Aserbaidschaner*innen in Deutschland - Ein belletristisches Porträt

Hintergrund

Deutschland ist europäischer Spitzenreiter in der Beliebtheit bei Migrant*innen aus Aserbaidschan. Es ist schwer, exakt zu berechnen, wie viele Aserbaidschaner*innen derzeit in Deutschland leben; nach verschiedenen Schätzungen sind es circa zwanzig- bis dreißigtausend. Sie als „Auswanderercommunity“ zu bezeichnen, geht eigentlich gar nicht, dazu ist ihre Heterogenität zu groß. Aber wir können versuchen, in einer eher belletristischen Form Porträts der aserbaidschanischen Emigrant*innen von heute in Deutschland zu skizzieren.

Der Beitrag ist auch auf English, Russisch und Aserbaidschanisch erschienen.

Laut einem Bericht des International Centre for Migration Policy Development haben von 1990 bis 2016 über elftausend aserbaidschanische Staatsangehörige eine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland erhalten (zum Vergleich: Platz zwei belegt Frankreich, das über dreitausend Personen „unter seine Fittiche genommen hat“).

Bei jeder Massenemigration aus Aserbaidschan stellt sich als erstes die Frage nach dem „Warum“. Die aktuelle Migrationswelle aus allen postsowjetischen Ländern begann in den frühen 1990er Jahren. Damals verließen jedoch vor allem Angehörige nationaler Minderheiten und Familien mit gemischter ethnischer Zugehörigkeit Aserbaidschan, um Krieg und Zerstörung zu entgehen. Nachdem sich die politische und wirtschaftliche Lage in Aserbaidschan stabilisiert hatte, ging die Migration zurück. Zu Beginn der 2010er Jahre stieg sie wieder dramatisch an, nunmehr allerdings aus anderen Gründen.

In den letzten Jahren nahm Aserbaidschan in von internationalen zivilgesellschaftlichen Organisationen geführten „Hitlisten“ stets einen der hinteren Plätze ein. Für 2020 – 2021 belegt das Land im Pressefreiheitsindex von Reporter ohne Grenzen den 167. von 180 Plätzen, in der Rangliste der bürgerlichen Freiheiten von Freedom House ist es Platz 193 von 209, 129 von 179 in der Wahrnehmung von Korruption laut Transparency International. Amnesty International wiederum thematisiert Jahr für Jahr Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung und Ähnliches.

Fügen wir dem noch eine schwach entwickelte Wirtschaft, die fast ausschließlich vom Erdölsektor abhängt, eine Vielzahl von Problemen im Bereich der Infrastruktur, des Bildungs- und des Gesundheitswesens sowie den ständigen Anstieg der Preise überhaupt für alles, von Tabak über Alkohol bis hin zu Strom, hinzu.

Kurzum, wenn es um einen Grund geht, aus dem man das Land verlassen sollte, so hat man die Qual der Wahl.

Sofern wir aber über die wirtschaftlichen Voraussetzungen sprechen, ist es wichtig, eine Sache klarzustellen: Wenn es nur um das Geldverdienen geht, so machen sich die Aserbaidschaner*innen in der Regel nach Russland, in die Ukraine oder in die Türkei auf den Weg. Offiziell gibt es allein in Russland etwa 600.000 Arbeitsmigrant*innen aus Aserbaidschan. Nach Europa hingegen gehen Menschen mit Hochschulabschluss und hinreichend hoher Qualifikation, deren Ziel nicht nur in einem normalen Auskommen, sondern auch in Selbstverwirklichung besteht oder diejenigen, die sich erhoffen, von Sozialhilfe leben zu können.

Mutmaßliche, tatsächliche und versteckte politische Emigrant*innen

In den ersten acht Monaten von 2021 haben 636 aserbaidschanische Staatsangehörige in Deutschland politisches Asyl beantragt. Vor der Pandemie war diese Zahl um ein Vielfaches höher. In jedem Fall geben Zahlen an und für sich keinen Aufschluss über den tatsächlichen Umfang der politischen Migration aus Aserbaidschan. Ein nicht gerade geringer Teil derjenigen, die in Deutschland oder anderen europäischen Ländern politisches Asyl beantragen, hat mit Politik nichts zu tun und wird auch nicht verfolgt. Laut Sergej Rumjanzew vom CISR Berlin (Center for Independent Social Research) können diese Menschen wirtschaftliche Gründe für ihre Auswanderung haben oder sogar, selbst wenn sie durchaus wohlhabend sind, für sich oder ihre Kinder einfach keine Zukunft in Aserbaidschan sehen.

