Wie sieht der «richtige» Naturschutz aus?

Seit Jahren tobt eine heftige Debatte, wie die Natur und ihre Ökosysteme zu erhalten seien – und sie ist noch lange nicht zu Ende.

Naturschützer/innen haben mit vielen Widerständen zu kämpfen – aber auch mit Konflikten in den eigenen Reihen. Jeglicher Konsens, wie denn Natur zu schützen und zu bewahren sei, ist weiter entfernt denn je. Insbesondere im angelsächsischen Raum tobt seit Jahren eine erbitterte Debatte um die (Neu-)Konzeption des Naturschutzes, auch als «great conservation debate» bezeichnet. Am 1. Februar 2012 erschien ein Schlüsseltext, der bis heute die Gemüter erregt. Der Beitrag erlangte Gewicht durch seine pointierte und zugespitzte Position und durch die Person eines der Autor/innen, Peter Kareiva, damals führender Mitarbeiter der einflussreichen und großen Naturschutzorganisation «The Nature Conservancy» (TNC). Der Bezug auf die Idee des Anthropozän ist für den Text fundamental. «Es ist heute unmöglich, einen Platz auf dieser Erde zu finden, der nicht von menschlicher Aktivität gekennzeichnet ist», resümieren die Autor/innen eine der Grundthesen des Anthropozän. Daher laufe der alte Naturschutz mit seinem Bezug auf Wildheit oder einer unberührten Natur einer Chimäre hinterher. Er will etwas bewahren oder gar wiederherstellen, das es gar nicht mehr gibt und nicht mehr geben kann.

Daraus folgt das Programm eines neuen Naturschutzes: «Anstatt Biodiversität um ihrer selbst zu schützen, sollte ein neuer Naturschutz (new conservation) natürliche Systeme stärken, die der grösstmöglichen Zahl von Menschen, und insbesondere den Armen, nützen. … Natur sollte ein Garten sein.» Und dieser Garten sollte zusammen mit Unternehmen bestellt werden. «Statt den Kapitalismus zu beschimpfen, sollten Umweltschützer mit Unternehmen zusammenarbeiten … um den Wert der Beiträge (benefits) der Natur in ihre Operationen und Kultur zu integrieren.»

New conservation will die Natur nicht mehr vor den Menschen schützen, sondern sie intelligent nutzen. Wenn es Natur nicht mehr gibt, dann bleiben dennoch die «Ökosystemleistungen», die natürliche Systeme hervorbringen. Inwertsetzung der Natur ist damit die Perspektive, oder wie es Kathleen ­­McAffe ausdrückt: «Natur zu verkaufen, um sie zu schützen.» Die Ökonomisierung im Naturschutz hatte tatsächlich im vergangenen Jahrzehnt seinen großen Moment. Mit TEEB (The Economics of Ecosystems and Biodiversity) wurde ein globales Programm initiiert, um die «Leistungen» der Natur systematisch zu erfassen, und mit dessen Leiter, dem ehemaligen Banker der Deutschen Bank, Pavan ­Sukhdev, erhielt dieser ökonomische Turn im Umweltschutz einen prominenten und brillanten Fürsprecher. Heute ist Sukhdev Präsident des WWF.

New conservation bezieht seine Attraktivität auch aus dem Frust an der weitgehenden Ergebnislosigkeit des traditionellen Naturschutzes. Die Perspektive, Naturschutz zu einer Einkommensquelle zu transformieren, war attraktiv und elektrisierend. Aber inzwischen ist doch auch Ernüchterung eingekehrt. Der wohl größte Ansatz, Naturschutz auf eine neue ökonomische Grundlage zu stellen, ist im Waldschutz versucht worden. Mit REDD (Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation) sollte die Reduzierung von Entwaldung durch ökonomische Kompensation aufgrund der Bepreisung von CO2 erreicht werden. Als 2019 eine Bilanz von zehn Jahren REDD gezogen werden musste, fiel diese ernüchternd aus. Als «big idea» ist REDD gescheitert: Die Entwaldung der tropischen Wälder konnte nicht gestoppt werden. Die jüngsten Berichte von IPCC und CBD lassen keine Zweifel zu. Der umfassende Niedergang der natürlichen Ökosysteme geht unvermindert weiter. Daran haben weder Weckrufe noch ökonomische Berechnungen etwas geändert: Old und new conservation sind in Erfolglosigkeit vereint.

Die traditionellen Umweltschützer haben natürlich auf die Angriffe des new conservation reagiert, aber sie waren in die Defensive geraten. Aus dieser scheinen sie nun wieder etwas herauszukommen. 2016 meldet sich ein prominentes Urgestein des Umweltschutzes und der Biodiversitätsforschung, E.O. Wilson, eindrucksvoll mit dem Buch «Die Hälfte der Erde» zurück. Er greift Kareiva und andere optimistische Vertreter der Anthropozän-These als «die Unbekümmerten» an und erklärt dies zur gefährlichsten Weltanschauung. E.O. Wilson und andere haben in den vergangenen Jahren dafür geworben, dass Naturschutz auch Sinn macht, wenn die Trennungslinie nicht zwischen unberührter Natur und menschlich transformierter Natur im Anthropozän verläuft. Auch wenn Schutzgebiete nicht Hort einer unberührten Natur sind, so ermöglichen sie doch eine vom Menschen weitgehend unabhängige Entwicklung, deren Dynamik nicht vom Menschen bestimmt wird, nicht auf Produktivität für den Menschen ausgerichtet ist. «Unberührtheit» ist damit nicht unbedingt eine Zustandsbeschreibung, sondern ein Ziel.

