Symposium: "Es gibt eine gewisse idealistische Freiheit, die toleriert wird"

Das Podium auf dem Symposium

23. Oktober 2009
Von Karin Lenski
Von Karin Lenski

Der unmarked space, den die Systemtheorie zu ihrem bevorzugten Untersuchungsobjekt machte, fand gewissermaßen seine Entsprechung im Berlin der frühen neunziger Jahre. Fragile Zustände, Übergänge zwischen einer alten und einer neuen Ordnung eröffneten damals Chancen für umtriebige Projektemacher aller Art: Künstler, Unternehmer und politische Akteure. Bis heute zehrt die Berliner Kreativszene vom Zauber dieser Neuanfänge und Freiräume, die durch den Kollaps der DDR entstanden. Schon ist von einer „Berlinification“ auch anderer Städte die Rede.

Welchen Lerneffekt könnte die Gesellschaft in Krisenzeiten aus der experimentellen Herangehensweise von Kunst beziehen? Inwiefern hat sich Kunst ein Anrecht als „proto-politische“ Sphäre erworben? Und auf welche neu entstandenen Interventionsansätze und Teilöffentlichkeiten kann man heute bauen? Flankierend zur Gruppenausstellung „nochnichtmehr – Handeln im unmarkierten Raum“ ging ein halbtägiges Symposium am 10. Oktober 2009 diesen Fragen nach.

„Die Avantgarde ist nicht gescheitert, sie hat sich tot gesiegt“

Die Avantgarde existiert nicht mehr, so lautete die These, mit der der Heidelberger Politikwissenschaftler Klaus von Beyme seinen Vortrag einleitete. Ihre Ziele, namentlich die Literarisierung und damit Theoretisierung der Kunst sowie der damit verbundene Anspruch, ein gesellschaftsveränderndes Moment zu schaffen, habe bis zum Zweiten Weltkrieg gut funktioniert. Ihrem Wesen nach sei die klassische Avantgarde eine Veränderungsphilosophie gewesen, die mit ihrer kritischen Haltung gegenüber Staat und Religion nicht selten in rechtliche Konfliktsituationen geriet. Doch habe sich die Avantgarde seit den 1940er Jahren zunehmend hin zu einer „kreativen Klasse“ entwickelt, die inzwischen unüberschaubar sei und sich zudem an einer marktstrategischen Logik orientiere. Der Avantgarde, so von Beyme, gingen heute schlichtweg die Akteure aus. Weder gebe es in der zeitgenössischen Kunst Momente der Provokation, noch eine Öffentlichkeit, die sich darüber aufrege. Vielmehr trete heute die individuelle Empörung an die Stelle des rechtsstaatlichen Eingriffs. Dies mache es schwierig, sich auf dem Kunstmarkt zurechtzufinden, zumal klare Positionen kaum noch zu identifizieren seien.

Kann Kunst in Krisen hineinreagieren?

Befindet sich die Gegenwartskunst also in einem Prozess der Degression? Könnte man sogar von einem „De-Skilling“, also einer Abnahme der handwerklichen Fähigkeiten sprechen? Tatsächlich empfinde er persönlich das Ausweichen in Videokunst und neue, virtuelle Kunstformen als problematisch, so Beyme im Gespräch mit dem Publikum. Der Kunst kämen auf diese Weise große Teile der Öffentlichkeit abhanden, da sie in die Exklusivität abtauche. Um gesellschaftlich wirksam zu sein, gebe es nicht genügend Resonanzen außerhalb des selbstreferenziellen Systems aus professionellen Kritikern und Künstlern.

Vielleicht aber ist dieser Ansatz zu funktional und weist der Kunst eine Rolle zu, die sie selbst stets verweigert: nämlich die der „Retterin“, „Provokateurin“ oder gar „Visionärin“ in Krisenzeiten. Kunst funktioniert anders als andere Systeme, stellte der Philosoph Christoph Menke klar. Insofern sei es sinnlos, sie an den Merkmalen anderer Systeme – wie z.B. der Entscheidungsfindung im Politischen – zu messen. Zwar greife auch sie Themen auf, die in der Gesellschaft zirkulieren, aber eben mit ihren eigenen Darstellungsweisen. Diese können – wie im Falle einer besänftigenden „L’art pour l’art“-Rhetorik – dann durchaus auch systemkonform sein, gab die Berliner Künstlerin Alice Creischer zu bedenken: „Es ist nicht so, dass Künstler automatisch eine Avantgarde-Funktion innehaben; auch sie sind Teil der neoliberalen Bewegung gewesen“. Überhaupt halte sie die Trennung zwischen affirmativer Kunst und Kunst, die auf soziale Umwälzungen reagiere, für unangebracht: „Wir sollten nicht so finalistisch denken“.

Hat sich zumindest die Wahl der Themen gewandelt durch die Impulse von historischen Zäsuren? Sicherlich habe die Kunst ihren Anteil gehabt an der Auseinandersetzung mit ’89, so die Kunsttheoretikerin und Hochschullehrerin Beatrice von Bismarck. Weniger jedoch in Form einer lösungsorientierten, gar „rettenden“ Kraft. Da sie integraler Teil einer Gesellschaft ist, gebe es vielmehr kaum eine Kunst, die nicht politisch zu lesen sei. Christoph Menke störte sich an der Vorstellung, das ästhetische Feld reagiere gleichsam nur auf die Impulse aus der Ereignisgeschichte. Ein analytischer Ansatz, der Umbrüche allein anhand von Einzeldaten und deren symbolischen Bedeutung beschreibe, könne doch kaum der einzig wahre sein. Immerhin finde eine Transformation des Kapitalismus bereits seit 30 Jahren statt.

„Sobald man präzise wird, bekommt man Schwierigkeiten.“

Wenn schon die Kunst keine Leitbild-Funktion ausübe, profitiert sie dann wenigstens von gesellschaftlichen Krisen? Der normative Anspruch, was Kunst leisten sollte, werde zum Glück nicht oft erhört, so Creischer. Ob man die künstlerische Autonomie nun als ein Stören oder ein Sich-Nicht-Einfügen in Erwartungen betrachte, sei im Grunde nicht relevant. Nach ihrer eigenen Erfahrung werde „Provokation nicht um der Provokation willen ausgeübt“. Anlass sei stets die eigene Empörung über etwas. Auch störte sich Creischer an der Einschätzung, dass Kunst heute auf keine Widerstände mehr treffe: „Sobald man eine präzise politische Aussage macht, bekommt man Schwierigkeiten.“ Verschiedene Sparten, in denen künstlerische Provokation allerdings toleriert wird – wie etwa der Bereich der Sexualität und Pornographie im Westen – korrespondierten mit den Mechanismen im kapitalistischen System. „Es gibt eine gewisse idealistische Freiheit, die toleriert wird, solange sie den vorhandenen Machtapparat nicht betrifft.“

Entleertheit, fehlender Sinn und das Unvermögen, richtig und falsch voneinander zu unterscheiden: Dies sind Fragestellungen, mit denen sich eine Gesellschaft – nicht nur in Krisenzeiten – auseinanderzusetzen hat. Für die Kunst ist dies kein Grund zum Verstummen. Unter veränderten Vorzeichen, die – um mit Samuel Beckett zu sprechen – darin liegen, das Scheitern mitzudenken, hat sie einen Weg gefunden, ihre Vielfältigkeit im Spektrum zwischen lukrativem Anlageobjekt und politischer Intervention zu behaupten. Kulturpessimismus jedenfalls scheint unangebracht.