Russland vor den Wahlen

Analyse

In den nächsten drei Tagen werden in Russland die Staatsduma sowie zahlreiche Regionalparlamente und einige Gouverneure neu gewählt. Die Wahlen finden in einem wirtschaftlich und politisch zunehmend schwierigen Umfeld statt. Mit bemerkenswertem Aufwand versucht die Regierungspartei „Einiges Russland“ ihre Mehrheiten zu sichern und zugleich den Anschein einwandfreier internationaler Standards zu wahren.

Staatsduma in Moskau
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Staatsduma in Moskau.

Russland wählt. An drei Tagen, vom 17. - 19. September 2021 wird die Staatsduma neu gewählt. Außerdem werden die Parlamente in 39 Regionen und neun Gouverneure gewählt. Der Kreml betreibt einen erheblichen Aufwand, um ein positives Wahlergebnis für die Regierungspartei Edinaja Rossija (Einiges Russland) und genehme Kandidat/innen sicherzustellen und gleichzeitig den Eindruck einer fairen und freien Wahl zu vermitteln. Tatsächlich geht es aus Sicht des Kreml bei der Dumawahl erstens darum, loyale Abgeordnete wählen zu lassen, die die Entscheidungen aus dem Kreml bereitwillig umsetzen und damit die Effizienz des Gesetzgebungsverfahrens gewährleisten. Zweitens ist die Höhe des Sieges der Partei „Einiges Russland“ relevant. 300 verlässliche und kontrollierbare Abgeordnete sind notwendig, um die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit im Parlament zu sichern. Drittens überdauert die anstehende Legislaturperiode die Amtszeit des Präsidenten. Der steht im Jahr 2024 zur Wiederwahl. Daher ist die Dumawahl eine erste vorgezogene Vertrauensabstimmung für Präsident Putin. Doch das Grundprinzip, dass Amtsinhaber und Regierungsparteien Wahlen auch verlieren können, ist außer Kraft gesetzt.

Grobschlächtige, leicht erkennbare Wahlmanipulationen wie in Belarus im Sommer 2020 sollen ebenso vermieden werden wie Bilder von staatlicher Gewalt gegen Demonstrierende. Um das gewünschte Ergebnis zu erzielen, bedient sich das Putin-System verschiedener Methoden. Soldaten und Pensionäre erhalten Zuschüsse und Prämien, um sie zur richtigen Stimmabgabe zu animieren. Während über das staatlich gelenkte Fernsehen und soziale Medien seit Monaten Propaganda läuft, werden seit Dezember 2020 unabhängige Medien und Journalist/innen verfolgt, als ausländische Agenten deklariert und kriminalisiert. Viele potentielle Kandidat/innen wurden zur Wahl nicht zugelassen, eingeschüchtert, verhaftet und verurteilt.

Ella Pamfilova – Vorsitzende der zentralen Wahlkommission unter Erfolgsdruck

„Wähl klug!“: Aleksej Naval’nyj und seine Organisation werben dafür, das Kreuz bei den jeweils chancenreichsten Gegenkandidat/innen zur Regierungspartei „Einiges Russland“ auf dem Stimmzettel zu setzen. Dies sei die einzige Möglichkeit, um die Kandidat/innen der Machtpartei zu besiegen. Naval’nyjs Stiftung zur Bekämpfung der Korruption und seine Wahlstäbe wurden im Juni 2021 zu „extremistischen Organisationen“, erklärt und alle Mitglieder seines Netzwerkes von der Kandidatur ausgeschlossen. Naval’nyjs Aufruf hatte sich bereits bei einigen Regionalwahlen im Jahr 2020 und bei den Moskauer Wahlen bewährt. Auch 2021 werden Wahlempfehlungen in erster Linie für die Großstädte abgegeben.

Am 30. August 2021 vermeldete Ella Pamfilova, die Vorsitzende der zentralen Wahlkommission, dass die Wahlen dieses Jahres für sie die schwierigsten ihrer Amtszeit seien, aufgrund der Pandemie, des langen Abstimmungszeitraumes und auch zu erwartender Cyberattacken aus dem feindlichen Ausland. Frau Pamfilova und mit ihr auch die Vorsitzenden der regionalen Wahlkommissionen stehen unter enormem Druck, gute Zahlen zu liefern. Das ist umso schwieriger, als die Zustimmung zur Regierungspartei Einiges Russland bei unter 30% liegt, die wirtschaftliche und soziale Lage schwieriger geworden ist und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst. Die Zustimmung zur Kommunistischen Partei KPRF und damit deren Aussicht auf ein gutes Wahlergebnis nimmt ebenfalls zu. Dass Aleksej Naval’nyjs Aufruf „Wähl klug!“ Erfolg haben könnte, lässt sich weder durch seine Inhaftierung noch durch die zentrale Wahlkommission zu 100% verhindern.

