Wie wird die Energiewirtschaft zukunftsfest?

Tagungsdokumentation

Konferenz "Baustelle: Zukunftsfeste Industrie #3". Zweiter Konferenztag, 1. Juni 2021. Impuls-Vortrag von Dr. Patrick Graichen und Panel-Gespräch mit Antje von Broock, Daniel Friedrich, Holger Lösch und Oliver Krischer, MdB. 

Baustelle: Zukunftsfeste Industrie

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Die Sektorenkopplung mit Ökostrom ist neben Energieeffizienz und Energieeinsparen zentral für Emissionsminderungen im Industriebereich. Die Energieversorgung muss verlässlich, bezahlbar und sicher sein.

Impuls-Vortrag

Dr. Patrick Graichen, Agora Energiewende

 

Zusammenfassung

Die Energiepolitik muss fünf Ansätze verfolgen, um die Energiewirtschaft zukunftsfest zu machen und in den Dienst klimaneutralen Wirtschaftens zu stellen: massiver Ausbau der Erneuerbaren, Steigerung der Energieeffizient, mehr direkte Elektrifizierung, grüner Wasserstoff und CCS für Restemissionen. Graichen sagte: „Wir brauchen ein Sofortprogramm in den ersten 100 Tagen der neuen Regierung, das eine Dynamik an Investitionen entfesselt, um Ziele bis 2030 möglich zu machen“.

Das Ziel: Klimaneutralität bis 2045

Der Energiesektor, genauer gesagt: der Stromsektor ist Dreh- und Angelpunkt für eine klimaneutrale Industrie und Gesellschaft. Patrick Graichen, Direktor von Agora Energiewende, erörterte in seinem Impulsvortrag die Baustellen in der Energieindustrie und wie diese behoben werden können, damit Deutschland bis spätestens 2045 klimaneutral wird.

Patrick Graichen bezog sich in seinem Vortrag auf die Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“  von Agora Energiewende, Agora Verkehrswende und der Stiftung Klimaneutralität. Die Studie beschreibt, wie Deutschland bei fortgesetztem Wirtschaftswachstum, unter Berücksichtigung der Kosten und der Akzeptanz in der Bevölkerung, bereits im Jahre 2045 Klimaneutralität erreichen kann.

Erneuerbare Energie wird die fossilen Primärenergieträger ersetzen. Erneuerbarer Strom für elektrische Anwendungen wird die Hauptenergieform der Energiewirtschaft.

Graichen stellte fünf Ansatzpunkte vor, wie eine klimaneutrale Energiewirtschaft auf Basis von Erneuerbaren Energien (EE) zur zukunftsfesten Industrie beiträgt:

 

  1. Massiver Ausbau der EE, um genügend erneuerbaren Strom für Verkehr, Gebäude und Industrie bereitstellen zu können.
  2. Steigerung der Energieeffizienz, so dass der Primärenergiebedarf bis 2045 halbiert wird.
  3. Mehr direkte Elektrifizierung bei Anwendungen in der Industrie, beim Heizen und im Verkehr.
  4. Nicht-elektrifizierbare Bereiche auf „grünen“ Wasserstoff umstellen. Dieser trägt als Rohstoff und Energieträger zu klimaneutraler Produktion in der Industrie bei.
  5. Für Restemissionen, etwa bei der Zementherstellung und in der Landwirtschaft, kommt CCS zum Einsatz.

 

All dies geschieht bei einem gleichzeitig beschleunigten Kohleausstieg bis 2030 und einem zügigen Erdgasausstieg bis 2040. Treiber dafür sind steigende CO2-Preise und ambitionierte EU-Klimaziele.

Panel-Gespräch

mit Antje von Broock (Bundesgeschäftsführerin BUND), Daniel Friedrich (Leiter des IG-Metall-Bezirks Küste), Holger Lösch (stellvertretender Hauptgeschäftsführer des BDI) und Oliver Krischer, MdB (stellvertretender Fraktionssprecher von Bündnis 90/ Die Grünen im Deutschen Bundestag)

 

Zusammenfassung

Die Panelist:innen waren sich einig, dass der Energiesektor zentral für die klimaneutrale Industrie ist. Sie teilten die Analyse von Patrick Graichen bezüglich der zentralen Weichenstellungen. Bei den Rahmenbedingungen und den Instrumenten zur Umsetzung des Transformationsprozesses gingen die Meinungen auseinander.