„Das betrifft nicht nur Migrant*innen aus Aserbaidschan. Da Deutschland in erster Linie politische Flüchtlinge aufnimmt, geben auch diejenigen, die aus ganz anderen Gründen auswandern, vor, politische Flüchtlinge zu sein. Es gibt informelle Netzwerke, die gegen einen bestimmten Betrag Menschen auf eine mehr oder weniger bewährte Route schicken und sie vorher instruieren, wie sie sich verhalten sollen. Und, sofern man mit den Spielregeln klarkommt, kann man sich jahrelang in dem einen oder anderen EU-Land aufhalten, ohne irgendwelche Ansprüche auf die Erteilung eines entsprechenden Status zu besitzen“, erklärt Rumjanzew.

Aber natürlich gibt es auch richtige politische Emigrant*innen. Es handelt sich dabei größtenteils um Journalist*innen, politische Aktivist*innen und Mitglieder von Oppositionsparteien, die bereits unangenehme Erfahrungen mit dem aserbaidschanischen Sicherheitsdienst gemacht oder sogar ein paar Jahre abgesessen haben. Nebenbei gesagt, im Sommer 2021 wurden zwei solche Oppositionelle aus Deutschland abgeschoben und im Oktober, als sie wieder in Aserbaidschan waren, wegen angeblichen Drogenhandels verhaftet. Nichtsdestoweniger sind viele von denen, die formal keine politischen Emigrant*innen darstellen, kein Asyl beantragt haben und auf anderem Wege nach Deutschland gelangt sind, rein aufgrund ihres politischen Dissenses oder einfach auf der Suche nach Freiheit ausgewandert (so abstrakt das auch klingen mag).

Hierbei sei jedoch darauf hingewiesen, dass die aserbaidschanische Regierung, die alle gegen sie gerichteten Vorwürfe kategorisch zurückweist, auch versucht, Deutschland auf ihre Seite zu ziehen. Im Frühjahr 2020 kam es in hierzulande zu einem Skandal im Zusammenhang mit der Bestechung einiger Bundestagsabgeordneter. Es stellte sich heraus, dass mindestens zwei Mitglieder der in diesem Zeitpunkt regierenden Christlich-Demokratischen Union von der aserbaidschanischen Regierung Schmiergelder zu dem Zweck erhalten hatten, deren Interessen zu lobbyieren und ein positives Bild auf der Ebene der Parlamentarischen Versammlung des Europarats aufzubauen. Diese bestochenen Abgeordneten haben auch maßgeblich dazu beigetragen, dass im Bundestag ganze „Heerscharen“ von regimetreuen aserbaidschanischen Praktikant*innen auftauchten.

Hinsichtlich der politischen Emigration aus Aserbaidschan können die Jahre 2013 und 2014 als Wendepunkt bezeichnet werden, als die Behörden nach mehreren Protestaktionen im Zusammenhang mit dem Tod von einfachen Soldaten in der Armee richtig „die Schrauben anzogen“: Die Repressionen wurden verschärft, viele prominente Oppositionelle und Journalisten verschwanden einer nach dem anderen hinter Gittern, und es wurden Gesetze verabschiedet, die unabhängigen Medien und aus dem Ausland finanzierten Nichtregierungsorganisationen praktisch „den Sauerstoff abdrehten“.

Die beiden Währungseinbrüche von 2015 stellten dann die letzten Tropfen dar, die das Fass auch bei denen überlaufen ließen, die mit liberté, égalité und fraternité im Grunde nichts am Hut hatten.

In Deutschland sind die aserbaidschanischen Emigrant*innen über das ganze Land verstreut, wobei sie natürlich eher in Großstädten wie Berlin oder Köln zu finden sind.

Aber einige leben auch an Orten, deren Existenz sie früher nicht einmal geahnt hätten.

Gut, dann machen wir uns mal auf den Weg.

