Das Warten auf eine Europäische Lösung

Hintergrund

Mit dem von der EU-Kommission im September veröffentlichten Migrations- und Asylpaket soll das seit 2015 hart umkämpfte Thema befriedet werden. Doch die verhärteten Fronten zwischen den Mitgliedstaaten konnten auch während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft nicht aufgeweicht werden. Die Verhandlungen werden voraussichtlich noch viel Zeit beanspruchen. Statt weiter auf eine „Europäische Lösung“ zu warten, sollte sich die Bundesregierung mit einer kleinen Koalition williger Staaten in den EU-Außengrenzstaaten weiter engagieren.

Flüchtlingskinder spazieren durch ein Flüchtlingslager.

Am Ende ihrer EU-Ratspräsidentschaft blieb der Bundesregierung nicht mehr als der Hinweis, dass alle Mitgliedstaaten bereit seien, auf Grundlage des von der EU-Kommission vorgelegten Migrations- und Asylpakets weiter zu verhandeln. Die erhoffte politische Einigung blieb aus.

Die Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft waren groß, auch weil die Bundesregierung gewillt schien die mit der großen Flüchtlingszuwanderung 2015 entstandenen Zerwürfnisse auf europäischer Ebene zu kitten. Dass ihr das nicht gelungen ist, hängt nicht nur mit den weiterhin verhärteten Fronten zwischen den Mitgliedstaaten zusammen.

Die deutsche Ratspräsidentschaft wurde insgesamt von den Folgen der Corona-Pandemie und anderen politischen Großbaustellen überlagert. Nachdem die EU-Kommission ihr sehr umfangreiches Bündel an Mittelungen und Gesetzesvorschlägen erst Ende September veröffentlicht hatte, blieben zudem nur zweieinhalb Monate für Verhandlungen.

Viele Elemente des Migrations- und Asylpakts umstritten

Im abschließenden Fortschrittsbericht hat die deutsche Ratspräsidentschaft den Diskussionsstand der Mitgliedstaaten zusammengefasst. Einigkeit besteht hauptsächlich darin, dass die Kooperation mit Drittstaaten und die EU-Außengrenzsicherung künftig gestärkt werden soll, um irreguläre Migration in die EU weiter zu verringern.

Umstritten ist dahingegen der Vorschlag eines neuen flexiblen Solidaritäts- und Krisenmechanismus zur Unterstützung von Mitgliedstaaten, die einem erhöhten Migrationsdruck ausgesetzt sind. Je nach Ankunftszahlen wären alle anderen EU-Mitgliedstaaten verpflichtet sich in unterschiedlicher Weise zu beteiligen. Außer im Fall einer systemischen Krise des Asylsystems, wie im Jahr 2015, würde aber keine direkte Verpflichtung bestehen sich an einer Umverteilung (Relocation) von Schutzberechtigten oder anerkannten Flüchtlingen zu beteiligen.

Als alternative Formen der Solidarität will die EU-Kommission künftig auch Sachhilfen zum Migrationsmanagement oder Leistungen zur Unterstützung von Rückführungen anerkennen. Diese Flexibilität würde migrationsskeptischen EU-Mitgliedstaaten die Möglichkeit bieten, sich an einer Lösung zu beteiligen ohne die eigenen roten Linien zu überschreiten.

Durch die Übernahme sogenannter „Rückführungspatenschaften“ müssten sie die Verantwortung für eine konkrete Person übernehmen, die in einem belasteten Mitgliedstaat einen Ausweisungsbescheid erhalten hat. Sofern die Rückführung dieser Person innerhalb von 6 bis 8 Monaten nicht gelingt, ist der verantwortliche Mitgliedstaat jedoch dazu verpflichtet die entsprechende Person aufzunehmen.

Kein Schlüssel zur Verantwortungsteilung

Was unter anderem für die Visegrád-Staaten und Österreich zu weit geht und als eine „Relocation durch die Hintertür“ kritisiert wird, ist aus Sicht der betroffenen südlichen Mitgliedstaaten (Griechenland, Malta, Italien und Spanien) unrealistisch. Sie haben darauf in einem gemeinsamen Schreiben hingewiesen und die ungleich höheren Erwartungen kritisiert, die der Kommissionsvorschlag ihnen aufbürdet.

In der Tat ist unklar, wie mit Personen verfahren werden soll, deren Identität sich nicht klären lässt, und welche Methoden einzelne Mitgliedstaaten anwenden werden, um Herkunftsländer zu bewegen, bei der Rückübernahme ihrer Staatsangehörigen zu kooperieren. Ein noch härteres Vorgehen als bisher könnte die Kohärenz der EU-Migrationsaußenpolitik erheblich schwächen.

