Timothy Garton Ash zu Europa & Krieg in der Ukraine

Timothy Garton Ash ist eine der bedeutendsten Stimmen in Europa. In seinem neuesten Buch «Europa: Eine persönliche Geschichte» (im engl. Original «Homelands») schildert er, wie sich Europa von den Verwüstungen des Krieges erholte, wie es sich wiederaufbaute und sich dem Ideal eines «ungeteilten, freien und friedlichen» Europas annäherte – bis zum Einmarsch Russlands in die Ukraine. Ein Gespräch über zerschlagene Illusionen, den Krieg in der Ukraine, Rückschläge in der Demokratieentwicklung und den Kampf für Freiheit.

Timothy Garton Ash

Das Interview wurde im Dezember 2023 von Roderick Kefferpütz geführt.

Roderick Kefferpütz: Sie haben in elf politischen Werken den Wandel Europas im letzten halben Jahrhundert nachgezeichnet. Wie fügt sich Ihr neuestes Buch «Homelands» in Ihr Gesamtwerk ein?

Timothy Garton Ash: An diesem Buch habe ich im Grunde 50 Jahre lang geschrieben. Zum einen ist es eine Zusammenfassung meiner bisherigen Arbeiten zu Europa. Ich blicke zurück auf all die Ereignisse, die ich miterlebt habe, auf all die Menschen, die ich getroffen habe, und auf all die wissenschaftlichen Arbeiten und Denkansätze zu Europa im letzten halben Jahrhundert. Über diese «Geschichte der Gegenwart» hinaus ist das Buch jedoch auch eine kritische Reflexion. Aus der Warte der Retrospektive frage ich: Wie konnte es so schlimm kommen? Was haben wir liberalen Europäer*innen dermaßen falsch gemacht, dass es nach 2008 zu dem kam, was ich «die große Wende abwärts» nenne? Diese Kaskade von Krisen, vom russisch-georgischen Krieg über die Finanz- und Flüchtlingskrise und die russische Annexion der Krim bis hin zum 24. Februar 2022 und Putins Einmarsch in die Ukraine.

Was haben wir falsch gemacht?

Dieses Buch übt auch Selbstkritik. Auch ich bin einigen der vielen Formen von Überheblichkeit und Illusionen verfallen, die uns in diese Kaskade von Krisen geführt haben. Wir glaubten zum Beispiel, der Bogen der Geschichte neige sich zu mehr Freiheit, Demokratie und liberaleren, offeneren Gesellschaften. Wie viele andere habe auch ich beim Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder wirklich geglaubt, die EU-Mitgliedschaft sei ein Garant für Demokratie in diesen Ländern. Denn so soll es ja eigentlich auch sein. Das ist die Verfassungstheorie der Europäischen Union. Kaum war ich zu diesem Schluss gekommen, begann Viktor Orbán auch schon, mir das Gegenteil zu beweisen.

Bereits 2010 begann Orbán mit der systematischen Demontage der ungarischen Demokratie ...

So ist es, und nun erpresst er die gesamte Europäische Union in einer der wichtigsten strategischen Fragen unserer Zeit: der Unterstützung der Ukraine. Auf der letzten Tagung des Europäischen Rates im Dezember 2023 nahm er die EU zum Beitritt der Ukraine in Geiselhaft und blockierte anschließend die weitere notwendige finanzielle Unterstützung für die Ukraine. Die Ukraine hat auch unsere Illusion eines immerwährenden Friedens erschüttert. Wir wähnten uns auf dem Weg zu einem idyllischen ewigen Frieden. Wir glaubten, die harte militärische Komponente von Sicherheit sei für uns kein Thema mehr. Diese Arglosigkeit ist uns nun gründlich vergangen. Deshalb behaupte ich, dass der 24. Februar 2022 der Beginn einer neuen historischen Ära ist.

... und damit auch das Ende der Zeit nach dem Mauerfall, die Ära, die Sie als «post-wall» bezeichnen. Die Nachkriegszeit ab 1945 und die «Nachmauerzeit» ab 1989 bilden den konzeptionellen Rahmen, in dem Sie in Ihrem neuesten Buch die Entwicklung Europas analysieren.

