Verhandeln! Aber nicht mit Lukaschenko

Interview

Zum ersten Mal hat Swetlana Tichanowskaja am 9. April 2021 Fragen von Belarus:innen in einer Livestream-Sendung beantwortet. Die Repressionen gehen weiter, die großen, sichtbaren Protestaktionen scheint das Regime vorerst eingedämmt zu haben. Um so mehr interessiert, wie Swetlana Tichanowskaja, nach wie vor die wichtigste Figur der belarusischen Demokratiebewegung, die Lage und ihre Perspektive einschätzt. Das Medienportal „The Village Belarus“ hat ein Transkript des Livestreams mit den wichtigsten Gesprächspassagen erstellt, dass die Heinrich-Böll-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Initiative „Stimmen aus Belarus“ übersetzt hat und an dieser Stelle dokumentiert.

Screenshot: Swetlana Tichanowskaja - im Livestream
Teaser Bild Untertitel
Exil-Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja im Dialog mit Belarus:innen

Exil-Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja im Dialog mit Belarus:innen

Wie sieht der Plan aus?

Swetlana Tichanowskaja: Der Plan ist, zu gewinnen. Doch weil sich fast alle demokratischen Kräfte im Ausland befinden, ist unser Aktionsfeld viel eingeschränkter, als wenn wir in Belarus wären. Andererseits, wenn wir in Belarus wären, zumindest ich, wäre ich jetzt definitiv im Gefängnis. Stattdessen bin ich hier. Und von hier aus kann ich für die Mobilisierung unserer internationalen Partner sorgen, die Tagesagenda beeinflussen, Erklärungen abgeben, Gespräche mit Regierungsvertretern unterschiedlichster Länder führen. Außerdem helfen wir dabei Strukturen innerhalb von Belarus aufzubauen, was von Belarus*innen selbst nachgefragt wird und wo wir als eine Art Bindeglied zwischen den Aktivisten fungieren, was ein vorsichtiges Vorgehen erfordert. Außerdem sind wir weiterhin dabei, unter vollständiger Geheimhaltung Kontakte zu Staatsbeamten in Belarus aufzubauen.  

Reagieren die Beamten auf die Kontaktversuche? Wovor haben sie Angst?

Der Prozess ist im Gange. Nicht sehr aktiv, weil das Gefühl der Angst in Belarus gerade vorherrscht. Doch die Kontakte gibt es. Alles geschieht unter strengster Geheimhaltung. Wir erhalten ständig Informationen aus den verschiedenen Ministerien zur Lage der Dinge, sowie aus dem Sicherheitsapparat mit Hilfe von BYPOL[3], sie haben sehr gute Verbindungen. Wir sind also darüber informiert, was da vor sich geht. Und wir sehen auch, dass dabei von keiner Einheit, die das Regime so gerne propagiert, die Rede sein kann. Wir alle sind Belarus*innen und wir verstehen, dass wir den Wandel brauchen. Alle würden gerne diese Krise hinter sich lassen. Obwohl es die Repressionen gibt und die Menschen sehr große Angst haben, geben sie nicht auf. Und ich bin mit meiner ganzen Kraft mit Euch.   

Die Menschen haben sehr viel Angst, sich an friedlichen Protestaktionen zu beteiligen. Was tun?

Es ist notwendig sich weiterhin unterschiedlichsten Initiativen anzuschließen, die von Menschen immer wieder selbst entwickelt werden. Man muss es im Geheimen tun, im Untergrund, mit Methoden von Partisanen. Leider sind wir gezwungen so vorzugehen, weil das Gesetz in unserem Land praktisch nicht existent ist. Man muss auf der „Golos“ Plattform abstimmen. Die Initiativen zum Boykott von Produkten unterstützen, dies wird vor allem dazu beitragen, die finanzielle Situation der „Geldbeutel des Regimes“ zu verschlechtern. Verlassen Sie regierungsnahe Gewerkschaften und treten sie unabhängigen Gewerkschaften bei. Wann immer möglich, beteiligen Sie sich an großen und kleinen Straßenaktionen. Zeigen Sie mit Symbolen und Zeichen, dass wir viele sind, dass wir da sind, das gibt uns das Gefühl der Einheit zurück, welches wir alle gerade so sehr brauchen. Sehr wichtig ist das Schreiben von Briefen an politische Gefangene, denn man redet denen dort ein, dass sie von allen vergessen wurden und niemand mehr kämpft. Sie sollen wissen, dass das nicht wahr ist. Die Familien von politischen Gefangenen und jener, die aus politischen Gründen festgenommen wurden, müssen unterstützt werden. Niemand verurteilt Menschen oder verlangt von ihnen, dass sie etwas tun, was sie nicht leisten können. Aber jeder kleine Schritt derer, die heute in Belarus sind, ist sehr wertvoll.