Leipzig

Im Oktober wird es erst spät hell, und kurz vor der Morgendämmerung wirkt Leipzig nicht besonders freundlich. Die Stadt ist kalt, verschlossen und bei deinem Anblick keineswegs erfreut. Aber in dem Maße, wie der Tag anbricht und der Sonnenstrahl wie ein Minutenzeiger über das Ziffernblatt der Uhr an der alten Kirche gleitet, erscheint auf dem Antlitz der Stadt etwas, das fast wie ein Lächeln aussieht.


– Netter Blick, den Sie da aus dem Fenster haben.
– Nett, aber ziemlich laut. Diese Kirche läutet jede Viertelstunde.

Zur Bestätigung dieser Worte wird die Küche bald darauf von schwerem Glockengeläut erfüllt. Der Journalist und ehemalige politische Gefangene Afgan Muchtarli lebt seit Frühjahr 2020 in Leipzig. Inzwischen hat er gelernt, selbstgedrehte Zigaretten zu rauchen und ist zum ersten Mal seit seiner Jugend wieder auf ein Fahrrad gestiegen, auch kann er sich inzwischen, wenn er einkauft, mehr oder weniger halbwegs auf Deutsch verständigen. Aber er sagt auch, dass er sich noch immer nicht angepasst hat und sich eher wie in der Verbannung als im Exil fühlt. Zum Teil stimmt das auch: Nicht er ist nach Deutschland umgezogen, man hat ihn nach Deutschland gebracht.

In 2014 ging Afgan Muchtarli, der für seine Enthüllungen über Korruption in den höchsten Regierungskreisen bekannt ist, aus Angst um seine Sicherheit mitsamt seiner Familie nach Tiflis. In Tiflis wurde er 2017 entführt, nach Baku gebracht, wegen illegalen Grenzübertritts und Schmuggels angeklagt und zu sechs Jahren Haft verurteilt. Internationale Menschenrechtsorganisationen versuchten mehrere Jahre lang, seine Freilassung zu erwirken, was ihnen aber erst im März 2020 gelang. Afgan Muchtarli wurde direkt vom Gefängnis zum Flughafen gebracht und nach Deutschland verfrachtet, wo seine Familie – Frau und Tochter – bereits auf ihn wartete. Offiziell handelte es sich um eine Familienzusammenführung. Der Journalist selbst glaubt, dass die aserbaidschanischen Behörden ihn einfach nie mehr zu Gesicht bekommen wollen und nur unter dieser Bedingung bereit waren, ihn gehen zu lassen.

„Aber ich werde zurückgehen. Letztendlich bin ich aserbaidschanischer Staatsbürger, ich habe nicht einmal den Status eines politischen Emigranten. Mit welcher Begründung kann man mir die Einreise verweigern?“

Afghans Frau Leyla Mustafayeva, die ebenfalls Journalistin ist, hofft hingegen, dass dieser Umzug der letzte war.

„Ich habe es satt, wenn ich ehrlich bin. Zuerst sind wir nach Georgien gegangen, und dann, nachdem Afgan eingesperrt wurde, musste ich mit meinem kleinen Kind nach Deutschland gehen, Asyl beantragen, in provisorischen Unterkünften hausen... Für unsere Tochter war das alles richtig stressig, und wir müssen uns auch um ihr Wohl Gedanken machen. Ich fühle mich hier okay, ich habe die Sprache gelernt und Freunde gefunden. Ich hätte nichts dagegen, hier Wurzeln zu schlagen.“

Mukhtarli selbst hingegen leidet unter einem Mangel an Kommunikation. In Tiflis gab es viele aserbaidschanische „Dissidenten“, mit denen sie eine Art Zirkel gebildet hatten, und es gab ständig Besucher*innen aus Baku. In Leipzig war er allein. Nichtsdestoweniger hat er sich mit politischen Emigrant*innen aus anderen Städten zusammengetan, und in den vergangenen anderthalb Jahren haben sie es gemeinsam irgendwie geschafft, zwei Dutzend Aktionen auf die Beine zu stellen, und aktuell arbeiten sie an einem eigenen Medienprojekt.

