Die Kämpfe türkeistämmiger Lubuns um einen Subjektstatus in Deutschland

Essay

Türkeistämmige LGBTIQ+ stehen in Deutschland zwischen Migrationsdynamiken, Diskursen der türkischen Regierung und systematischer Mehrfachdiskriminierung. Ihre Kämpfe um Räume, in denen sie handelnde Subjekte sein können, macht sie zu Akteur*innen intersektionaler Politik.

YALNIZ DEĞİLSİN = TOGETHER
Teaser Bild Untertitel
Transparent auf dem Transgenialen CSD in Berlin-Kreuzberg, 2009. "Yalniz degilsin" bedeutet übersetzt "Du bist nicht allein".

Türkeistämmige LGBTIQ+ versuchen auch 60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen weiterhin, sowohl für ihre migrantischen und migrantisierten Identitäten, als auch für ihre Gender-Identitäten und sexuellen Orientierungen Räume zu schaffen. Dabei geht es nicht nur um Anerkennung und Repräsentation von Menschen aus verschiedenen Generationen und Migrationswellen in Öffentlichkeit und Politik, sondern auch um Widerstand gegen die homophoben und transphoben Auswirkungen politischer Diskurse aus der Türkei, die migrationsbedingt in Deutschland eine Wirkmacht entfalten.

Die türkische Politik und die regierungsnahen Medien haben in den vergangenen Jahren homophobe und transphobe Hassrede hervorgebracht, die sich auf die Behauptung konzentriert, LGBTIQ+ seien eine Gefahr für Familie und Religion. LGBTIQ+-Rechte werden nicht anerkannt. Stattdessen wird unverhohlen ein Feindbild aufgebaut und LGBTIQ+ sogar in die Nähe des “Terrorismus” gerückt. Folge sind Hassverbrechen aus sexistischen, homophoben und transphoben Motiven. Diese Situation betrifft nicht nur Menschen, die in der Türkei leben, sondern kann auch die Wahrnehmung im Ausland lebender türkeistämmiger Menschen beeinflussen. Echos der homophoben und transphoben politischen Diskurse aus der Türkei sind auch in Deutschland mit seinen rund drei Millionen türkeistämmigen Menschen intensiv zu spüren.

Grafik: Die Türkei steht in Bezug auf die Rechte von LGBTIQ auf Platz 48 von 49 in Europa.
ILGA-Ranking: Die Türkei steht in Bezug auf die Rechte von LGBTIQ auf Platz 48 von 49 in Europa. Quelle: Rainbow Europe

Als Vorsitzender der türkischen Religionsbehörde Diyanet hat Ali Erbaş im Ramadan 2020 in einer umstrittenen Freitagspredigt vom 24. April die Aussage getätigt, dass “Böses und Seuchen ihre Ursache in Homosexualität und wilder Ehe” hätten. Drei Tage nach dieser Freitagspredigt twitterte Metin Çakır, ein türkeistämmiger Funktionsoberarzt an der Herzchirurgie einer Karlsruher Klinik, er müsse “als Arzt feststellen”, dass Homosexualität und Transsexualität “Krankheiten” seien. Çakır wurde aufgrund dieser diskriminierenden Äußerungen gekündigt. Im März 2021 wurde bekannt, dass der an der Türkisch-Deutschen Universität (TDU) beschäftigte Politologe Taceddin Kutay in den sozialen Medien Homosexualität als “Perversion” bezeichnet hatte. Das hatte für ihn allerdings bisher keine Konsequenzen. Bis heute ist Kutay an der Türkisch-Deutschen Universität beschäftigt.

Auswirkungen LGBTIQ+-feindlicher Politik der Türkei in Deutschland

Die von Diyanet geführte Türkisch-Islamische Union DITIB, Kooperationspartner verschiedener deutscher Landesregierungen und Kommunen unter anderem im Bereich Bildung, lud ebenfalls im März 2021 den Historiker Ahmet Şimşirgil zu einer Veranstaltung über den Nationaldichter Mehmet Akif Ersoy ein. Şimşirgil hatte zuvor öffentlich davor gewarnt, eine vom Westen finanzierte “LGBT-Lobby” wolle die Türkei mit einer geistigen Krankheit “infizieren” und die Istanbul-Konvention biete ihr dafür Raum. Die Einladung einer Person, die sowohl gegen die Istanbul-Konvention als auch gegen LGBTIQ+ wetterte, durch einen religiösen Dachverband in Deutschland wurde sowohl in Deutschland, als auch in der Türkei von Betroffenen stark kritisiert. Die Reaktionen führten zum Rücktritt des Vorsitzenden der DITIB Rheinland-Pfalz, Yılmaz Yıldız.