Effektivere Verfahren an den EU-Außengrenzen

Ohne die Zustimmung der südlichen Mitgliedstaaten zum Migrations- und Asylpaket sind jedoch auch die anderen Elemente des Pakets, die auf effektivere Asylverfahren an den EU-Außengrenzen zielen, nicht umsetzbar. Auch wenn die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung die seit Jahren umstrittene und dysfunktionale Dublin-Verordnung ersetzen soll, würde der Ersteinreisestaat für die Durchführung des Asylverfahrens weiterhin grundsätzlich verantwortlich sein.

Die Asylverfahren sollen – im Rahmen der so genannten Screening Verordnung – beschleunigt werden, so dass alle Asylsuchenden und irregulären Migrant*innen innerhalb von fünf Tagen registriert und in aussichtsreiche und wenig aussichtsreiche Asylanträge unterschieden werden. Die Anträge von Asylsuchenden aus Herkunftsländern, deren Anerkennungsraten unter 20 Prozent liegen, sollen in einem vereinfachten Grenzverfahren innerhalb von drei Monate abgeschlossen werden.

Im Fall einer Ablehnung sollen Rückführungen innerhalb weiterer drei Monate organisiert werden. Die Verknüpfung von Asylverfahren mit Grenzkontrolle und Rückführung geht auf einen Vorschlag der Bundesregierung zurück. Dass die Einreise bis zum Abschluss des Grenzverfahrens verweigert wird, kann als eine Externalisierung der Verantwortung innerhalb der EU beschrieben werden, die den Zugang zum EU-Territorium unattraktiver machen soll. Eine Voraussetzung dafür wäre allerdings die Einrichtung weiterer Lager an den EU-Außengrenzen. 

Weitere Lager an den EU-Außengrenzen

Dass sich Außengrenzstaaten für diesen Vorschlag öffnen, erscheint fraglich, solange die Elendslager auf den griechischen Inseln fortbestehen. Das Lager Moria auf Lesbos ist im Herbst abgebrannt, im neuen Zeltlager Kara Tepe müssen die verbliebenen 7.500 Bewohner*innen für einen weiteren Winter unter noch dramatischeren Lebensbedingungen ausharren.

Trotz umfangreicher Angebote der EU-Kommission und anderer Mitgliedstaaten ist es bisher nicht gelungen den humanitären Notstand zu beenden. Die von der EU-Kommission mit Griechenland eingesetzte Task Force hat angekündigt, dass die Erstaufnahmeeinrichtung auf Lesbos erst im Herbst 2021 fertiggestellt sein wird.

Dahinter steht das falsche Kalkül, dass solche Härten notwendig sind um neue Migrationsbewegungen zu verhindern. Die Lager auf den griechischen Inseln sind nicht nur im Hinblick auf die Lebensbedingungen der dort untergebrachten Menschen desaströs. Sie verstärken auch die Wahrnehmung, dass die EU nicht in der Lage ist ein funktionierendes, grundrechtskonformes System der Registrierung von Schutzsuchenden und Verantwortungsteilung zu etablieren. Und das, obwohl die Ankünfte in der EU im Jahr 2020 insgesamt auf einem neuen Niedrigstand sind.

Verantwortung für den Flüchtlingsschutz gerecht werden

Eine problematische Nebenwirkung des langen Wartens auf eine europäische Lösung ist, dass die Schwelle für die mehr oder minder offene Verletzung von Flüchtlingsrechten an den EU-Außengrenzen schrittweise sinkt.

Das lässt sich auch an den mehrfach dokumentierten Zurückweisungen von Flüchtlingen auf hoher See festmachen, bei denen in Griechenland in einigen Fällen mutmaßlich auch die EU-Grenz- und Küstenschutzagentur Frontex beteiligt gewesen sein soll. Derartige Verstöße stellen den Europäischen Flüchtlingsschutz grundsätzlich in Frage und müssen untersucht und künftig durch bessere Kontrollmechanismen verhindert werden.

Eine wichtige Initiative um den Flüchtlingsschutz aktiv zu stärken, kommt von einer kleinen Koalition williger europäischer Staaten. Sie haben sich nach dem Brand von Moria zusammengeschlossen, um Schutzbedürftige aus Griechenland aufzunehmen. Deutschland hat das weit größte Kontingent zugesagt und wird knapp 3.000 Schutzbedürftige übernehmen.

Diese Bemühungen sollten – wie von einer interfraktionellen Gruppe von Bundestagsabgeordneten in einem Weihnachtsappell gefordert – intensiviert werden, auch wenn sie keine langfristigen Reformen auf EU-Ebene ersetzen können.