„Mir gefällt die Natur hier. Mir gefällt, dass in Leipzig Kultur und Demokratie großgeschrieben werden. Und insgesamt ist es hier natürlich sehr komfortabel. Wobei das einem mitunter auch zu viel werden kann. Außerdem ist es doch nicht richtig, sich ins gemachte Nest zu setzen und unter komfortablen Bedingungen zu leben, die andere geschaffen haben. Wir sind doch in der Lage, solche Bedingungen auch im Kaukasus aufzubauen.“

Berlin (Friedrichshain)

Logman wohnt an der Kreuzung Karl-Marx-Allee/Straße der Pariser Kommune. Ja, gut, nicht ganz direkt an der Kreuzung, aber nicht weit davon. Und das ist durchaus symbolisch

– Das ist ein glücklicher Zufall.
– Wo sonst in Berlin könnte ein waschechter Linker leben...

In Aserbaidschan war Logman Mitglied einer marxistischen Organisation und linker Aktivist. Doch nach dem bereits erwähnten Jahr 2014 wurde es eng und enger für den Aktivismus. Gefahr lag in der Luft, und obwohl den Linken noch nichts drohte (weil sie keiner für voll genommen hat), ließ die Begeisterung allmählich nach. Logman hatte inzwischen eine medizinische Fachschule absolviert, seinen Wehrdienst hinter sich gebracht, ein paar Jahre erfolglos nach Arbeit gesucht und begriffen, dass es Zeit war, sich vom Acker zu machen.

„Ich habe mich nie mit dem Gedanken ans Auswandern getragen. Aber die politische Lage in Aserbaidschan wurde zu bedrückend. Ich hatte keinen Job. Damals haben sich viele meiner Kommiliton*innen auf den Weg nach Deutschland gemacht, um dort zu arbeiten. Also habe ich 2015 angefangen, Deutsch zu lernen, und 2016 war ich dann plötzlich in Ansbach in Bayern.“

Im Januar 2021, nach einer existenziell-emigrantischen Krise im Zusammenhang mit Pandemie und Lockdown, in der sie mitunter gar eine Rückkehr nach Aserbaidschan in Erwägung zogen, gingen Logman und seine Freundin Masuma nach Berlin. Jetzt arbeitet Logman in einer Klinik in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie und bildet sich gleichzeitig an der Humboldt-Uni weiter, während die Pianistin Masuma sich auf die Arbeitssuche vorbereitet.

„In Baku habe ich an der Musikakademie gearbeitet. Ich habe so gut wie nichts verdient, aber ich hatte nicht vor, etwas anderes zu machen. Ich bin nur wegen Logman hier. Ich bin 2018 zu ihm gezogen. Dann habe ich mich für einen Intensivkurs Deutsch angemeldet, um einen offiziellen Grund für meinen Aufenthalt hier zu haben. Jetzt hoffe ich, dass ich eine Stelle, zum Beispiel an einer Musikschule, bekomme, aber diese Branche ist nach dem Lockdown immer noch nicht wieder richtig auf die Beine gekommen.“

Einmal im Jahr fahren sie für ein oder zwei Wochen nach Baku. Sie vermissen es nicht. Oder sie vermissen es trotzdem. Sie haben dort noch Freund*innen. Oder auch nicht. Die Genossen von Logman haben sich, so wie er, in der Welt zerstreut, Masumas Freundinnen haben inzwischen Familien und Kinder. So warten in Baku eigentlich nur noch ihre Eltern und Erinnerungen auf sie.

„Das Einzige, was ich vermisse, sind meine Freunde, mit denen mich politische Ansichten und gemeinsame Ziele verbunden hatten. Ich habe Sehnsucht nach dieser Atmosphäre, nach unserem Kreis. Das vermisse ich sehr. Solche ‚Brüder im Geiste‘ habe ich in Deutschland noch nicht finden können. Na ja, vielleicht klappt es ja in Berlin. Hier ist ja jeder Zweite grün und jeder Dritte links.“

Um diese Nostalgie zu bekämpfen, beschloss Logman irgendwann, sich aus dem aserbaidschanischen Informationsorbit zurückzuziehen, keine Nachrichten aus Aserbaidschan mehr zu verfolgen und sich auf Deutschland zu konzentrieren.