Das ist mehr an Homophobie und Transphobie, als dass es noch mit einer politischen Konjunktur in der Türkei zu erklären wäre. Die Kämpfe türkeistämmiger Lubuns[1] um Anerkennung als handelnde Subjekte in Deutschland werden durch diese Auswüchse von Hassrede empfindlich erschwert. In den westlichen Ländern herrscht ein politischer und medialer Diskurs vor, demzufolge die jüngste Welle von Immigration aus der Türkei als “moderner” charakterisiert wird als die ersten Einwanderer*innengenerationen der Nachkriegszeit. Damit wird eine kulturelle Hierarchie zwischen zwei Gruppen von Migrant*innen aufgebaut. Gleichzeitig werden die “alten” Türkeistämmigen, die jahrzehntelang in Deutschland Rassismuserfahrungen machen mussten, auch von der homophoben und transphoben türkischen Politik instrumentalisiert. Der Fall des Herzchirurgen Metin Çakır hat gezeigt, dass es in Deutschland Akteur*innen gibt, die mit eigenen homophoben Äußerungen die Haltung der türkischen Regierungsbehörden unterstützen und ihrerseits wiederum Unterstützung von regierungsnahen Kreisen und Medien in der Türkei erfahren, wenn sie für ihre Äußerungen in der deutschen Öffentlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden. Auch die in der türkischen Politik regelmäßig wiederholten Behauptungen, eine sogenannte LGBTI-Lobby werde mit EU-Geldern unterstützt, um die türkische Gesellschaft zu verwestlichen, tragen weiter zum Othering türkeistämmiger Lubuns innerhalb mancher türkeistämmiger Communities in Deutschland bei.

Queere migrantische Selbstorganisierung

Diese transnationale Transphobie und Homophobie gesellt sich zu den vielen Problemen, die mit der Migration begannen und nicht auf reflektierte Art gelöst worden sind. Sie erzeugt verschiedene komplexe Situationen und die “Anderen” dieses Diskurses finden Unterstützung insbesondere in Räumen, die durch die Bemühungen migrierter und migrantisierter Lubuns entstanden sind, und in queeren migrantischen Organisationen. Dabei treffen die Geschichten von Lubuns aus unterschiedlichen Generationen zusammen, und es entsteht gemeinsamer Boden mit anderen Gruppen migrantischer und migrantisierter Menschen und Sub-Identitäten. Seit 60 Jahren gibt es Migration aus der Türkei nach Deutschland und seit 60 Jahren sind Lubuns aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Viele von ihnen haben gekämpft und kämpfen – für Sichtbarkeit, Anerkennung und Repräsentation, für das Empowerment von BIPOC Lubuns, für den Aufbau queerer migrantischer Netzwerke, für eine kollektive Wahrnehmung ihrer Interessen und dafür, dass Lubuns ihr Selbstbestimmungsrecht als Subjekte der Bewegung wahrnehmen können. GLADT, LesMigras, Queer Refugees Deutschland, Women in Exile & Friends, International Women* Space, Puduhepa, Lesbenberatung und viele weitere Vereine, NGOs und Initiativen sind ebenso politische Akteur*innen in diesem Feld intersektionaler BIPOC LGBTIQ+ Politik wie autonome queer-migrantische Zusammenschlüsse.

Eine Demonstration in Kreuzberg auf der eine Regenbogenfahne geschwungen wird
Kreuzberg hat nicht nur einen hohen Migrationsanteil, sondern ist auch eines der Zentren der LGBTIQ+ Kämpfe.

Diese Organisationen bieten Awareness-Trainings zu Rassismus, Transphobie und Homophobie, Sexismus und anderen Formen von Othering an und organisieren Workshops zu intersektionaler Politik. Sie veranstalten Konferenzen und Festivals. Sie solidarisieren sich mit geotherten Einzelpersonen. Sie arbeiten zu Erinnerungspolitik und führen Interventionen im öffentlichen Raum durch. Dadurch schaffen sie sicherere Räume für BIPOC Lubuns. Für Personen, die von verschiedenen Diskriminierungsformen betroffen sind, bieten sie psychosoziale Beratung an sowie Unterstützung bei Mehrfach-Othering, in Asylverfahren und Migrationsfragen, aber auch für familien- und religionssensibles Coming Out. Sie kümmern sich um Gesundheitsfragen und Organisierung und viele weitere Bereiche, die für die Existenz von migrierten und migrantisierten Lubuns wichtig sind. Es handelt sich um migrantische Selbstorganisationen, die nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe und transparent arbeiten.  

Diese Organisationen bieten auch Beratung in türkischer Sprache an und haben türkeistämmige Mitarbeiter*innen. Für die türkeistämmigen Lubun in Deutschland sind sie lebenswichtig, denn sie stehen zwischen der homophoben und transphoben Politik der Türkei und der herrschenden, weißen Politik in Deutschland.

Mit dem Anwerbeabkommen begann am 30.10.1961 eine Einwanderungsgeschichte, die seit dem Putschversuch im Juli 2016 eine neue Dynamik angenommen zu haben scheint. Sie wird sicher noch weitergeschrieben werden. Wer türkeistämmig und Lubun ist, erlebt nicht nur Rassismus, sondern auch Transphobie und Homophobie. Für eine Sensibilisierung gegenüber der Existenz dieser Menschen und für einen Dialog mit ihnen braucht es mehr als nur autonome Räume. Auch die Mainstream-Politik und Medienlandschaft sowohl in der Türkei als auch in Deutschland müssen sich für intersektionale Ansätze öffnen, damit die Kämpfe türkeistämmiger Lubun darum, als handelnde Subjekte wahrgenommen zu werden, sichtbarer werden.


[1] “Lubun” kommt vom Wort “lubunya”, was so viel wie homosexuell heißt. Heute wird es von vielen Personen, die sich als LGBTIQ+ definieren, als eine Selbstbezeichnung verwendet.


 

>> Zur türkischen Version des Artikels auf der Webseite unseres Büros in Istanbul.