Haben Sie Kontakt zu ihrem Mann und wie oft?

Bemerkung des Moderators: Eine Frage, die an 45 Mal gestellt wurde.

Über die Anwälte. Wir können uns einige Nachrichten zukommen lassen, Briefe austauschen, Rückmeldung erhalten. Ein- bis zweimal pro Woche klappt es.

Wie schaffen Sie das alles?

Unsere Frauen waren schon immer sehr stark, es ist nur so, dass ihr Männer es nicht bemerkt habt, dass wir eine ganze Menge können (lacht). Wenn eine Frau in einer solche Situation gerät, in der sie sehr viel leisten muss – arbeiten, sich um die Kinder kümmern, die Belarus*innen inspirieren – dann packst du es an und tust es einfach.

Wie stehen sie zu der Partei „Wmeste[4] und zu der Parteigründungsiniative von Latuschko[5]. Haben Sie selbst vor eine Partei zu gründen?

Eine Partei werde ich ganz bestimmt nicht gründen. Davon abgesehen sind Parteigründungen ein ganz normaler Vorgang für einen Zusammenschluss von Gleichgesinnten. Für die Belarus*innen ist das eine mobilisierende Kraft. Es ist nichts Schlechtes daran, dass Parteien gegründet werden. Unsere Aufgabe besteht darin, eine normale politische Atmosphäre zu schaffen, damit Parteien sich normal entwickeln und miteinander konkurrieren können, so wie es in ganz normalen demokratischen Ländern geschieht.

Wir sehen ständig Franak Wjatschorka und ein paar andere Leute aus Ihrem Team. Wer sind all die anderen Leute? Wie viele Leute arbeiten im Büro von Swetlana Tichanowskaja?

Eine genau Zahl werde ich Euch nicht nennen, doch die wesentlichen Mitglieder des Büros sind auf der offiziellen Webseite zu sehen. Ich denke, wir werden mal eine Livestream-Sendung veranstalten: die Vorstellung des Teams von Tichanowskaja.

Wann wird Ihre Inauguration stattfinden?

Eine Inauguration kann ich mir vorstellen. Doch ich stelle sie mir in Belarus vor, für Belarus*innen und vor Belarus*innen.

Es gibt das Gerücht, sie hätten sich eine Katze angeschafft.

Eine Katze habe ich mir nicht angeschafft. Aber Hamster und Schnecken sind da, für die Kinder.

Etwas später reagiert der Moderator des Gesprächs auf die empörten Kommentare der Belarus:innen zu der Livesendung im Stil von: „Was soll das mit der Katze?. Moderator: „Wir wussten 26 Jahre lang nicht, wie die Menschen leben, die im Land die Macht ergriffen haben. Und wissen es jetzt immer noch nicht. Und wenn jemand über einfache, alltägliche Dinge sprechen kann, genau da offenbart er sich. Deshalb ist es wichtig, dass Sie [die Zuschauer] alles erfahren, wonach Sie fragen.

Wie sehen Sie die Zukunft des belarusischen Atomkraftwerks?

Mit dem Bau wurde begonnen, ohne die Belarus*innen danach zu fragen, wie üblich. Und es ist nicht klar, wie es überhaupt gebaut wurde. Es geschah ohne die Aufsicht von internationalen Organisationen. Zunächst einmal muss das alles nachgeholt werden. Es ist eine Frage der Sicherheit, nicht nur für Belarus, sondern für die gesamte Region. Es muss sichergestellt werden, dass der Bau selbst den Normen entspricht. Wenn das sicher ist, hat es eine Existenzberechtigung. 

