"Guatemala droht der Rückschritt in die Vergangenheit"

Interview

In Guatemala gehen die Menschen gegen die Regierung von Alejandro Giammattei auf die Straße. Auslöser ist die Entlassung des obersten Antikorruptions-Ermittlers Juan Francisco Sandoval. Die Menschen haben es satt, dass sich eine Clique um den Präsidenten gnadenlos selbstbedient. Mit der Entlassung Sandovals wurde eine weitere Bastion gegen die Korruption geschleift.

Juan Francisco Sandoval
Teaser Bild Untertitel
Juan Francisco Sandoval.

Seit dem Abzug der UN-Kommission gegen die Straflosigkeit (CICIG) im September 2019 findet in Guatemala ein gnadenloser Rollback im Justizsystem statt. Dieser geht einher mit dem Abbau von sozialer Infrastruktur. Von den Massenprotesten zeigt sich die Regierung Giammattei jedoch unbeeindruckt. Sie hat mit Rafael Curruchiche einen Staatsanwalt als Nachfolger Sandovals ernannt, gegen den selbst ein Ermittlungsverfahren läuft. Die USA haben mittlerweile reagiert und am 4. August Visa-Restriktionen gegen staatliche Funktionäre und Politiker/innen verhängt, die die Arbeit von Antikorruptions-Spezialist/innen blockieren und erschweren – nicht nur in Guatemala, sondern auch in Honduras und El Salvador. Der Druck auf die Regierung Giammattei nimmt zu und auch die Proteste werden weitergehen, prognostiziert Juan Francisco Sandoval.

Juan Francisco Sandoval (39) ist nicht erst seit ihn US-Außenminister Antony Blinken als „Champion der Antikorruption“ auszeichnete ein bekannter Jurist in Guatemala. Er leitete ab 2015 die Sonderstaatsanwaltschaft gegen die Straflosigkeit (FECI), die vor allem die omnipräsente Korruption in Guatemala bekämpft. Die Ermittlungen seiner Dienststelle tangierten die Interessen des „Paktes der Korrupten“, dessen Protagonist/innen  mehr und mehr die Institutionen des Staates übernehmen. Das dürfte der Grund für die Entlassung Sandovals am Freitag, den 23. Juli, gewesen sein. Sandoval ging aus Angst vor Verfolgung daraufhin ins Exil und befindet sich derzeit in den USA.

Knut Henkel: Herr Sandoval, Sie haben am 23. Juli Guatemala wenige Stunden nach Ihrer Entlassung durch die Generalstaatsanwältin Consuelo Porras verlassen. Warum?

Juan Francisco Sandoval: Weil ich mir ernste Sorgen um meine Sicherheit gemacht habe und es für realistisch hielt, dass strafrechtlich gegen mich vorgegangen wird. Dazu muss man wissen, dass sich das Justizministerium in der Hand der Mafia befindet. Wir sprechen in Guatemala schon lange vom „Pakt der Korrupten“, der die Institutionen des Staates peu á peu übernimmt und sie mehr und mehr kontrolliert. Die Justiz hat dabei eine Schlüsselrolle und deshalb hat es viele Anläufe gegeben, meine Arbeit zu stoppen. Die Hoffnung, dass sich die Situation Guatemalas nachhaltig ändern würde, dass die Justiz gestärkt werden würde, hat sich zerschlagen.

Was bedeutet Ihre Entlassung im Kontext der Ankündigung der US-Regierung von Joe Biden, eine „Kommission gegen die Korruption“ für die drei Staaten des nördlichen Dreiecks (Triangulo Norte El Salvador, Honduras und Guatemala) zu initiieren?

Ich denke, dass die letzten Entscheidungen der Generalsstaatsanwaltschaft genau diese Pläne ausbremsen, denn meine Dienststelle, die FECI, hätte in diesen Plänen eine wichtige Rolle gespielt. Meine Entlassung hat aus dieser Perspektive Signalcharakter.

Wie denken Sie über Consuelo Porras, die Generalstaatsanwältin, die seit mehr als drei Jahren im Amt ist. Wie beurteilen Sie Ihre Bilanz?