Und es sind ja eigentlich überlappende Zeiträume. Das ist für die europäische Ordnung sehr ungewöhnlich. Normalerweise werden bei einem großen historischen Wendepunkt in Europa alle Karten in die Luft geworfen und fallen anschließend in ein neues Muster, wie etwa 1815 oder 1918. Die europäische Ordnung nach dem Mauerfall behielt jedoch die wesentlichen Züge der Nachkriegsordnung bei. Es wurde einfach die westeuropäische Ordnung, die sich beispielsweise durch Freiheit, liberale Demokratie, EU und NATO definiert, auf die andere Hälfte des Kontinents ausgeweitet. Aber dadurch entwickelten wir in der Zeit nach dem Mauerfall auch eine Reihe Illusionen über den Fortschritt von Frieden, Freiheit und Demokratie. In der Nachkriegszeit haben die Menschen solche Illusionen überhaupt nicht gehabt. Sie wussten, dass alles infrage gestellt werden kann. Sie wussten, wie wichtig militärische Sicherheit ist.

Spätestens der 24. Februar 2022 hat uns wieder daran erinnert.

Genau. Er zerschlägt unsere Illusionen und bedeutet damit das Ende der Ära nach dem Mauerfall. Und diese jetzt anbrechende neue Ära ist unglaublich wichtig, denn im Leben, in Beziehungen und in der Politik sind Anfänge immer ganz wichtig. Nehmen wir 1945 als Beispiel. Die frühen Nachkriegsjahre prägten die europäische Ordnung auf Jahrzehnte hin. Genauso war es in den ersten Jahren nach dem Mauerfall. Was wir jetzt tun, ist wesentlich bedeutender als das, was wir etwa 2003 oder 2013 getan haben.

Aber bedeutet der Einmarsch Russlands in die Ukraine dann wirklich das Ende der Ära nach dem Mauerfall oder ist es eher eine Rückkehr zur Nachkriegszeit? Wie Sie ja erwähnten, haben wir uns vor dem Fall der Mauer keine Illusionen von ewigem Frieden und Freiheit gemacht. Müssen wir also eher zu alten Denkweisen zurückkehren?

Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Die Welt, in der wir heute leben, ist eine ganz andere. Von 1949 bis 1989 hatten wir eine ziemlich stabile bipolare Welt. Die Welt, in die wir zurückgekehrt sind, ist weder wie die Nachkriegszeit noch wie die Zeit nach dem Mauerfall. Sie ähnelt eher dem Europa des späten 19. Jahrhunderts. Es ist eine Welt der Realpolitik, in der Krieg wieder ein politisches Mittel ist, und in der es keine klare bipolare Struktur gibt, sondern mehrere größere Mittelmächte. Es ist eine Welt der Bündnisse «à la carte», in der Länder wie Indien, die Türkei, Brasilien oder Südafrika überhaupt keinen Zwang verspüren, sich mit dem Westen oder dem Osten, mit uns oder China, mit uns oder Russland zu verbünden. Sie sind mit ihren mehrfachen Partnerschaften sehr zufrieden. Es ist ganz anders. Und darauf können wir Europäer*innen uns nur sehr schwer einstellen, glaube ich.

Auf den russischen Angriffskrieg hat Europa reagiert und es hat ein Umdenken stattgefunden. Wie beurteilen Sie angesichts des dritten Kriegsjahres in der Ukraine die europäische und insbesondere die deutsche Reaktion und Politik, die sich ja mit dem Ausdruck «Zeitenwende» deutlich positionierte?

Ihre Leser*innen kennen die auf Jean Monnet zurückgehende Theorie, dass die europäische Integration durch Krisen vorangetrieben wird. Jedes Mal, wenn die EU mit einer Krise konfrontiert wird, reagiert sie, und daraus ergibt sich ein Integrationsschub, der sie stärkt. In Wahrheit ist das jedoch nicht immer der Fall. Es soll mir mal jemand erklären, wie die Flüchtlingskrise von 2015/2016 die europäische Integration vorangebracht hat!

Aber im Fall der Ukraine hat der Mechanismus von Herausforderung und Reaktion funktioniert.