„Aber das hatte ich schnell satt. Mir wurde klar, dass ein Teil meiner Interessen und Bestrebungen immer mit Aserbaidschan verbunden sein wird, und ich habe mich damit abgefunden. Ich schätze, das ist der ‚Fluch‘ aller Emigranten – man sitzt für immer irgendwo zwischen zwei Ländern, zwischen zwei Realitäten fest.“

Berlin-Mitte

Die schwarze Myra betrachtet alles um sich herum mit einem derartigen Gefühl der persönlichen Überlegenheit, dass man sich davon fast eine Scheibe abschneiden möchte. Die größte Gunst, die ein Gast von ihr erhalten kann, besteht in der Erlaubnis, sie – eine Britisch Kurzhaar – zu streicheln.


– Ich glaube, wir fingen an, uns hier heimisch zu fühlen, als wir uns Myra angeschafft haben. Das heißt, als wir es uns leisten konnten, eine Katze zu haben, ohne zu befürchten, dass wir eines Tages wegmüssen und nicht wissen, wohin mit dem Tier.

Das war erst in ihrem sechsten Jahr in Deutschland der Fall. Inzwischen leben Sevil und Sergej und ihre beiden Töchter seit elf Jahren hier. Damals, 2010, gingen sie nicht nach „Wohin“, sondern von „Woher“, und es war nicht ihre Absicht, sondern der Zufall, der sie nach Deutschland geführt hat.

„Bis 2010 hatten wir Erfahrungen gesammelt, wie man mit diversen Stipendien im Ausland leben kann, und wir wollten weg aus Baku und unsere Kinder in einem anderen Land leben und eine Fremdsprache erlernen lassen. Auch viele Verwandte und Freunde hatten zu diesem Zeitpunkt das Land bereits verlassen. Um uns herum entstand allmählich ein Vakuum, weil wir keine seelenverwandten Menschen mehr hatten.“

Sie hatten Glück: Beide erhielten gleichzeitig Studien- und Forschungsstipendien für Deutschland. Damals sah es danach aus, dass das nur auf Zeit ist und sie in ein paar Jahren nach Baku zurückkehren werden. Aber der „deutsche Zwischenstopp“ zog sich hin, und nun ist Sevil schon bereit zu glauben, dass das die Endstation ihrer Emigrant*innenroute ist, obwohl sie noch immer keine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung hat.

„In den letzten Jahren ist es sehr schwierig geworden, eine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland zu erhalten. Und obwohl ich einen deutschen Doktortitel habe und in meinem Fachgebiet arbeite, hat es mit der unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung immer noch nicht geklappt. Sergej arbeitet auch im Bereich der Sozialwissenschaften, und die sind ein kompliziertes und volatiles Gebiet. Uns helfen unsere Erfahrungen und der Umstand, dass wir uns auf die postsowjetischen Länder spezialisiert haben, die wir gut kennen und verstehen“.

Sie wohnen in Berlin-Mitte, einem angesagten zentralen Bezirk. Berlin genießt die letzten klaren und fast warmen Tage, bevor es in die kalte Novembertrübe abtaucht. In der Küche duftet es herbstlich nach gebackenem Kürbis. Von ihren häufigen Dienstreisen nach Russland bringen sie Bücher in russischer Sprache mit. Reisen nach Baku werden seltener unternommen, und wenn ja, dann dazu, um ihre Verwandten und die wenigen Freund*innen zu besuchen, die noch dort leben. Obwohl sie mit jedem Jahr stärker spüren, dass auch bei ihnen die Wege immer weiter auseinandergehen, dass sie zu vielen Dingen zu unterschiedliche Ansichten haben.

„Wir brauchten eine Menge Zeit, um uns an die hiesige Bürokratie und viele der Alltagsregeln zu gewöhnen. Aber schließlich haben wir uns an alles gewöhnt. Außer vielleicht daran, dass die Schulbildung hier nicht darauf ausgerichtet ist, Kinder für das Studium an der Universität vorzubereiten. Für uns als Eltern erscheint das seltsam. Aber vielleicht liegt es an uns und unseren Erwartungen und nicht an der ‚Unvollkommenheit‘ des deutschen Bildungssystems.“

Die größere Tochter versucht, sich in der Kunst zu finden. Die kleinere geht aufs Gymnasium und bringt ihrer ägyptischen Freundin Russisch bei. Und Sevil denkt darüber nach, Jiddisch zu lernen: Keinerlei praktische Vorteile, aber warum sollte man es nicht versuchen, wenn’s doch mit Deutsch als Grundlage nicht so schwierig sein dürfte?