Was geschah bei der Wahlkommission (FN)? Wann werden Sie es erzählen?

Nach dem Sieg werde ich alles erzählen.

Wie steht es um die Verhandlungen? Mit wem hoffen Sie diese führen zu können und was wird Gegenstand der Verhandlungen sein?

Zunächst müssen wir soweit kommen, dass die Verhandlungen selbst überhaupt stattfinden. Und damit sie beginnen, müssen wir den Druck auf das Regime erhöhen. Vor Verhandlungen gibt es immer eine Phase des Dialogs beziehungsweise der Expertenkonsultationen. Genau deshalb sind unsere internationalen Freunde derzeit auf der Suche nach verhandlungsfähigen Vertretern des Regimes, denn Lukaschenko selbst ist nicht verhandlungsfähig. Wenn wir von Verhandlungen sprechen, hat niemand Lukaschenko im Sinn. Wir müssen nach Leuten suchen, die verstehen, dass man das Land aus der Krise führen muss, statt ein verbranntes Feld zu hinterlassen. Wir brauchen starke Vermittler. Es ist klar, dass das Regime nicht auf direkte Verhandlungen mit der belarusischen Gemeinschaft eingeht. Deshalb suchen wir nach Wegen über internationale Organisationen, damit sie als Vermittler tätig werden. Doch der eigentliche Dialog muss zwischen dem Regime und der Gemeinschaft der Belarus*innen stattfinden, nicht mit der Europäischen Union, das ist der einzige Weg. Wir brauchen Garantien, dass die bei den Gesprächen getroffenen Vereinbarungen am Ende auch eingehalten werden. Wir wurden schon oft genug betrogen. Und Garantien können uns die großen Länder geben: Deutschland, Frankreich, USA, Russland. Aber ich erinnere daran, die Hauptbedingung, ohne die keine Verhandlungen stattfinden werden, ist die Freilassung von politischen Gefangenen.
 

Screenshot: golos2020.org
Screenshot Webseite „Golos“ mit dem aktuellen Stand (22.04.2021) der Abstimmung unter dem Titel: „Wir verlangen mit Verhandlungen zu beginnen“. Ein wichtiges Thema bei dem Livestream mit Tichanowskaja sind die Verhandlungen mit dem Regime. Am 18. März 2021 hat Tichanowskaja die Belarus:innen aufgerufen auf der bekannten Internetplattform „GOLOS“ darüber abzustimmen, ob mit dem Regime verhandelt werden soll, vor allem aber, solche Verhandlungen zu verlangen. Am Tag darauf hat das belarusische Informationsministerium den Zugang zur Webseite auf dem Gebiet der Republik Belarus blockiert. Mit dem Stand 21.04.2021 haben über 780 Tausend Personen abgestimmt, 773 Tausend für Verhandlungen als einen friedlichen Weg aus der politischen Krise. Quelle: https://golos2020.org/dialog. Zum Thema siehe auch: https://web.facebook.com/Belarusstimmen/posts/435083984143751

Und wenn es keine Verhandlung geben wird, wie sieht Ihr Plan dann aus?

Was soll das heißen, es wird keine geben? Wir tun alles, was wir können, um sie zu ermöglichen. Wir werden nicht aufhören Druck auf das Regime auszuüben. Denken Sie daran, was Maria Kolesnikowa gesagt hat. Wir dürfen nicht aufgeben. Egal, wie sich die Dinge entwickeln, das Stadium der Verhandlungen werden wir nicht überspringen können. Wenn das Regime irgendein Spiel spielt und den illegitimen Präsidenten durch eine andere Person ersetzt, werden die Menschen das auch nicht akzeptieren. Es ist notwendig alles mit den Belarus*innen abzusprechen, damit sie wissen, dass eine bestimmte Person ihr Land für eine kurze Zeit regiert, denn Neuwahlen sind unvermeidlich. Verhandlungen wird es geben!

Wird es einen Zusammenschluss von Olga Karatsch, Igor Makar und Ihnen geben?