In der letzten heißen Phase vor den Wahlen scheint die Aufgabe, den erwünschten Wahlausgang sicherzustellen, auf mehrere Behörden verteilt zu werden. Der Koordinierungsrat der Gesellschaftskammer (obshchestvennaja palata), der für die gesellschaftliche Kontrolle der Wahlen zuständig ist, ließ verlautbaren, dass Journalist/innen, die als „ausländische Agenten“ für ein ausländisches Publikum schreiben, versuchten, die Wahlen zu diskreditieren. Die Nichtzulassung unerwünschter Kandidat/innen liegt nun in der Hand des Justizministeriums, Staatsanwaltschaft und Gericht, und nicht mehr in der Kompetenz der Wahlkommissionen. Die Zügel werden auf den letzten Metern angezogen.

Die „Polittechnologen“

Langfristiger angelegt sind die gesetzlichen Veränderungen. Sie begannen mit der Verfassungsreform vom Juli 2020. Gleichzeitig wurden Gesetze drakonisch verschärft: Medien und Privatpersonen können nun als „ausländische Agenten“ eingestuft werden; NGOs und Privatleuten ist nun untersagt, ohne staatliche Genehmigung öffentliche Bildungsveranstaltungen durchzuführen. Mit diesen Gesetzen zielt die herrschende Elite auf die lückenlose Kontrolle und Bereinigung der politischen Landschaft. Wer es dennoch geschafft hat, sich als Kandidat/in zu registrieren, wird mit konstruierten Vorwürfen zum „ausländischen Agenten“ erklärt, als Besitzer/in von Vermögen im Ausland oder unter Verweis auf kurzfristig geänderte Wahlgesetze von der Wahlkommission nicht zugelassen. 336 Kandidaten und Kandidatinnen wurden mit unterschiedlichen Begründungen entweder nicht zugelassen oder gestrichen.

Systemopposition: Im Grunde gibt es ein hierarchisches Gebilde. An der Spitze steht die Partei der Macht Einiges Russland. Es folgen drei Parteien, die sich mit Stellung im System arrangiert haben: die Kommunistische Partei der Russländischen Föderation (KPRF), die rechtspopulistische Liberaldemokratische Partei Russlands (LDPR) und Gerechtes Russland (SP). Diese werden als „Systemopposition“ bezeichnet.

Als Nicht-System-Opposition gelten Parteien und Bewegungen, die meist nicht an Wahlen teilnehmen dürfen und damit de facto aus dem politischen System ausgeschlossen bleiben. Dazu gehört auch das Team Alexej Nawalnys. (Tatjana Stanovaja, 31.5.21; dekoder).

Ein anderes Mittel ist der Aufbau sogenannter „Spoilerparteien“, wie die „Kommunisten Russlands“, die als Gegner der KPRF ins Leben gerufen wurden und deren Stimmen abgraben sollen. In anderen Parteien wie bei den „Grünen“ kam es zur Spaltung – dem Vernehmen nach unter wohlwollender Hilfestellung aus der Präsidialadministration. Die strategische Vorbereitung, Koordinierung und Umsetzung ist Aufgabe sogenannter Polittechnologen.

Zum Erreichen hoher Zustimmungswerte für „Einiges Russland“ lässt die russische Regierung, obwohl völkerrechtlich unzulässig, jene 500.000 Bewohner/innen der separatistischen „Volksrepubliken“ Lugansk und Donetsk in der Ukraine an den Wahlen teilnehmen, denen Russland zuvor die russländische Staatsbürgerschaft verliehen hatte. Sie werden dem Wahlbezirk Rostov-am-Don zugerechnet. Sie haben entweder die Möglichkeit, elektronisch zu wählen oder per Bus auf das Territorium der Russländischen Föderation zu reisen und ihre Stimme abzugeben. Edinaja Rossija rechnet mit vielen Stimmen aus diesen Regionen.