Für mich ist sie Teil des „Paktes der Korrupten“. Das gesamte Ministerium arbeitet für diesen Pakt und das sorgt dafür, dass diejenigen, die in den großen Korruptionsfällen ermitteln, Gutachten erstellen und am Ende auch Urteile sprechen sollen, unter immensen Druck stehen.

Ihre Dienststelle, die FECI, war bis zum September 2019 das Bindeglied zur CICIG, der UN-Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala. Werden deren jahrelange Arbeit und die dazugehörigen Strukturen peu á peu entsorgt?

Ich bin der Meinung, dass wir derzeit Zeugen werden, wie wir die Arbeit meiner ehemaligen Dienststelle, deren Effektivität und ihre Unabhängigkeit verlieren. Ein Aufbauprozess über zwölf Jahre wird zunichtegemacht und offensichtlich ist, dass es am politischen Willen der Regierenden fehlt, notwendige Reformen zu implementieren. Guatemala droht der Rückschritt in die Vergangenheit.

Hat es aus heutiger Perspektive an internationaler Unterstützung für die CICIG und damit auch für die FECI gefehlt?

Es gab über viele Jahre internationale Unterstützung für unsere Arbeit. Das reicht aber nicht, wenn die zentralen Akteure in Guatemala eigene Interessen verfolgen und gegen die Justiz vorgehen.

Wie schätzen Sie die Situation der Justiz in Guatemala heute ein – was hat sich seit dem Ende des Mandats der CICIG geändert?

Die Justiz meines Landes befindet sich in einer gravierenden Krise, denn die Mafia hinter dem „Pakt der Korrupten“ hat die Justiz zumindest teilweise und andere Institutionen weitgehend übernommen. Das Personal im Justizsektor arbeitet in einem Ambiente der Einschüchterung und Bedrohung. Es laufen Diffamierungs- und Desinformationskampagnen, die das Ziel haben, das Image der Staatsanwaltschaft beziehungsweise derjenigen, die ihren Job nach wie vor ehrlich und engagiert machen, zu beschädigen.

Welche Bedeutung hat in diesem Kontext das intransparente System der Nominierung von Richtern und Richterinnen für die höchsten Gerichte darunter auch das Verfassungsgericht?

Eine zentrale. Auf die Intransparenz hat die CICIG bereits 2014 hingewiesen und Reformen angemahnt. Die FECI, meine ehemalige Dienststelle, hat 2020 zudem die Ausweitung dieses perversen Nominierungssystems kritisiert, denn es lässt Juristen für hohe Ämter zu, obwohl bekannt ist, dass sie dubiosen Kreisen nahestehen und gegen die zum Teil bereits wegen Korruption und der Förderung der Straflosigkeit ermittelt wurde.

Ein Grund dafür, das Land zu verlassen, war auch die Tatsache, dass die FECI unter meiner Leitung gegen acht der dreizehn Richter und Richterinnen der Corte Suprema de Justica (des obersten Gerichts) und gegen weitere hohe Richter ermittelt hat. Ein überaus brisantes Verfahren. Daher hielt ich es für wahrscheinlich, dass ein Strafbefehl gegen mich ausgestellt werden könnte.

Es gibt aber nach wie vor Richter und Richterinnen, wie Yassmín Barrios oder Miguel Ángel Gálvez, die engagiert und transparent ihren Job machen. Stehen sie unter Druck?

Ja, ohne Zweifel. Alle Richter, die für Kapitaldelikte zuständig sind, stehen unter immensen Druck. Das belegt die Tatsache, dass sich derzeit vier Richter und Richterinnen im Exil befinden (darunter Gloria Parros – ehemalige Vorsitzende des Verfassungsgerichts, die am 13. April das Land verließ). Ich befürchte auch, dass die eine oder der andere FECI-Mitarbeiter gehen wird – in Guatemala fehlt es an Perspektiven für eine unabhängige Justiz.

Die USA haben unter Präsident Joe Biden einen neuen Ton in der Region angeschlagen. Die „Liste Engel“, aber auch die Initiative eine Antikorruptions-Kommission für die Länder des Triangulo Norte (El Salvador, Hondruas, Guatemala) zu gründen, stehen dafür und US-Vizepräsidentin Kamala Harris hat bei ihrem Guatemala-Besuch im Juni auch darauf hingewiesen. Trotzdem wurden Sie entlassen. Wie passt das zusammen?

