Mädchen erntet Kohlkopf

Biodiversität ist Fülle, Biodiversität ist Leben

Biodiversität ist faszinierend. Sie bringt uns alle zum Staunen, sobald wir begreifen, wie Abermilliarden von Organismen zusammenwirken und Neues schaffen. Sie ist ein Zyklus von Werden und Vergehen – das Netz des Lebens, wie es schon Alexander von Humboldt vor 250 Jahren für uns beschrieben hat.

Biodiversität, das sind Gene, die alle Lebewesen mit ihrem jeweiligen Genom zu einzigartigen Geschöpfen machen. Biodiversität, das sind die Abermillionen Arten, die über Milliarden Jahre der Evolution auf der Erde entstanden sind. Das ist die Vielfalt von Ökosystemen, die Vielfalt zahlloser Lebensräume – vom Moor bis zum Watt, von der Savanne bis zu Waldbiotopen.

Doch wir zerstören diese Fülle und unser aller Lebensgrundlagen unaufhörlich, auch in den entlegensten Winkeln der Welt. Fortlaufend vernichten wir Ökosysteme, ob Korallenriffe oder Wälder, rotten Arten aus, verlieren genetische und damit biologische Vielfalt – in vielen Fällen für immer. Der Mensch mit seinen Produktions- und Lebensweisen gefährdet die Biodiversität des Planeten in einem Ausmaß, dass die Wissenschaft vom sechsten großen Massensterben spricht.

Die Vögel zeigen uns, wie es um die Natur bestellt ist

Der Gesang der Feldlerche, der Klang meiner Kindheit und des Sommers, ist immer seltener geworden. Auf meinen Radtouren in Brandenburg höre ich sie manchmal noch und freue mich, dass es diesen Bodenbrüter doch noch gibt. Denn der kleine Vogel ist, wie viele andere Feldvögel auch, in Deutschland vom Aussterben bedroht. Am Bodensee zum Beispiel, nicht weit von dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin und im Sommer 2020 meinen Urlaub verbringe, kartiert die Ornithologische Arbeitsgemeinschaft (OAB) seit 1980 alle zehn Jahre den Bestand der Vögel. Zwischen 1980 und der letzten Zählung 2012 ist der Bestand der Feldlerche um 90 Prozent zurückgegangen. Ich fürchte, dass die neue Zählung, die gerade beginnt, nicht viel Positives über die Lerche zu berichten hat.

Vögel sind ein Gradmesser dafür, wie es um den Zustand der Natur, der Lebensräume und der Biodiversität bestellt ist, denn sie stehen am oberen Ende einer langen Nahrungskette. Außerdem sind sie leichter zu zählen und zu beobachten als viele andere Tiere und daher eine der am besten untersuchten Arten in Deutschland. Die Bundesregierung berichtet regelmäßig über ihren Bestand an die EU-Kommission. Auch Nichtregierungsorganisationen wie der NABU legen besonderen Wert darauf, Vögel zu beobachten, zu zählen und zu schützen.

Wo immer Arten gezählt und mit Daten die biologische Vielfalt zu erfassen versucht wird – zuletzt im Rahmen des UN-Weltbiodiversitätsberichts 2019 – erfahren wir, dass nicht nur eine Million Arten vom Aussterben bedroht ist, sondern insgesamt, wie bei den Vögeln oder Insekten, die Bestände und Dichte pro Art und die Artenvielfalt massiv zurückgehen. In Deutschland sind vor allem die Vogelarten besonders betroffen, die bislang in sogenannten Normallandschaften vorkamen. Lerchen, Schwalben, Stare – sie verlieren ihre Nahrungsgrundlagen und Brutplätze.

Größere Vogelarten wie Milane, Seeadler oder Wanderfalken hingegen kommen zurück. Auch das konnte ich dieses Jahr bei meinen Streifzügen in Brandenburg, an der Elbe und am Bodensee gut beobachten. Sie profitieren von Schutzprogrammen und Naturschutzgebieten, von letzteren gibt es in Deutschland über 8000. Sie machen aber inklusive der 12 Seemeilenzone gerade mal 6,3 Prozent der Gesamtfläche Deutschlands aus.