Eindeutig. Es herrschte beeindruckende Einigkeit und es vollzog sich ein rascher Wandel. Wer hätte am Vorabend des 24. Februar 2022 gedacht, dass die EU die Europäische Friedensfazilität nutzen würde, um Waffen und Munition für die Ukraine zu finanzieren? Das ist außergewöhnlich. Die Frage ist, ob wir es aufrechterhalten können. Sind wir in der Lage, mehr zu tun? Da die Unterstützung der USA für die Ukraine rapide schwindet, müssen wir die Ukraine noch stärker dabei unterstützen, etwas zu erreichen, das man plausibel als Sieg bezeichnen kann. Es ist kein Sieg, sich mit der derzeitigen territorialen Aufteilung zufrieden zu geben, bei der Putins Russland fast ein Fünftel der Ukraine besetzt hält. Das ist eine Niederlage. Lassen Sie uns das ganz klar sagen.

Was bedeutet das für die Zeitenwende? Müsste diese nach zwei Kriegsjahren nicht weiterentwickelt werden?

Deutschland hat einen langen Weg hinter sich. Nach der Zeitenwende-­Rede von Bundeskanzler Scholz dauerte es etwa ein Jahr, bis tatsächlich die richtige Konsequenz gezogen und die Ukraine deutlich mit Waffen versorgt und unterstützt wurde. Jetzt ist Deutschland der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine. Aber jetzt ist es in der Tat auch an der Zeit, sich noch stärker zu engagieren. Wir brauchen eine zweite Wende innerhalb der Zeitenwende. Wir müssen begreifen, dass wir alles Nötige tun müssen, um der Ukraine zu einem Sieg zu verhelfen, den man auch ernsthaft als solchen bezeichnen kann; der von der Ukraine als Sieg, von Russland als Niederlage und vom Rest der Welt als Sieg der Ukraine und Niederlage Russlands wahrgenommen wird. Meinungsumfragen zufolge ist der Rest der Welt nämlich der Meinung, der Westen befinde sich in einem Krieg mit Russland, den Russland gewinnt. Unsere westliche und europäische Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel. Dies ist der nächste Schritt, der zum zweiten Jahrestag der Zeitenwende erfolgen muss.

«Homelands» beschreibt nicht nur die Stimmung und den politischen Mut europäischer Bürger*innen, sondern zeigt auch, wie politische Führungspersönlichkeiten wie Helmut Kohl, Margaret Thatcher oder Michail Gorbatschow die Geschichte geprägt haben. Wer sind diese politischen Führungspersönlichkeiten heute? Putin, Xi, Selenskyj – wird die Geschichte heute eher von Persönlichkeiten außerhalb der EU geprägt?

Geschichte ist immer eine Wechselwirkung zwischen tiefgreifenden Strukturen und Prozessen auf der einen Seite und Umständen, Glück und individueller Führung auf der anderen Seite. Damals brauchte es beides, um den Mauerfall herbeizuführen und diese neue Ära einzuleiten. Was die Gestaltung der europäischen Geschichte heute angeht, haben Sie leider recht. Die herausragenden Namen, im negativen wie im positiven Sinne, befinden sich außerhalb der EU – Wladimir Putin, Xi Jinping, Donald Trump auf der negativen oder Wolodymyr Selenskyj auf der positiven Seite. Doch wir haben durchaus einige gute Führungskräfte in Europa. Ursula von der Leyen hat bei der Reaktion der EU auf den Krieg in der Ukraine beeindruckende Führungsqualitäten bewiesen. Kaja Kallas in Estland war fantastisch. Auch Robert Habeck hat in Deutschland tolle Arbeit geleistet. Aber wenn wir diese neue Zeit gestalten wollen, müssen wir eine neue Ebene erreichen.

Was genau meinen Sie damit und wie könnten wir das schaffen?

Ein Problem ist, dass nationale Regierungschefs Spitzenpositionen in der EU nicht wirklich mit ihren besten Köpfen besetzen wollen. Diese Konkurrenz wollen sie gar nicht, denn sie wollen Dinge lieber selbst regeln. Deshalb ist es absolut entscheidend, dass wir in diesem Jahr nach der Europawahl die Spitzenpositionen in Brüssel mit den absolut besten Leuten besetzen. Wir brauchen eine neue Qualität der europäischen Führung, die uns in diese neue Ära führt.