Ich hatte fast mit allen meinungsführenden Persönlichkeiten einen direkten persönlichen Austausch, auch mit Olga und Igor, sie haben meine direkten Kontakte. Wenn Sie von einem Zusammenschluss sprechen, verstehe ich nicht ganz, was sie damit meinen. Wir haben ein Ziel: Neuwahlen. Und wenn wir auf dem Weg zu diesem Ziel unterschiedliche Wege gehen, ist das keine schlechte Sache, denn so haben wir unterschiedliche Möglichkeiten Druck auf die Machthaber auszuüben. Wir sind viele, wir unterscheiden uns, von einer Spaltung kann keine Rede sein. Wir haben bloß unterschiedliche Methoden. Und darin besteht unsere Stärke.

Etwas später antwortete Tichanowskaja, dass sie auch mit Pawel Latuschko ständig in Kontakt steht und sie sich ständig über das Erreichen des gemeinsamen Ziels austauschen.

Steht ein Treffen mit Wladimir Selenskij auf der Tagesordnung?

Ein solches Treffen wird gerade diskutiert.

Was sehen Sie sich im Internet an? Woher beziehen Sie Ihre Informationen?

Für das Internet habe ich nicht viel Zeit, deshalb sehe ich da vor allem die Nachrichtenkanäle durch und versuche auf persönliche Nachrichten auf Instagram zu reagieren. Ansonsten werden Informationen und Nachrichten für mich gebündelt zusammengestellt, um meine Zeit zu sparen.  

 Wird es ein Treffen mit dem US-Präsidenten geben? Wann?

Wir stehen in Kontakt mit Washington. Das größte Hindernis für das geplante Treffen ist leider Covid. Viele Auslandsreisen werden deshalb abgesagt oder verschoben. Wir sind auch ständig in Kontakt mit der US-Botschafterin für Belarus, Julie D. Fisher, und erfahren von ihr viele Neuigkeiten.

Geht es denn voran?

Es geht voran.

Macht Sie das, was Sie vom Fortschritt der Dinge erfahren, optimistisch?

Natürlich tut es das. Schauen Sie doch, alle demokratischen Länder der Welt sind auf unserer Seite, praktisch alle. Sie verstehen wofür wir kämpfen und unterstützen uns auf jede erdenkliche Weise. Natürlich, weil es unser Land und unser Schmerz ist, wollen wir auch, dass sie mehr dafür tun. Leider waren die Sanktionen nicht so umfassend, wie wir es uns gewünscht haben. Aber wir arbeiten daran, dass die EU eine vierte Sanktionsliste verabschiedet. Die Vereinigten Staaten erneuern gerade ihre Sanktionsliste. Die Arbeit ist im Gange. Das passiert nicht von heute auf morgen.

Ich sage immer: denkt nicht in Bildern. Als es die großen Demonstrationen gab, ging das Bild um die Welt und alle bewunderten es. Gerade können die Menschen aufgrund von brutalen Repressionen nicht in einer so großen Zahl auf die Straßen gehen. Das Regime versucht damit zu zeigen, alles sei ruhig und gut. Aber so ist es nicht. Die Repressionen nehmen zu, die Menschen leiden, sie haben Angst auf die Straße zu gehen, sie haben Angst, dass sie Zuhause aufgesucht werden. All das ist für die Weltgemeinschaft im Moment nicht so offensichtlich. Man muss sie ständig daran erinnern. Alles geht weiter und den Belarus*innen geht es immer noch schlecht. Und das funktioniert auch. Leider ist die Europäische Union ein großer bürokratischer Apparat, damit die Entscheidungen getroffen werden, braucht es viele Abstimmungen. Aber wir hören nicht auf, wir üben weiter Druck aus, damit sie das Regime unter Druck setzen. 