„Mir gefällt an Berlin seine Vielfalt und das Fehlen einer dominanten Kultur. Jeder, auch ein*e Emigrant*in, kann hier ein soziales Umfeld, eine Beschäftigung und eine Atmosphäre finden, die ihm liegt. Außerdem befreit man sich hier von dem Rahmen, den das Alter vorgibt. Dein Alter schreibt dir nicht mehr vor, wie du dein Leben zu leben hast.“

Biberach

Ein flüssiger, weißlicher Nebel, der von den Hügeln herabwabert, überflutet die Straßen einer kleinen Stadt, die auf den ersten Blick wie ein trostloses Provinznest wirkt. Auch ein zweiter oder dritter Blick ändern an diesem Eindruck nichts. Sogar das mobile Internet funktioniert hier mehr schlecht als recht.

– Jetzt mal Hand aufs Herz, ist das hier nicht ein bisschen öde?
– Nein. Ich komme selbst aus einem kleinen Dorf, und es sind die Großstädte, die mich fertigmachen.

Seit vier Jahren lebt Gaïb mit seiner Familie in Biberach in Süddeutschland und arbeitet in der örtlichen psychiatrischen Klinik (man kann durch diesen Artikel den Eindruck bekommen, dass es in Aserbaidschan überhaupt keine Psychiater mehr gibt, weil sie alle nach Deutschland gegangen sind, aber das ist einfach nur ein Zufall). Im Gegensatz zu Logman war dieser Arzt jedoch in seinem Heimatland beruflich gut etabliert.

„Sowohl meine Frau als auch ich hatten gute Jobs. Aber die Zukunft sah nicht gut aus. Vor allem, was die Ausbildung der Kinder und die zukünftige Rente für mich und meine Frau betroffen hat. In dieser Hinsicht gab es keine Garantien und keine Gewissheit für den nächsten Tag. Also beschlossen wir, dorthin zu gehen, wo es diese Garantien gibt.“

Da Gaïb und seine Frau praktisch veranlagt sind und Risiken eher aus dem Weg gehen, haben sie die entsprechenden Optionen sorgfältig geprüft, zwischen Kanada und Deutschland abgewogen und sich letztendlich für Deutschland entschieden. Den Ausschlag gaben der Bedarf an Ärzten hierzulande und die Rückmeldungen von Bekannten, die bereits emigriert waren.

„Ich bin zufrieden damit, wie die Dinge gelaufen sind. Es ist alles okay, es gibt keinen Stress, ich fühle mich nicht als Fremder. Dieses Jahr war ich zum ersten Mal wieder in Baku. Es war sehr schön, Freunde aus Studienzeiten zu treffen, aber mir wurde klar, dass ich nichts und niemanden vermisse, von ein paar Leuten mal abgesehen.“

Neue Freunde haben sie bislang nicht gefunden. Genauer gesagt, die Kinder haben Freunde gefunden, während der Kommunikationskreis der Eltern sich auf Kolleg*innen und ein paar russischsprachige Einwandererfamilien beschränkt. Wenn sie etwas erleben wollen, fahren sie nach Stuttgart und München, und im Urlaub reisen sie mit dem Auto nach Italien oder in die Schweiz. Generell ist die Möglichkeit, innerhalb der EU zu reisen, einer der „Boni“, der für die aserbaidschanischen Auswander*innen immer wieder ein Grund zur Freude ist.

„Ich finde es gut, dass hier, wenn es irgendwelche Probleme gibt, Covid beispielsweise, die Belastung gleichermaßen auf die ganze Gesellschaft und die Regierung verteilt wird. Mir gefällt auch, dass überall eine ordentliche Infrastruktur vorhanden ist, selbst in der kleinsten Ortschaft.“

Was Gaïb weniger gefällt, ist die Tatsache, dass Deutschland ein religiöseres Land ist als das formell muslimische, in Wirklichkeit aber säkulare Aserbaidschan. Das war eine unangenehme Entdeckung, obwohl es sich mit der Zeit herausstellte, dass man auch damit leben kann, solange niemand versucht, dich selbst in eine Religion hineinzuziehen.