2024 ist auch der 20. Jahrestag der größten EU-Erweiterung aller Zeiten, bei der die neuen Demokratien aus Mittel- und Osteuropa aufgenommen wurden. In den vergangenen zwanzig Jahren haben wir, wie Sie bereits erwähnten, Rückschläge in der demokratischen Entwicklung und eine Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit erlebt, insbesondere in Ungarn. Die Wahlen in Polen waren ein Lichtblick in dieser düsteren Lage, doch insgesamt sind autoritäre Tendenzen auf dem Vormarsch. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Die Wahlen in Polen waren von großer Bedeutung. Sie haben gezeigt, dass sich Wahlen immer noch gewinnen lassen, selbst mit einer nationalistischen, populistischen Partei, die die Vereinnahmung des Staates so weit vorangetrieben hatte, dass die Wahl zwar verfahrensmäßig frei, aber ganz bestimmt nicht fair war. Es geht auch darum, wie diese Wahl gewonnen wurde. Am 4. Juni 1989, als die Polen die Chance hatten, vierzig Jahre Kommunismus zu beenden, lag die Wahlbeteiligung gerade einmal bei 62 Prozent. Am 15. Oktober 2023 lag sie bei 74 Prozent. Mehr Frauen als Männer. Eine Studie zeigt, dass die Partei «Recht und Gerechtigkeit» an der Macht geblieben wäre, wenn nur Männer gewählt hätten. Auch gingen mehr Wähler*innen unter 29 Jahren zur Wahl als über 60-Jährige. Das hat es in Europa noch nie gegeben! Normalerweise sind es immer die Alten, die konsequent wählen gehen. Daraus lässt sich eine echte Lehre ziehen.

Aber woher kommen die erwähnten Rückschläge?

Dafür gibt es natürlich viele Gründe. Einer davon ist die Überheblichkeit, von der ich in meinem Buch spreche, die darin besteht, dass Liberalismus weitgehend auf Wirtschaftsliberalismus reduziert wurde. Diese finanzielle Globalisierung und diese Art von Kapitalismus haben für andere Teile unserer Gesellschaft einfach nicht funktioniert. Dann kamen die Populisten und behaupteten, auf alles eine Antwort zu haben und für das einfache Volk zu sprechen, gegen diese furchtbaren, liberalen, kosmopolitischen Großstadteliten. Das ist ein starkes, nationalistisches Narrativ, kulturell konservativ mit einer eher linken Wirtschafts- und Sozialpolitik. Der Staat ist mächtig und gibt großzügige Almosen. Das ist eine sehr wirksame Formel.

Und in Mittel- und Osteuropa stoßen diese Populisten dann auf anfällige staatliche Institutionen. Dass sie anfällig sind, liegt freilich nicht daran, dass sie osteuropäisch sind. Das ist nicht kulturell bedingt. Da es sich aber um sehr junge Demokratien handelt, sind die Institutionen natürlich anfälliger als in alten, etablierten Demokratien.

Sie kritisieren insbesondere, dass die Europäische Union diese Entwicklung nicht verhindern konnte. An einigen Stellen Ihres Buches argumentieren Sie, dass die USA stärker gegen Ungarn vorgegangen sind als die EU.

Ganz genau. Das ist eines der größten Versäumnisse der EU, und zwar schon, seitdem Orban 2010 angetreten ist. Erinnern Sie sich daran, wie lange seine Fidesz-Partei noch Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP) war? Mir wurde immer gesagt, Orbán sei doch eigentlich ganz kooperativ, er sei doch kein großes Problem, wir seien nur hysterisch. Jetzt sehen Sie ja, wo wir sind. Viktor Orbán hält nun die Zukunft Europas als Geisel. Also, ja: Ich bin sehr kritisch. Ich bin der Ansicht, dieses Problem wurde schwer unterschätzt.

Was hätte man besser machen können?

Nehmen wir das Beispiel Deutschland. Denn, um ganz ehrlich zu sein, hat Deutschland hier besonders versagt. Deutschland hat außergewöhnlichen Einfluss in Ungarn. Die ungarische Wirtschaft ist in hohem Maße von der deutschen Automobilindustrie abhängig. Aber Deutschland hat seine Macht nicht genutzt. Mein Freund Michael Ignatieff, der von Orbán geschasste ehemalige Präsident der Central European University in Budapest, hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich das erzähle. Michael sagte einmal zu mir: «Weißt du, das Einzige, was uns in Budapest hätte halten können, wäre ein Anruf von Angela Merkel bei Viktor Orbán gewesen.» Ein Telefonanruf. Aber dieser Anruf kam nie.