Wann werden Sie härter?[6]

Ich musste erst lernen, härter zu werden, weil ich von Natur aus ein sehr weicher und freundlicher Mensch bin. Als Sergej sagte, dass man härter sein muss, meinte er vor allem die Härte in der Rhetorik. Das gilt für die internationale Politik. Früher habe ich gebeten, „bitte, schauen sie doch, es geht uns sehr schlecht, jetzt fordere ich einfach. Denn es ist nicht nur eine Herausforderung für Belarus*innen, sondern auch für euch, steht für die Werte ein, die ihr proklamiert: Menschenrechte, Menschenwürde, das Recht zu wählen, das Recht eine Stimme zu haben. Niemand bittet euch darum sich in die Innenpolitik einzumischen, das müssen die Belaus*innen selbst tun. Aber steht für eure Werte ein. Darin sehe ich die Härte.

Welchen Nutzen bringt die belarusische Diaspora? Nur Bildchen im Internet?

Zuallererst möchte ich die Diaspora grüßen, all die Gemeinschaften von Belarus*innen denen ich bereits begegnet bin und jene, die ich noch nicht getroffen habe. Die Arbeit der Diaspora besteht nicht aus Bildern im Internet. Sie helfen dabei, die Streikkomitees, die Familien von politischen Gefangenen und die politischen Gefangenen selbst finanziell zu unterstützen. Alle Flashmobs und Solidaritätsaktionen in anderen Städten sind sehr wichtig, weil sie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Medien auf das Problem von Belarus lenken. Außerdem spielt die Diaspora eine wichtige Rolle dabei, Druck auf die Regierungen jener Länder auszuüben, in denen sie leben, damit wir für diese Regierungen ein Thema bleiben und sie aktive Maßnahmen ergreifen. Und tatsächlich ist das eine sehr wichtige Arbeit.

Ist es möglich, dass Sie nach Belarus in Begleitung einer Delegation der UN, der OSZE oder eines der EU-Präsidenten zurückkehren?

Der Moderator merkt an, dass diese Frage an die 700 Mal im Live-Chat der Sendung gestellt wurde.

Ein solcher Plan wird entwickelt. Doch leider sehen wir, dass eine Situation eintreten kann, wo beispielsweise ich ins Land gelassen werde, die Delegation aber nicht. Man muss verstehen, dass sie eine Möglichkeit finden werden uns zu betrügen.

Sind Sie bereit, den Sicherheitskräften zu vergeben, wenn sie Lukaschenko verhaften, aber ihre Hände mit Blut befleckt sind? Und glauben Sie, die Belarus*innen wären bereit zu vergeben?

Das sind sehr viele Bedingungen! Wir müssen diese Frage den Belarus*innen selbst stellen. Das ist eine dieser Fragen, die für Spaltung sorgt, die keine eindeutige Antwort hat. Es gibt sehr viel „aber, sehr viele Voraussetzungen. Der Koordinierungsrat hat eine Konzeption zur nationalen Versöhnung entwickelt, da kommt auch die Vergebung zu Sprache. Doch Menschen, die schwere und besonderes schwere Verbrechen begangen haben, können wir nicht vergeben. Sie müssen trotzdem in einem fairen Prozess vor Gericht gestellt werden. Und die Bedingungen, die in der Frage formuliert sind, sind ein Spezialfall, würde ich sagen.

Hatten Sie in all der Zeit nicht den Gedanken vielleicht doch [wieder] sich zur Wahl aufstellen zu lassen, im Sinne von „vielleicht schaffich das ja?

Ich bin mir sicher, dass ich das kann. Aber ein solcher Gedanke ist mir noch nicht gekommen, denn ich habe den Menschen versprochen, dass mein Mandat sich auf die Durchführung von Neuwahlen beschränken soll. Aber nach all den Erfahrungen, die ich gesammelt habe, bin ich mir sicher, dass ich für Belarus nützlich sein kann und ich den Belarusen so lange zur Seite stehen werde, wie es notwendig sein wird. Um für das Land nützlich zu sein, muss man nicht unbedingt Präsident sein. 

Was ist zu tun, wenn wir im Verlauf des Frühlings oder des Sommers gewinnen?

Leute, ich sage immer, wir haben bereits gewonnen. Jetzt sind wir einfach gezwungen unseren Sieg zu verteidigen. Wir haben unsere Angst und unsere Unsicherheit besiegt, wir haben begriffen, dass wir für unser Land verantwortlich sind, dass wir diesem Mann, der sich mit Gewalt an der Macht hält, nicht mehr vertrauen. Ja, wir sind gerade gezwungen unseren Sieg zu verteidigen und das werden wir auf jeden Fall schaffen. Die Frage ist nur noch, wie schnell das gehen wird und wie viele Opfer das Regime bereit ist zu bringen, um an der Macht zu bleiben.