Alle Panelist:innen teilten die Einschätzung, dass die Prioritätensetzung der Bundesregierung in der Energiepolitik unzureichend ist, obwohl die tatsächlichen Anforderungen lange bekannt sind.

Energie effizienter und sparsamer nutzen

Antje von Broock wies darauf hin, dass im Energiesektor massive Änderungen notwendig seien. Sie sagte deutlich, dass man nicht weitermachen könne wie bisher. Effizienz- und Suffizienzmaßnahmen, um den Energieverbrauch insgesamt massiv zu senken, seien eine dringende Notwendigkeit.

Oliver Krischer forderte, das veraltete Strommarkt-Design in Deutschland an die neue Phase der Energiewende anzupassen. Als die Eckpfeiler der zukünftigen Energieversorgung nannte er Wind- und Solarenergie, die in ein dezentrales und überregional vernetztes europäisches Verbundsystem eingebettet sind. Übereinstimmend mit Antje von Broock betonte Oliver Krischer die Wichtigkeit von Effizienz- und Suffizienzmaßnahmen und die Elektrifizierung aller Anwendungen, in Industrie, Gebäudewärme und Mobilität, bei denen dies möglich ist.

Daniel Friedrich machte deutlich, dass die Transformation des Energie- und Industriesektors mit dem Erhalt und dem Zuwachs an „guten“ und tariflich abgesicherten Arbeitsplätzen einhergehen muss. Daher forderte er den Aufbau einer neuen Offshore-Windindustrie in Deutschland, die eine entscheidende Rolle für den Aufbau zunftsfester Arbeitsplätze spiele und für die Erreichung der Ausbauziele bei Wind insgesamt dringend notwendig sei.

Antje von Broock sagte, der Ausbau der EE gelinge nicht nur mit einzelnen Großprojekten (z.B. Offshore-Windparks). Sie plädierte für dezentrale, verbrauchsnahe Lösungen beim Ausbau der EE, weil das zugleich den Stromnetzausbau verringere und Akzeptanz schaffe. Es sei wichtig, die Energiewende wieder als Gemeinschaftsprojekt zu begreifen und Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Kommunen an der Planung zu beteiligen.

Erwartungen an die Wasserstoffwirtschaft

Eine funktionierende Wasserstoffinfrastruktur, mit Erzeugungsanlagen und Transportwegen (Pipelines, Lkw, Schiff) ist die Voraussetzung dafür, dass in Deutschland eine Wasserstoffwirtschaft entsteht. Holger Lösch plädierte für einen pragmatischen, technologieoffenen Ansatz, damit der Markt hochlaufen kann. Die kostengünstige und sichere Verfügbarkeit von CO2-neutralem Wasserstoff seien entscheidende Standortfaktoren. Der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft bringe große Zukunftschancen für die deutsche Industrie mit ihrem starken Anlagen- und Maschinenbau.

Antje von Broock verwies darauf, dass man sich in Deutschland auf den EE-Ausbau konzentrieren sollte. Damit könnte die Importabhängigkeit für Wasserstoff verringert werden. Nur Wasserstoff, der mit Erneuerbaren Energien hergestellt werde, sei wirklich grün. Antje von Broock erwartet, dass der importierte Wasserstoff nicht aus Übersee kommt, sondern aus dem innereuropäischen Handel.

Die Zukunft der Gasnetze wurde unterschiedlich bewertet. Holger Lösch beschrieb das bestehende Erdgasnetz als Entwicklungspunkt für ein perspektivisches „grünes Gasnetz“, insbesondere für die energieintensiven Unternehmen. Dafür forderte er eine angepasste Regulierung wie die Aufhebung der Trennung von Gas- und Wasserstoffnetzen und den Abbau von Netzentgelten und EEG-Umlage für die Industrie.

