Wie die politische Krise des Militärs in Myanmar zum Putsch führte

Analyse

2021 putschte das Militär in Myanmar. Der Putsch kann als Teil einer langfristigen Strategie des Militärs gedeutet werden, das seine Macht zu erhalten versucht.

Myanmar - Menschen auf einem Platz mit Brücke an dem Plakat hängt "Free our Leader"

Am 1. Februar 2021 putschte das Militär in Myanmar. Wenn man auf die Geschichte Myanmars zurückblickt, die vor 74 Jahren mit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft im Jahr 1948 begann, stand das Land mehr als zwei Jahrzehnte unter der direkten Kontrolle des Militärs - und es werden immer mehr. Weitere 37[1] Jahre wurde Myanmar von Mischformen mit zivilen Regierungen regiert, die auf die Unterstützung des Militärs angewiesen waren. Damit verbleiben gerade einmal 17 Jahre, in denen demokratisch gewählte Regierungen das Sagen hatten. Doch jetzt sind die dunklen Zeiten wieder angebrochen.

Nach dem Staatsstreich im vergangenen Jahr erklärte Juntachef Min Aung Hlaing, das Militär werde bis August 2023 Wahlen abhalten. Die Mehrheit der Öffentlichkeit Myanmars glaubt nicht an dieses Versprechen und stellt auch den Charakter eines vom Militär konzipierten und verwalteten Wahlprozesses in Frage. Solche vom Militär gesteuerten Wahlen werden den Zeitraum, in denen Myanmar von einer vom Militär unterstützten Zivilverwaltung regiert wird, nur um weitere Jahre verlängern. Aber auch das ist nicht garantiert: Es besteht immer die Möglichkeit, dass die Militärs ihre Herrschaft fortsetzen und sich von der Idee, Wahlen abzuhalten, einfach abwenden werden. Dieser Artikel befasst sich mit den Beweggründen, aufgrund der das Militär die Verfassung für den Staatsstreich missbrauchte, und untersucht, welche Maßnahmen sie als nächstes ergreifen könnte.

Myanmar_Barrikaden

Warum hat das Militär einen Staatsstreich durchgeführt?

Vor und nach den Wahlen im November 2020 hatte das Militär die Behörden aufgefordert, angeblichen Wahlbetrug und Unregelmäßigkeiten bei den Wählerlisten zu untersuchen. Da sich die Vorwürfe nicht bestätigten, entschied sich die Regierung der National League for Democracy (NLD), das neue Parlament auch gegen den Willen des Militärs zu seiner ersten Sitzung am 1. Februar 2021 einzuberufen. An diesem Tag verhängte das Militär gemäß Kapitel (II) Abschnitt (417) der Verfassung von 2008 den Ausnahmezustand.

War der Staatsstreich im Einklang mit der Verfassung?

Die Machtübernahme durch die Junta stand nicht im Einklang mit der Verfassung - im Gegensatz zur Behauptung des Militärs. Der Bevölkerung war bewusst, dass es sich um einen haltlosen Vorwand handelte, und selbst den Militärs ist dies wahrscheinlich ebenfalls bekannt. 2021 folgten weitere Aktionen des Militärs, die nicht im Einklang mit der Verfassung  standen, z.B. die Ankündigung, dass Min Aung Hlaing im August 2021 die Präsidentschaft der geschäftsführenden Regierung[2] übernehmen werde und dass sich die Wahlen auf August 2023 verschieben. Warum also hat das Militär den Staatsstreich durchgeführt und sich dabei immer wieder auf seine Rechtmäßigkeit gemäß der Verfassung von 2008 berufen?

Die Aussichten des Militärs und die Verfassung von 2008

Die Verfassung von 2008 wurde von den Militärs selbst ausgearbeitet und so entworfen, dass sie das Land dauerhaft kontrollieren können. Laut der Verfassung kann kein ziviles Amt oder Gremium die Armee kontrollieren. Darüber hinaus gehen 25 Prozent der Sitze im Parlament an Vertreter*innen der Armee, und auch Schlüsselpositionen sind für Militärs reserviert: z.B. das Amt des Vizepräsidenten, sechs von elf Sitzen des Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitsrates und die drei Ministerposten für Inneres, Verteidigung und Grenzangelegenheiten. Die Verfassung scheint keine Schwachstellen aufzuweisen: Auch in der Justiz soll die Rechtsprechung über Verteidigungspersonal nur von einem Militärgericht ausgeübt werden können. Der Oberbefehlshaber der Verteidigungsstreitkräfte ist die einzige Person, die endgültige Revisionen vornehmen kann. Insgesamt hat das Militär eine solide Grundlage für seinen Machterhalt geschaffen, und die Verfassung von 2008 bedarf keiner großen Änderungen, um seinen Einfluss weiter zu festigen.