Wo ist die Parole „Lukaschenko muss weg“ abgeblieben?

Lukaschenko muss weg.

Warum hat [das norwegische Chemieunternehmen] Yara den Vertrag mit "Belaruskali" immer noch nicht gekündigt?

Wir stehen recht oft mit Yara in Kontakt. Zu diesem Zeitpunkt haben sie entschieden, dass eine weitere Zusammenarbeit mit Belaruskali ihnen zumindest die Möglichkeit gibt, die Situation vor Ort im Blick zu behalten. Wenn die Repressionen im Werk weitergehen, dann werden sie den Vertrag revidieren. Gerade achten sie bei „Belaruskali“ besonderes auf die Fragen der Sicherheit, der Arbeitssicherheit. So ist ihre Position zur Zeit.

Wer wird im Namen der Belarus*innen im Falle von Verhandlungen mit dem Regime sprechen?

Tichanowskaja stellte diese Frage an sich selbst, weil sie meinte nicht darauf geantwortet zu haben und dachte, dass es die Menschen wahrscheinlich interessieren würde.

Dieses Thema wird mit dem Koordinierungsrat diskutiert, der selbst ursprünglich als Plattform für einen Dialog geschaffen wurde. Gerade heute haben wir versucht Kriterien festzulegen, nach denen die Personen als Verhandlungsführer nominiert werden. Natürlich werden wir aus Sicherheitsgründen bis zuletzt keine konkreten Namen nennen… Und so habe ich mir selbst also eine Frage gestellt, die ich nicht beantworte (lacht).

Woher kommen die finanziellen Mittel für ihr Leben in Europa?

In Litauen habe ich den Status eines Staatsgastes. Die Unterkunft und den Schutz stellt mir der [litauische] Staat. Und die Mitglieder meines Teams, das Büro arbeitet mit der Unterstützung von Stiftungen und privaten Spenden aus Belarus. Da ich eine Mitarbeiterin des Büros bin, bekomme ich mein Gehalt zu allgemeinen für alle geltenden Bedingungen.

Übersetzt aus dem Russischen für die Heinrich-Böll-Stiftung und die „Stimmen aus Belarus“ von Wanja Müller


[1] Die vollständige Sendung mit Tichanowskaja auf Youtube

[3] BYPOL - Zusammenschluss von Ex-Mitarbeitern des belarusischen Sicherheitsapparts im Exil mit Sitz in Warschau.

[4] Zu Deutsch „Zusammen“, Belarusisch: „Rasam“. Initiert wurde die Parteigründung von „Wmeste“ aus dem Umfeld des inhaftierten Bewerbers aufs Präsidialamt Wiktar Babariko. Maria Kolesnikowa, die ehemalige Leiterin des Wahlkampfstabes von Babariko, die im September 2020 in Belarus ebenfalls inhaftiert wurde, ist eine Mitinitiatorin.

[5] Pawel Latuschka, belarusischer Politiker und Diplomat, ehemaliger Kulturminister (2009-2012), Leiter des belarusischen Nationaltheaters Janka Kupala, der Kritik und Prortest gegen Wahlfälschungen und Polizeigewalt entlassen wurde. Er ist Mitglied im Präsidium des Koordinierungsrats der belarusischen Opposition und leitet das Nationale Antikrisis-Management (NAU). NAU vereint belarusische Experten und ehemalige belarusische Beamte, die den Transit in unterschiedlichen Politikfeldern für die Post-Lukaschenko Zeit vorbereitet. Am 8. April 2021 gab Pawel Latuschka bekannt eine Partei gründen zu wollen.

[6] „Man muss irgendwie härter sein“ - diesen Rat gibt Sergej Tichanowskij seiner Ehefrau Swetlana am 11. Oktober 2020, als sie zum ersten Mal die Gelegenheit für telefonischen Kontakt nach seiner Inhaftierung im Mai 2020 hatten.