Welche Lehren aus der Erweiterung muss die EU ziehen und was muss sie besser machen, insbesondere für Nachbarstaaten wie die Ukraine?

Der Prozess der EU-Erweiterung ist praktisch zum Stillstand gekommen. Nur ein einziges Land – Kroatien – ist in den 15 Jahren von 2008 bis 2022 der EU beigetreten. Jetzt haben wir eine neue Dynamik mit der Ukraine, Georgien, Moldawien und den Balkanländern. Ich bin jedoch der Ansicht, dass die Erweiterung dieses Mal ganz anders vollzogen werden muss. Es kann nicht so laufen wie für Nordmazedonien, das seit 2005 Beitrittskandidat ist, das seit zwanzig Jahren im Warteraum sitzt und darauf wartet, dass alle 267 Kästchen abgehakt und erfüllt sind. So können wir nicht weitermachen. Ich glaube, wir müssen schrittweise vorgehen. Ganz besonders bei einem Land, das sich im Krieg befindet und durch einen brutalen Angriffskrieg verwüstet wird. Für die Ukraine müssen wir Verbindungen herstellen zwischen dem Wiederaufbau und den Reformen innerhalb der Ukraine und der Annäherung an die Europäische Union in verschiedenen Bereichen.

Welche Vorteile könnte dieser Ansatz haben?

Erstens schaffen wir so eine positive Rückkopplungsschleife. Man tut etwas, man bekommt etwas. Das bietet einen Anreiz für die Ukraine und andere, den nächsten Schritt zu gehen. Zweitens bedeutet dies, dass die wirklich großen, politisch schwierigen Fragen – wie die Einbeziehung der Ukraine in die Gemeinsame Agrarpolitik oder Wahlrechtsfragen – erst später im Prozess zum Tragen kommen. Das verschafft uns mehr Zeit für die nötigen tiefgreifenden Reformen der bestehenden EU und gibt zugleich den Kandidatenländern das Gefühl, dass es mit ihrem Beitrittsantrag vorangeht.

Die Hauptanliegen Ihrer Arbeit waren immer Freiheit und Europa. Beides ist bedroht, und zwar in einem völlig neuen Kontext einer aus dem Lot geratenen Welt. Was gibt Ihnen in diesen Zeiten Hoffnung und Optimismus?

Wenn Menschen Erfahrung mit Unfreiheit gemacht haben, sehnen sie sich nach Freiheit. Polen ist ein gutes Beispiel. Oder nehmen Sie die Ukraine. Es gibt da dieses wunderbare ukrainische Wort «volya». Es bedeutet sowohl Freiheit als auch den Willen, für die Freiheit zu kämpfen. Oder schauen Sie sich andere Gesellschaften an. Viele junge Menschen aus China und Russland haben ihrer Heimat den Rücken gekehrt. Oder wenn man Menschen in Südafrika oder Brasilien fragt: Wo würdet ihr gern leben? Da antwortet niemand: Russland. Fast niemand sagt China. Sie wollen in Europa oder in den Vereinigten Staaten leben. Und das liegt nicht daran, dass wir reich sind. China ist inzwischen auch ziemlich reich. Es liegt daran, dass wir frei sind. Ich habe großes Vertrauen, dass Freiheit die Köpfe und Herzen der Menschen auf eindrückliche, universale Weise anspricht.

Was müssen wir tun, um noch mehr Menschen in Europa mitzunehmen?

Wir müssen beweisen, dass freie Gesellschaften es besser machen. Denn das ist der Punkt, an dem wir versagt haben. Es ist uns nicht gelungen, Gleichstellung und Wohlstand für alle zu sichern und den Klimawandel effektiv zu bekämpfen. Es liegt an uns, diese zentrale menschliche Sehnsucht nach Freiheit durch gute Politik in wirksame Maßnahmen umzusetzen.


Timothy Garton Ash ist ein britischer Historiker, Kommentator und Autor. Er schreibt über die zeitgenössische Geschichte Europas mit besonderem Schwerpunkt auf Mittel- und Osteuropa. Er ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford.

Roderick Kefferpütz ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung Europäische Union in Brüssel. 

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