Gibt es in der Verfassung von 2008 Schwachstellen für das Militär?

Nach drei Wahlen (2010, 2015 und 2020) haben die Militärs erkannt, dass sie nicht gerade eine breite Unterstützung in der Bevölkerung haben. Das aktuelle Wahlsystem erlaubt es Parteien, mehr als 50 Prozent der Sitze im Parlament zu erzielen (was auch im PR-System möglich wäre): Nachdem die NLD die Wahlen 2010 boykottiert hatte, erreichte sie bei den Wahlen 2015 und 2020 eine überwältigende Mehrheit, die es ihr ermöglichte, nahezu (2015) bzw. mehr (2020) als 60 Prozent aller Sitze im Parlament zu erringen. Wenn eine Partei die Mehrheit im Parlament stellt, hat sie weitreichende gesetzgebende Kompetenzen. Die 25 Prozent der reservierten Sitze für das Militär können dann nur Gesetze verhindern, die eine Reform der Verfassung zum Ziel haben, denn für Verfassungsänderungen ist eine mindestens 75-prozentige parlamentarische Mehrheit notwendig. Das Gewicht des Militärs im Parlament hat dann keinen Einfluss mehr auf andere Gesetze, Gesetzesänderungen und -aufhebungen. So war das Militär beispielsweise nicht in der Lage, die Schaffung des Postens eines Staatsrats zu verhindern, der es Aung San Suu Kyi ermöglichte, im Jahr 2015 de facto Regierungschefin zu werden. Darüber hinaus hat die gewählte Regierung auch einen starken Einfluss auf die Ernennung und Bildung der Wahlkommission.

Myanmar_Plakate an Wand

Nach der Wahlniederlage von 2020 muss das Militär erkannt haben, dass eine antimilitärische Partei wie die NLD, die solche überwältigende Wahlsiege verzeichnet, im Rahmen des Systems den unvermeidlichen langsamen, aber stetigen Niedergang des Militärs in der Politik vorantreiben würde. Ein weiterer Punkt, der das Militär wahrscheinlich zu dem Staatsstreich veranlasst hat, war die mangelnde Bereitschaft der NLD und der Wahlkommission, den zuvor erwähnten haltlosen Vorwürfen über Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen nachzugehen. Dementsprechend bestand eine der Maßnahmen der Militärjunta seit dem Putsch darin, eine neue Wahlkommission zu ernennen.

Änderungen am Wahlsystem wahrscheinlich

Diese neue Wahlkommission hat bereits mögliche Änderungen im Wahlsystem angekündigt, was auch von der Junta im Januar 2022 bestätigt wurde. Anstelle des derzeitigen Mehrheitswahlrechts ("first-past-the-post"), bei dem der Kandidat mit den meisten Stimmen einen Sitz erhält, könnte ein Verhältniswahlsystem eingeführt werden, das es einer Partei erschweren würde, alleine mehr als 50 Prozent der Parlamentssitze zu stellen. In einem solchen System stellten die 25 Prozent militärischen Parlamentarier einen Block dar, den die Gewinnerpartei bei der Bildung einer neuen Koalitionsregierung wahrscheinlich einbeziehen müsste, um eine Mehrheit zu erzielen.

Wird das Wahlsystem nach diesen Vorschlägen geändert, erreicht das Militär eine Position, in der es automatisch die Staatsgewalt im Rahmen der Verfassung von 2008 kontrolliert. Dies deutet darauf hin, dass der Putschversuch im vergangenen Jahr nicht die Tat eines verrückten Militärführers war, der seine persönliche Macht behalten will. Vielmehr handelt es sich um einen langfristigen Plan, die politische Beteiligung des Militärs an gewählten Regierungen im Einklang mit der Verfassung zu sichern, ohne dass es in Zukunft zu weiteren Putschen kommen muss. Dieses langfristige Ziel ist auch der Grund, dass die Militärs des zweiten Rangs die Entscheidung akzeptierten und Min Aung Hlaing bei der Inszenierung des Staatsstreichs unterstützen.