Die Kandidat/innen

Seit den Protesten im Januar/Februar 2021 sind die Möglichkeiten der Nicht-Systemischen Opposition, sich an den Wahlen zu beteiligen empfindlich eingeschränkt worden. Prominentestes Beispiel sind die Nawalny-Stäbe und seine Stiftung, die am 9.6.2021 als extremistisch eingestuft wurden; Mitglieder und Unterstützer/innen dürfen nicht als Kandidat/innen auftreten. Die Finanzen, Ressourcen, Unterstützung, der Zugang zu und die Verbreitung von Informationen sind so eingeschränkt, dass im Grunde von einer handlungsfähigen Opposition nicht mehr die Rede sein kann. Internetzensur und flankierende Strafandrohung garantieren, dass die Machtgefüge zunehmend undurchdringbar werden.

32 Parteien haben das Recht, an den Dumawahlen teilzunehmen, 14 sind von der Aufgabe befreit, 200.000 Unterstützungsunterschriften zur Registrierung vorzulegen. Mit 5% der Stimmen zieht man in die Duma ein, mit 3% kann Wahlkampfkostenrückerstattung vom Staat beantragt werden.

Am 1. September 2021 waren 2.037 Kandidat/innen für die 450 Sitze der Duma aufgestellt, davon nur 11 Unabhängige. 336 Kandidat/innen verschiedener Parteien wurden zunächst zugelassen, dann aber wieder ausgeschlossen. Es zeugt von Mut und Hartnäckigkeit, dass Oppositionsparteien, insbesondere Jabloko und die Kommunisten der KPRF dennoch versuchen, sich gegen den Ausschluss einzelner Kandidat/innen gerichtlich zu wehren. Diese Hartnäckigkeit wird in einigen wenigen Wahlkreisen möglicherweise Früchte tragen, wo die Kandidat/innen von ER ernsthafte Konkurrenz befürchten müssen. Diese Wahlkreise sind in Sibirien und im Fernen Osten, etwa in Chabarovsk, wo es im vergangenen Jahr mehrere Massenproteste gegen die Absetzung und Verhaftung des Gouverneurs gegeben hatte. Auch Moskau und St. Petersburg gehören dazu. Am Sieg von Edinaja Rossija wird das nichts ändern.

Zu den Gouverneurswahlen in neun Regionen wollten 51 Kandidat/innen antreten; 39 wurden zugelassen. Einige Kandidat/innen gehören der LDPR oder der KPRF an, die meisten sind Mitglied von Edinaja Rossija. Die größten Chancen haben Amtsinhaber/innen, die vom Kreml eingesetzt wurden. Gouverneure sind immer weniger regional verankert als vielmehr vom Zentrum „abgeordnet“ – daher sind die Gouverneurswahlen eng mit den Dumawahlen verflochten.

Parteien mit „grüner“ Agenda: In sechs Regionen ist die Russische ökologische Partei „Grüne“ vertreten, in vier Regionen wurde die Partei „Grüne Alternative (ZA!) registriert. Diese Parteien haben in den Medien relativ geringe Aufmerksamkeit, die, wenn überhaupt, auf wenige größere, nicht unbedingt positive, Ereignisse zurückzuführen sind. Die „Grünen“ haben z.B. gefordert, den liberalen Kandidaten Lev Shlosberg (Jabloko) nicht zuzulassen. In Novosibirsk wollten sie den amtierenden Bürgermeister entlassen. Parteiinterne Konflikte, haben im Mai 2021 zu einer Spaltung der Partei geführt. Sie sind mit den deutschen „Bündnis 90/Die Grünen“ nicht vergleichbar.

Eine Umweltbewegung „Wir leben hier“ versuchte, in acht Regionen 11 Abstimmungen zu einem allrussischen Umweltreferendum zu erwirken. Inwieweit es jedoch gelingt, vorrangig lokale Belange auf ein gesamtrussisches Ziel zu richten, ist fraglich.

Die niedrige Zahl an Bewerber/innen vor allem bei den Regionalwahlen zeigt, dass die Bereitschaft, sich um ein politisches Mandat zu bewerben, erheblich abgenommen hat. Das offizielle politische Feld wird zunehmend enger und eingeschränkt. Immer mehr Menschen werden aus dem politischen Geschehen ausgegrenzt.

