht werden konnte.

Das zweite große Wunder ist die Art, wie die Geschichte und ihre Figuren uns entgegentreten. Im Grunde berührt der Film Grundlagen eines genozidalen Terrors, der auch im 21. Jahrhundert in Europa jederzeit auszubrechen imstande ist. Doch dieser potentielle Völkermord sickert fast behutsam in den letzten Tag einer vierköpfigen Familie, der vor allem ein Tag ist wie jeder andere. Es gibt Küsse und Ärger, Schuleschwänzen und ein Bad im Fluß, es gibt Feigheit und Fleiß und heiteren Himmel. Doch alles ist von Furcht gesättigt. Die Menschen scheinen beobachtet und nicht von langer Hand erzählt zu sein. Wie aus dem Leben gegriffen sind sogar die Schauspieler, die keine sind. Laiendarsteller erblühen zu Versionen ihrer selbst. Die Dramaturgie enthält sich aller Anstrengung. Die wie ein Gewitter über den Menschen lastende Bedrohung reicht.

Es wäre ein Leichtes gewesen, unseren Sehgewohnheiten entsprechend geschmeidiger zu erzählen. Darauf verzichtet der Regisseur, nicht nur wegen der geballten Fäuste. Sondern den Todgeweihten eine konventionelle, an klassischen Erzählmustern gemästete Attraktivität abzuringen, nur um Zuschauer leichter für sie einzunehmen, würde das Anliegen des Filmes womöglich obszön erscheinen lassen.

Daher sind die sogenannten Zigeuner nicht schöner oder mythischer gezeichnet, als wir Menschen nun einmal sind und die Ermordeten womöglich waren. Der Film läßt ihnen all ihre Würde, zu der auch der menschliche Makel gehört.
Wir sehen unverhülltes Elend, Verwahrlosung, Kleinkriminalität. Wir sehen auch die Schönheit beiläufiger Zuneigung, die Blumenkrone im Haar eines hübschen Mädchens. Als hätte der Regisseur die Kamera einfach nur hoch in die Luft geworfen, da drüben in Ungarn, wenige Stunden vor dem Desaster, so dokumentarisch und lebensnah und willkürlich erscheinen viele verschwebte, man könnte auch sagen verwackelte Bilder.

Doch so ist es nicht. Das dritte Wunder dieses Filmes ist seine grandiose, scheinbar kunstlose Kunstfertigkeit. Ein als Sozialrealismus getarnter, perfektionistischer Horrorfilm, der uns mit Sorgfalt in die Angst führt. Die Kamera klebt nah an den Figuren, gibt kaum etwas von der Welt preis, ist eng und geduckt und verweigert das Offensichtliche. Eine Hand, die eine Wassermelone martert, minutenlang. Ein unscharf fotografiertes Auto, aus dem die Mörder entsteigen könnten, aber dann fährt es davon.

Wirkungsmächtige Bilder ohne Effekte. Ein niemals sichtbares Grauen. Aber ein fühlbares. Das ist schlimmer.

Niemals sehen wir auch nur einen einzigen Spritzer Blut. Niemals sehen wir eine einzige Träne. Niemals sehen wir offene Gewalt in diesem vor Gewalt berstenden Film. Und selbst wenn wir offene Gewalt zu sehen glauben (einmal wird eine Vergewaltigung angedeutet), täuschen wir uns.

Wenn sich die Menschen etwas zufügen, macht sich die Kamera aus dem Staub. Es ist die Tonspur, die uns die Augen aufreißt. Schreie und Schüsse und die Seufzer des Windes. Eine monoton schlagende Musik. Immer wieder hören wir Insekten summen, so nah, als wären die Menschen selber welche. Würmer und Käfer als Menetekel der baldigen Verwesung. Minimalia der Auslöschung.

In einer Szene, in der zwei Polizisten darüber reden, ob man die Gypsies ausrotten könne, wird die einzig sichtbare Gewalt Nüssen angetan. Sie werden geknackt, diese Nüsse, von weißen Polizistenzähnen. Es klingt, als würden Schädel gespalten. Es ist kaum zu ertragen. Der Ton deutet die unverfänglichen Bilder um, oft in ihr Gegenteil. “Just the wind”, es ist nur der Wind, lautet ganz am Ende der letzte gesprochene Satz, der aus einem Geräusch falsche Schlüsse zieht. Und bis zu diesem Punkt zieht sich die Schlinge aus Tönen und Bildern um die Menschen, deren einzige Gegenwehr die Bewältigung ihres kleinen Tages ist.

Das vierte und größte Wunder des Filmes besteht wohl darin, daß die Fäuste irgendwann aufgehen, daß sich die Finger öffnen und eine gebrochene, eine kostbare Welt freigeben. Die Wut, die diesen Film womöglich geboren hat, vergiftet nicht seine Bilder. Der Schmerz bleibt rein. Und so werden wir als Zuschauer zu nichts anderem aufgefordert, als den Schmerz auszuhalten, was schwer genug ist, gerade weil er so leise daherkommt.

Aber darüber hinaus gibt es keine manipulativen Anstrengungen. Hier erhebt sich niemand moralisch. Hier wird nicht aus dem perversen Menschenrechtsverletzungstopf unseres Planeten Honig gesaugt, um uns die fetten Herzen abzukochen.

Dieser Film ist kein Vorwand, sondern ein Anliegen. Etwas zutiefst Humanes liegt in der Kraft und der Kunst des Regisseurs, seinem Entsetzen zu vertrauen. Und so weist dieser Film weit über seinen Anlaß hinaus, die Verfolgung und Ausgrenzung von Roma in Ungarn publik zu machen. Die Ideologien und archaischen Muster, die einst zu Massentötungen in Europa geführt haben, haben ihre Macht nicht verloren. Und so erleben wir unter bestimmten Umständen, trotz der einschlägigen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, auch heute genozidale, auf Auslöschung fokussierte Barbarei. Was die Barbarei für den einzelnen Menschen bedeutet, der ihr ausgesetzt ist, zeigt “Just the wind” auf bedrückende, auf atemnehmende, ja, das ist vielleicht am verstörendsten, auf geradezu zärtliche Weise.

Benedikt Fliegauf, von Herzen mein Glückwunsch!


Friedensfilmpreis 2012


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