Gaïb, der die letzten politischen Ereignisse in Aserbaidschan und Deutschland „mit einem Auge“ verfolgt hat, interessiert sich sonderlich weder für die einen noch für die anderen und sagt, er habe nie eine klare zivilgesellschaftliche Position bezogen. In Baku schrieb er satirische Gedichte, auch zu gesellschaftspolitischen Themen, und trat sogar mit Lesungen auf. Im ersten Jahr nach seiner Übersiedlung nach Deutschland erklangen in seinen Gedichten fast lyrische emigrantische Töne, die dann später aber wieder verschwunden sind.

„Wir verlieren einander in Hauptstädten, beim Bier und bei Smoothies,
in Teambuildings, Trainings, Meetings, in Träumen.
Wir finden einander in Hotels (breakfast inclusive),
in Wohnungen und Hostels, in kleinen Städten.“

München. Ein Nachwort

Der feuchte Samstagmorgen ist wie ein Flickenteppich aus Klängen gewoben. Das Klopfen von Regentropfen auf dem Vordach eines Straßencafés, die Geräusche einer Menschenmenge, die ihren Vergnügungen nachgeht, das Klirren von Biergläsern, die wehmütige und eher unpassende Titelmelodie aus dem „Paten“, gespielt von einem Straßenmusiker, das leise Knallen eines Champagnerkorkens am Nachbartisch (man lässt es sich gut gehen und schlürft schon in der Herrgottsfrühe Schampus).

– Keine Namen. Außerdem bin ich nicht repräsentativ.
– Das ist meine Story, und ich weiß am besten, wer repräsentativ ist und wer nicht.
– Ich komme zwar aus Aserbaidschan, aber ich bin in einem anderen Land aufgewachsen und habe nur fünf Jahre in Baku gelebt.
– Und hier...
–...fast elf. Im ersten Jahr vermisst man Baku. Im zweiten Jahr nicht mehr. Im dritten Jahr fährt man wieder hin und kriegt einen Kulturschock.

Sofern man will, kann man problemlos in Erfahrung bringen, wie viele junge (und auch nicht mehr ganz so junge) Menschen aus Aserbaidschan sich jedes Jahr an deutschen Universitäten einschreiben. Es sind viele. Die Ausbildung hierzulande ist hochwertig und nicht teuer oder sogar kostenlos. Schwieriger ist es, herauszufinden, wie viele von ihnen als Bachelor, Master oder Doktor nach Aserbaidschan zurückkehren. Ins Ausland zu gehen, ein Studium zu machen, und zwar in der Hoffnung, später dort „Wurzeln zu schlagen“, einen Job zu finden und zu bleiben – das ist der beste Weg für junge Menschen, die zumindest ein bisschen Ehrgeiz und Hirn im Kopf haben. Ärzt*innen und Programmierer*innen haben es dabei leicht. Für Humanwissenschaftler*innen sieht es etwas anders aus. Aber der Wunsch ist stärker als das Risiko.

– Ich hatte nicht vor, für immer zu gehen. Ich dachte, ich würde studieren und zurückkommen. Und für eine bessere Zukunft kämpfen...
– Und was ist dann passiert?
– Dann hat es mir hier gefallen.

Die Tatsache, dass Fachleute aus vielen wichtigen Branchen Aserbaidschan verlassen, kann man nur als „brain drain“ bezeichnen. Wobei dieser Begriff schon lange nicht mehr verwendet wird, weil er offenbar aus der Mode gekommen ist.

– Die permanente Abwanderung von mehr oder weniger fähigen und vielversprechenden jungen Menschen kann für die aserbaidschanische Gesellschaft nur negative Folgen haben. Aber was sollen diese Menschen mit ihren europäischen Abschlüssen, Titeln und den entsprechenden Vorstellungen darüber, wie wirklich gearbeitet werden muss, in Aserbaidschan machen? In Aserbaidschan braucht das keiner. Und es scheint mir, dass die aserbaidschanische Regierung nur davon profitiert, dass sie nicht zurückkommen. Die Regierung ist nicht an den grundlegenden Veränderungen interessiert, die diese Menschen anstoßen könnten.