Wie das Militär versucht, ethnische Gruppen und Parteien zu beeinflussen

Abschnitt 261 der Verfassung von 2008 regelt die Ernennung der Ministerialposten in den Regionen und Staaten. Um sich die Unterstützung von ethnischen Gruppen zu sichern, hat das Militär angedeutet, dass sie diesen Abschnitt ändern wolle. Bisher hat der Präsident das Recht zur Ernennung der Minister*innen - unter der NLD-Regierung konnte das Militär daher keinen Einfluss darauf nehmen. Die Militärs wollen nun die Verantwortung für die Ernennung an die Kommunalparlamente übertragen, in denen sie auch 25 Prozent der reservierten Sitze innehaben. Gleichzeitig versucht die Militärjunta, ihre eigene Stellvertreterpartei USDP (Union Solidarity and Development Party) und andere demokratische Parteien, die bei den Wahlen schwere Verluste erlitten haben, mit der vorgeschlagenen Einführung eines Verhältniswahlsystems zu umwerben. Sollte sie damit Erfolg haben, hätte das Militär nur noch Aung San Suu Kyi und die NLD als Gegner übrig.

Obwohl die meisten politischen Parteien in Myanmar den Militärputsch nicht unterstützten oder mit der Junta kollaboriert haben, gibt es immer noch einige Parteien, die den Militärputsch für richtig halten oder mit der Junta verhandeln wollen. Daher lässt es sich auf lange Sicht nicht ausschließen, dass die Junta mehr Parteien dazu bewegen kann, einem geänderten System zuzustimmen.

Eine Zukunft ist nur möglich, wenn sich alle Parteien zusammenschließen

Eins ist klar: Das Militär hat den Putschversuch nicht nur unternommen, weil Aung San Suu Kyi und die NLD einen erdrutschartigen Sieg bei den Wahlen errungen haben, sondern weil seine demokratische Partei USDP noch schlechter abschnitt als bei den Wahlen 2015. Die Militärs sahen ihre politische Macht schwinden, da die USDP im Rahmen der Verfassung von 2008 und des aktuellen Wahlsystems keinen Einfluss auf die Politik ausbauen konnte. Dennoch wollte das Militär seine Macht im Rahmen der Verfassung von 2008 ausweiten, musste dafür aber seine eigenen Gesetze umgehen, indem es den Putsch inszenierte. Myanmar wird nur dann in der Lage sein, solche Verfassungsmängel zu überwinden und eine Machtübernahme durch das Militär wie im Jahr 2021 zu verhindern, wenn sich alle politischen Parteien und die ethnischen Institutionen unter einem föderalen System zusammenschließen, wie es vom National Union Government (NUG) Myanmars vorgeschlagen wird, die kurz nach der militärischen Machtübernahme gebildet wurde.


Aus dem Englischen übersetzt von Caroline Bertram.

Der Artikel wurde zuerst in burmesischer Sprache veröffentlicht.


[1] 1958 - 1960 Übergangsregierung unter der Führung von General Nay Win (2 Jahre), 1962 - 1974 Revolutionsrat unter der Führung von General Nay Win (12 Jahre), 1988 - 1997 Staatsrat zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung unter der Führung von General Saw Maung, der sich später selbst zum Senior General Saw Maung befördert hat (9 Jahre), 1997 - 2010 Staatsrat für Frieden und Entwicklung unter der Führung von Senior General Than Shwe (13 Jahre).

[2] In der burmesischen Sprache hat diese sogenannte " Housesitting-Regierung" einen ähnlichen Wortlaut wie die Übergangsregierung von General Ne Win aus dem Jahr 1962. Da sogar die Namen dieser vom Militär geführten Übergangsregierungen ähnlich sind, werden die Menschen an traumatische Erfahrungen im Zusammenhang mit der grausamen Geschichte Myanmars erinnert. Das erklärt, warum die Öffentlichkeit so besorgt über die langfristige Perspektive der Ambitionen des Militärs ist.