Oliver Krischer sprach zwar Teilen des bestehenden Erdgasnetzes ebenfalls eine Weiternutzung zu, wenn in Zukunft genügend kostengünstiger Wasserstoff zur Verfügung stehen wird. Bis dahin sieht er aber die Priorität der Wasserstoffversorgung klar in der Industrie, während im Gebäudesektor energetische Sanierungen den Bedarf drastisch senken und Nahwärmeversorgung und elektrische Heizungen dominieren werden. In diesem Zug machte Antje von Broock deutlich, dass hinsichtlich der Stromnetze ein verbrauchsnaher Ausbau der EE bundesweit den Druck auf die Netze mindern würde. Zusammen mit einem moderaten, dezentralen Netzausbau ist dies nicht teurer als die aktuelle Netzertüchtigungsplanung mit großen Trassen.

Erwartungen an CO2-Bepreisung

Die Rolle der CO2-Bepreisung wurde von den Panelist:innen unterschiedlich bewertet. Während Holger Lösch ausweichend auf ein vernünftiges, einheitliches europäisches System verwies und vor den ökonomischen und sozialen Herausforderungen warnte, wurde Oliver Krischer deutlich konkreter: Er stellte klar, dass zur Wahrheit eines marktbasierten CO2-Preises („der alles regelt“) auch die Nennung einer Höhe gehöre, die sich an den wissenschaftlich berechneten 180 €/tCO2 orientiert. Erst in dieser Größenordnung entfaltet ein CO2-Preis seine regelnde Wirkung, vor allem im Industrie- und Verkehrssektor. Wird dies nicht anerkannt, müsse man über andere Instrumente zur Emissionsminderung reden, so Krischer, und verwies auf die von seiner Partei geforderten 60 €/tCO2,der Teil eines breiteren Policy-Mix ist.

Die Panelist:innnen waren sich einig, dass der Kohleausstieg vor 2038 kommt, weil die Preise im EU-Emissionshandel anziehen und auch die Ziele der Bundesregierung faktisch einen früheren Kohleausstieg bedeuten.

Frage aus dem Publikum

Aus dem Publikum wurde gefragt, welche Rolle der Staat in den Innovations- und Investitionsprozessen spielen sollte, die ein klimafreundliches Wirtschaften voranbringen. Während Daniel Friedrich sich in der Frage der Rolle des Staates nicht festlegen wollte und dies als „Geschmackssache“ bezeichnete, hob er die Wichtigkeit von langfristigen Investoren hervor.

Holger Lösch forderte grundsätzlich umfangreiche staatliche Investitionsprogramme bei Wahrung der Freiheit der Unternehmen. Gleichzeitig warnte er vor dem Glauben, der Staat könnte immer aus eigener Zahlungskraft die Lücken zur Wirtschaftlichkeit finanzieren und forderte kluge Regulierung, Bepreisung und Anreize.

Take-Aways

  • Holger Lösch sprach sich in Fragen der zukunftsfesten Industrien klar für globales Denken und Technologieoffenheit aus. Er forderte eine neue Regulierung der Gasnetze und Abbau von Belastungen der Industrie.
  • Daniel Friedrich fokussierte den Aufbau einer neuen Windindustrie in Deutschland und der EU, um gute zukunftsfeste Arbeitsplätze schaffen und erhalten zu können.
  • Antje von Broock forderte mehr Beteiligungs- und Teilhabemöglichkeiten für Bürger:innen und Kommunen, um die Energiewende wieder erfolgreich voranbringen zu können. Hauptaufgaben im Transformationsprozess sieht sie im ökologisch verträglichen, massiven, dezentralen Ausbau der EE sowie in Suffizienz- und Effizienzmaßnahmen.
  • Oliver Krischer forderte von der aktuellen Regierung ein Ende der Verzögerungen der Energiewende. Um das Ziel der rechtzeitigen Klimaneutralität in Deutschland zu schaffen, müssen jetzt die bereits bekannten Lösungen umgesetzt werden, wobei er massiven Reformierungsbedarf sieht, als Aufgabe einer neuen Regierung.