„Diese Menschen“ – das sind
Ärzt*innen, die „medizinisches Deutsch“ büffeln, damit sie genau solchen Emigrant*innen Vitamin D gegen „Sonnenmangel“ verschreiben können;
Betriebswirt*innen aus einem Land mit einer Wirtschaft, die so wackelig ist wie ein Milchzahn;
Jurist*innn, die gelernt haben, sich in den Labyrinthen fremder Gesetzgebungen zurechtzufinden, aber immer noch wissen, dass es sich bei „Widerstand gegen Vertreter der Staatsgewalt“ um den Artikel 221.2.2 des Strafgesetzbuchs von Aserbaidschan handelt, der am häufigsten im Zusammenhang mit der Teilnahme an nicht genehmigten Kundgebungen angewendet wird;
Philolog*innen, deren Kenntnisse des Schaffens von Leo Tolstoi und Thomas Mann nicht unbedingt „in der Wirtschaft“ nützlich sind;
IT-Fachleute, die selbst noch in der Hölle einen Job finden würden;
– all „diese Menschen“ bauen sich ein neues Leben an einem neuen Ort auf, leiden nicht allzu sehr unter Nostalgie, aber, wenn sie miteinander reden, dann reden sie auch immer über das, was in einem Land und in einer Region passiert, die nicht mehr ihre Heimat, aber auch keine Fremde für sie ist.

Diejenigen von ihnen, die in ihrem Heimatland an verschiedenen gesellschaftspolitischen Aktivitäten beteiligt waren, tun dies auch weiterhin aus der Ferne. Oder sie versuchen es zumindest, und sei es in der Form von Kommentaren, Kritik an und Analyse der aktuellen Situation und Ereignisse. In Anbetracht der Tatsache, dass es in Aserbaidschan seit langem keine echte politische Aktivität mehr gibt und in absehbarer Zukunft auch nicht zu erwarten ist, während sich die Aktivitäten der traditionellen Opposition im Großen und Ganzen auf Posts in sozialen Netzwerken beschränken, kann dieses von den Emigranten betriebene „home officing“ im Grunde sogar als effektiv bezeichnet werden. Allein schon deshalb, weil objektive und kompetente Posts oder Artikel, die auf Englisch oder Russisch verfasst sind, ein viel größeres Publikum erreichen. Wie dem auch sei, das Bedürfnis, irgendwie am Leben des Landes teilzunehmen, über das Land zu sprechen, verschwindet meistens nicht, im Gegenteil, manchmal wird es sogar noch stärker, wenn man sich physisch an einem anderen Ort befindet und beginnt, die Erfahrungen aus der Vergangenheit zu überdenken und zu systematisieren.

– Ich war ein postsowjetischer Mensch, und ich bin es immer noch. Elf Jahre in Deutschland haben mich nicht zu einem Deutschen gemacht. Und ich identifiziere mich immer noch mit der zerfallenen Sowjetunion, in der ich nicht einmal gelebt habe.

Aber betrachten sich „diese Menschen“ eigentlich als politische Emigrant*innen? Nein. Möglicherweise, weil dieser Begriff für sie negativ konnotiert ist und er weniger mit Dissens und Opposition, sondern eher mit Opportunismus assoziiert wird:

„Viele von denen, die gerade als Opfer des Regimes ausgewandert sind, lobpreisen nun dieses Regime und scheinen bereit zu sein, zurückzukehren, um von der Regierung, die ihnen „vergeben“ hat, in die Arme geschlossen zu werden. Die Menschen aber, die, als sie noch in Aserbaidschan waren, das Regime und die Missstände in der Gesellschaft ehrlich kritisiert haben, machen das auch hier. Sie haben unter Berufung auf diese Kritik weder um Asyl gebeten noch eine Karriere aufgebaut, sondern sie sind nur aufgrund ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten ausgewandert. Und wenn man sie als politische Emigrant*innen bezeichnet, so ist das für sie sogar irgendwie erniedrigend, so als ob es bedeuten würde, dass sie Angst vor der Regierung hatten oder dass sie ihre Emigration der Regierung zu verdanken haben.“


Der Inhalt dieses Artikels liegt in der alleinigen Verantwortung der Autorin und spiegelt in keiner Weise die Ansichten der Heinrich-Böll-Stiftung, Büro Tbilisi - Region Südkaukasus, wider.

>>Weitere Analysen über aktuelle politische, sozioökonomische und kulturelle Entwicklungen in Aserbadschan empfehlen wir auf der Website unseres Büros Region Südkaukasus.

>> Meldung von Reporter ohne Grenzen: "Aserbaidschan: Neues Gesetz legalisiert Zensur"