Die Wähler/innen

Um es vorweg zu nehmen: das Wahlvolk spielt in den Augen des Regimes eine untergeordnete Rolle. Programmatik ist nebensächlich, Wähler und Wählerinnen können sich lediglich für das Regime entscheiden. Allerdings gilt, dass mindestens jede/r dritte Wahlberechtigte freiwillig für Putin und Edinaja Rossija stimmt. In der Bevölkerung hat sich der Eindruck verfestigt, dass es sich um eine Wahl ohne Wahl handelt. Russlands Wirtschaft stagniert, die Inflation ist hoch, die Corona-Krise hat Defizite im Gesundheitssystem offenbart, die verheerenden Waldbrände im Norden haben den Glauben an die Machthaber unterminiert. Eine Umfrage von FOM ergab, dass lediglich 22% der Wahlberechtigten tatsächlich wählen wollen. Abgesehen davon, dass durch administrative Ressourcen und Druck die Wahlbeteiligung höher sein dürfte, spielt eine niedrige Wahlbeteiligung der Partei der Macht in die Hände. Überzeugte Wähler/innen wählen vorrangig (42%) Einiges Russland, während sich deren landesweite Unterstützung bei 27–30 Prozent bewegt. In Moskau sind die Zahlen noch schlechter – dort sprechen sich 55% der Befragten für alternative Kandidat/innen aus. Das regierungsnahe Meinungsforschungsinstitut VTSIOM veröffentlichte andere Zahlen: Danach wollten 70 % der Befragten an der Wahl teilnehmen. Unter ihnen wollen 34 % Einiges Russland wählen, 18 % KPRF, 10 % LDPR und 7% Gerechtes Russland.

Mit dem Wiedereinzug dieser vier Parteien in die Staatsduma ist zu rechnen. Offen ist, ob Jabloko, die Rentnerpartei oder die „Neuen Leute“ die 5-Prozent-Hürde nehmen können. Unabhängige Medien, die über Wahlmanipulation berichten könnten, sind in ihrem Schaffen eingeschränkt, Zugang zu den Beobachtungskameras in den Wahlbüros haben nur offiziell zugelassene Wahlbeobachter/innen. Die Auswertung der Kameraaufzeichnungen nach den Wahlen wäre relevanter als am Wahltag selbst. Dass die elektronische Stimmabgabe drei Tage lang möglich ist, eröffnet der Manipulation Tor und Tür. Eine effektive Kontrolle ist unabhängigen Beobachter/innen verwehrt.

Einschätzung

Ziel des Kreml ist es, die Wahlen durchzuführen, den Anschein zu wahren, dass sie nach internationalen Standards und in Übereinstimmung mit Recht und Gesetz durchgeführt werden, der Regierungspartei Einiges Russland eine große Mehrheit zu sichern und die Parteien der Systemopposition zum Zuge kommen zu lassen. Unterdessen gibt es zahlreiche gesetzliche Instrumente, um jede kandidierende Person und jede Organisation, ob explizit oppositionell oder nicht, zum „ausländischen Agenten“, zur „unerwünschten Organisationen“, als „extremistisch“ einstufen zu können. Der Verweis auf bestehende Gesetze und damit auf die „Rechtmäßigkeit“ der Wahlen ist insofern wichtig, als Russland Mitglied der OSZE und des Europarates ist und sich damit zur Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien verpflichtet hat.

Die großflächige und lückenlose Bereinigung des politischen Feldes im Vorfeld der Wahlen bindet im Putin-System enorme organisatorische, finanzielle, logistische und organisationale Ressourcen. Das Zusammenspiel der einzelnen Behörden und Akteure auf den unterschiedlichen Verwaltungsebenen demonstriert, wie stark autoritäre Herrschaft in Russland unterdessen konsolidiert ist.

Am Wahlergebnis im Jahr 2021 für Edinaya Rossiya wird sich daher nichts ändern. Die Partei wird auch ohne Fälschungen etwa 55-58% der Dumasitze erhalten. Allerdings benötigt sie 75% der Sitze, um eine Verfestigung des autoritären Regimes zu befördern. Da in der näheren Zukunft eine formale Absage an demokratische Mechanismen sehr schwer umzusetzen sein wird, wird mit erheblichem Einsatz alles dafür getan, auch die fehlenden rund  15% zu sichern.