Half Earth und ähnliche Initiativen sehen in der Debatte um die neuen strategischen Ziele der CBD eine Chance, die Ausweitung von Schutzgebieten als zentrale globale Strategie gegen die Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens auf dem Planeten zu etablieren. Mit Half Earth ist es gelungen, eine prägnante Formel zu finden. Natürlich wissen Wilson und Co., dass dies keine unmittelbar umsetzbare Forderung ist. Es geht um eine Richtungsbestimmung. Gegen die new conservation postuliert Wilson: «Die lebendige Welt ist in einem beängstigenden Zustand (…). Eine unberührte, wilde Natur ist das angestammte Recht der Bewohner dieser Erde.»

Damit haben sich in der globalen Debatte zwei idealtypische Positionen herausgebildet. Auf der einen Seite die new conservation mit ihren unbekümmerten Optimisten des Anthropozän, die angesichts des proklamierten Endes der Natur die Welt in Gärten und produktive Landschaften verwandeln wollen, und die old conservation, die auf die Ausweitung des klassischen Naturschutzes insistiert. In der Praxis überschneiden sich diese Perspektiven – und das Nebeneinander verschiedener Ansätze ist die Realität. Komplett wird das Bild der aktuellen Debatten aber erst, wenn auch die Rolle von Menschen in Schutzgebieten beachtet wird.

Fast alle größeren Schutzgebiete dieser Welt, insbesondere im globalen Süden, sind durch die ­Präsenz von Menschen geprägt, in den meisten Fällen indigene Völker und traditionelle Gemeinschaften. Dies zu ignorieren ist auch ein zentraler Kritikpunkt am klassischen Umweltschutz, der nicht nur von new conservation vorgebracht wird, sondern seit Jahrzehnten von indigenen Völkern, sozialen Bewegungen und kritischen Forscher/innen vertreten wird.

2004 stellte ein internationales Forum über indigene Gebiete fest, dass Naturschutz die ­größte einzelne Bedrohung für indigenes Land darstellt. Old conservation bedeutete in den meisten Fällen Natur­schutz ohne Menschen. Dies wird heute kaum noch offen verteidigt. So stellt E.O. Wilson zwar lakonisch fest, dass Naturschutz, der auf der Vertreibung von Menschen beruht, ein Fehler war. Aber das reicht nicht. Insbesondere in Afrika ist Naturschutz bis heute davon geprägt, dass er als koloniales Projekt gegen Menschen konzipiert wurde. Auch wenn solche «fortress conservation» heute kaum noch offen verteidigt wird, so ist die Praxis nicht tot. Die heftige Debatte um die Militarisierung des Umweltschutzes etwa in Gebieten der DR Kongo zeigt, dass der Umweltschutz als repressives Projekt noch immer praktiziert wird.

Naturschutz hat keine Zukunft, wenn er gegen die Menschen durchgesetzt wird, die in den betroffenen Gebieten leben. Das heißt auch, dass eine unberührte Natur nicht Maßstab oder Ziel sein kann. Das Leben in, mit und von der Natur, das indigene Völker praktizieren, muss unterschieden werden von einer Wirtschaft, die auf der Zerstörung der natürlichem Ökosysteme aufbaut. An praktischen Beispielen für diese Perspektiven fehlt es nicht. Durch die CBD anerkannt ist die Kategorie der Indigenous and Community Conserved Areas (ICCAs), also von «Gebieten, die von indigenen Völkern und lokalen Gemeinschaften bewahrt werden». In diesen prägnant als «Territorien der Freiheit» bezeichneten Gebieten ist die gleichzeitige Bewahrung der Natur und der Rechte der Bewohner/innen die Grundlage. Vor zehn Jahren hat sich ein Konsortium gebildet, um sich für die Anerkennung und Förderung solcher Gebiete einzusetzen. Eine Erhebung der CBD kam zu dem Schluss, dass 13 Prozent der Landfläche der Erde als ICCAs angesehen werden können.

Old conservation hat darin versagt, solche Perspektiven in seine Schutzstrategien zu integrieren. New conservation wird aber dadurch brandgefährlich, dass sie jegliche Beeinflussung durch den Menschen zur Trennungslinie macht. So wird ein von Indigenen genutzter Regenwald mit einer Eukalyptus­plantage oder gar einem Sojafeld auf dieselbe Stufe gestellt. Alles ist vom Menschen beeinflusste Natur.

Es geht bei dieser Debatte also auch um etwas sehr Grundsätzliches: Wie wir Natur sehen und unser Verhältnis zu ihr definieren. Steward Brand, eine ebenso populäre wie schillernde Gestalt, hat die Perspektive des Anthropozän schon 1968 so formuliert: «Wir sind wie Götter und darin müssen wir gut werden.» Diese radikale Selbstermächtigung des Menschen ist typisch für new conservation. Die ­Inthronisierung der Menschen zu Herren der Schöpfung übersieht, dass wir bisher nur als Spezialisten der Zerstörung in Erscheinung getreten sind. Götter oder auch Göttinnen aber haben die Welt geschaffen. Das Anthropozän will aus den Zerstörer/innen die neuen Erschaffer/ innen machen, will den Eingriff der Menschen radikalisieren, statt ihn zu begrenzen. Die Antike hatte dafür den schönen Begriff Hybris – und es war klar, dass das nie gut ausgeht.


Thomas Fatheuer ist promovierter Sozialwissenschaftler und hat 18 Jahre in Brasilien gelebt und gearbeitet, unter anderem im Tropenwaldschutz. Zuletzt hat er dort das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung geleitet. Seit 2020 lebt er wieder in Deutschland und ist als Autor und Berater tätig.

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