Die Botschaft aus den USA ist klar und extrem wichtig. Mit tut es aufrichtig leid, dass die Position der guatemaltekischen Regierung derart unflexibel ist und es hat den Anschein, dass die USA ihre Maßnahme verschärfen werden. Die „Liste Engel“ sieht eine Reihe von Sanktionen gegen korrupte Akteure vor, nicht nur Politiker, um ihren Radius einzuengen. Das mediale Echo hat dabei einen wichtigen Effekt. Die Betroffenen werden geächtet, dürfen nicht mehr in die USA einreisen und Konten in den USA werden eingefroren. Ich hoffe, dass diese Sanktionen ihren Effekt haben werden und Guatemala wieder zurück auf den legalen Weg findet.

Gegen wen hat die FECI in den letzten Monaten ermittelt? Es heißt, es wurden Beweise für Korruption im Umfeld des Präsidenten Alejandro Giammattei gesammelt – ist das richtig?

Ja, aber es lagen bis zu meiner Entlassung keine konkreten Beweise gegen den Präsidenten selbst vor, wohl aber gegen Menschen aus seinem engsten Umfeld.

Seit Ihrer Entlassung hat es eine ganze Reihe von Demonstrationen in Guatemala gegen die Korruption, gegen die Politik von Präsident Alejandro Giammattei und gegen die Generalstaatsanwältin Consuelo Porras gegeben. Können sie zur Initialzündung für den Wandel in Guatemala werden?

Zuerst einmal sind die Demonstrationen ein Signal des Unmuts, der Kritik an der Politik der Regierung und der Empörung. Sie sind ein Beweis, dass es in Guatemala alles andere als gut läuft, dass die Dinge sich ändern müssen und dass die Zivilgesellschaft den Verantwortlichen misstraut. Meine Entlassung hatte Symbolcharakter und einen direkten Effekt.

Was fehlt, um einen Wandel in Guatemala auf den Weg zu bringen?

Vor allem politischer Wille.

Die Regierung von Alejandro Giammattei steht seit Monaten unter Druck. Die mehrtägigen Proteste im letzten November gegen einen Haushalt, der der Korruption Tür und Tor öffnet und zugleich Sozialausgaben mitten in der Pandemie herunterfährt, sind dafür nur ein Beispiel. Haben sich die Wähler/innen in ihm getäuscht?

Seine Wahl zeigt, dass es in Guatemala an politischer Bildung mangelt, aber die Proteste, die in den ländlichen Regionen besonders stark waren, sind auch Beleg dafür, dass die Leute begriffen haben, dass sie sich engagieren müssen. Ich denke, dass die Proteste weitergehen werden, dass die Forderungen klar sind und dass es Rücktritte korrupter Politiker geben muss. Zu viele haben ihre persönlichen Interessen über die des Landes gestellt. Ein wichtiger Faktor ist auch die internationale Aufmerksamkeit. Der Druck nimmt zu.

Guatemala ist ein Land des nördlichen Dreiecks, wichtigster Alliierter der USA dort. Sanktionen, die Sie für wahrscheinlich halten, treffen aber oft nicht die Verantwortlichen, sondern meist die Bevölkerung. Die emigriert ohnehin Jahr für Jahr zu Zehntausenden – sehen Sie einen Ausweg?

Es ist richtig, dass Sanktionen meist die einfache Bevölkerung treffen, aber sie sind alternativlos, wenn man die Regierungen dieser Länder zum Umdenken ihrer Positionen bewegen will.

Sie befinden sich in den USA. Sind Sie ein Kandidat für die Antikorruptions-Kommission, werden Sie diese beraten oder ein Amt übernehmen?

Zuerst einmal muss ich meinen Status in den USA klären und danach ein Job suchen. Mir ist wichtig die Arbeit meiner Kollegen in der FECI zu unterstützten – auf welchem Weg auch immer. Dazu gehört es auch ihnen den Weg ins Exil zu erleichtern.

Konnten Sie mit Ihrer Familie ausreisen?

Nein, sie befindet sich noch in Guatemala und auch das macht mir Sorgen.