In Meeresschutzgebieten darf weiter kommerziell gefischt werden

Deutschland liegt weit unter dem 2010 von der UN-Biodiversitätskonvention vereinbarten Ziel, Schutzgebiete auf 17 Prozent der Landfläche und auf 10 Prozent auf See auszuweisen. Wildnis und kompletten Schutz gibt es in Deutschland ohnehin so gut wie gar nicht. Selbst in den ausgewiesenen Schutzgebieten der Ost- und Nordsee darf weiterhin und unverständlicherweise mit Schleppnetzen kommerziell gefischt, Sand und andere Rohstoffe abgebaut werden.

Die Ursache Nummer 1 für den weltweiten Schwund der biologischen Vielfalt aber ist die Umwandlung von Naturräumen in wirtschaftlich genutzte Räume, allen voran die industrielle Landwirtschaft. Das hat der Weltbiodiversitätsbericht 2019 unmissverständlich festgehalten. Vielfältigste wissenschaftliche Studien zeigen, dass Arten in Agrarlandschaften besonders bedroht sind. So sind vor allem diejenigen in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen, die sich während der Brutzeit von Kleininsekten und Spinnen ernähren. Fachleute führen dies auf den Mangel an Nahrung auf den konventionell bebauten Feldern und auf den flächendeckenden Einsatz von Insektiziden zurück.

Dieser Zusammenhang zeigt noch einmal, wie eng das Netz des Lebens geknüpft ist und wie wichtig jede einzelne Art ist. Insekten stehen ganz am Anfang der Nahrungskette und sind Nahrungsgrundlage für viele andere Arten. Und ihre Situation ist nicht minder besorgniserregend als die der Vögel. Weltweit gehen Wissenschaftler/innen davon aus, dass der Bestand bei bis zu 40 Prozent der Insektenarten abnimmt.

Die Landwirtschaft ist einer der Haupttreiber des globalen Artenschwunds

Zahlreiche Datenreihen belegen den Rückgang der Artenvielfalt und bestätigen eine teilweise dramatische Abnahme der Populationsdichte. Bei Wildbienen zum Beispiel ist letzteres bei knapp der Hälfte aller 561 Arten der Fall.

Die Art, wie weltweit Landwirtschaft betrieben wird, ist eine der Hauptursachen des globalen Artenschwunds. Das ist nicht unbedingt erstaunlich – ist die Landwirtschaft doch der Wirtschaftssektor weltweit, der mit Abstand die meisten Landflächen belegt.

Heute werden 50 Prozent der bewohnbaren Erdoberfläche landwirtschaftlich genutzt. In nur 300 Jahren, zwischen etwa 1700 und 2007, ist der Anteil von Acker- und Weideland weltweit jeweils um das Fünffache gestiegen. Zwischen 1980 und 2000 entstand mehr als die Hälfte der neuen landwirtschaftlichen Nutzflächen in den Tropen durch die Abholzung von Wäldern; zwischen 2000 und 2010 waren es sogar etwa 80 Prozent. Zwei Länder, Indonesien und Brasilien, waren für über 50 Prozent des Verlustes an Tropenwald verantwortlich. Länder, die eigentlich an Artenreichtum kaum zu überbieten sind.

Zudem nimmt die Intensität der Nutzung dramatisch zu. Wälder, Weiden und Wiesen, die Lebensraum für Insekten, Vögel und andere Arten bieten, werden in intensive Ackerbaustandorte umgewandelt. Um mehr Ertrag pro Hektar zu erwirtschaften, werden weltweit auch immer mehr Düngemittel und Pestizide eingesetzt.

Diese Monotonie der Agrarlandschaft bietet keinen Raum für die Fülle der Biodiversität. Riesige Felder mit Monokulturen prägen das landwirtschaftliche Bild in vielen Ländern der Welt. Präzisionslandwirtschaft ermöglicht zudem die effiziente Nutzung jedes Feldrandes, auch die für die Biodiversität so wichtigen Weg- und Ackerränder gibt es immer weniger.

Auf ökologisch bewirtschafteten Flächen gibt es deutlich mehr Insektenarten

Dass es anders ginge, zeigt eine Studie des Thünen-Instituts aus dem Jahr 2019. Sie hat neben anderen Indikatoren untersucht, wie sich der ökologische Landbau auf die biologische Vielfalt auswirkt. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Auf ökologisch bewirtschafteten Flächen kommen 23 Prozent mehr blütenbesuchende Insektenarten vor als auf konventionellen Flächen. Es gibt im Mittel 30 Prozent mehr Wildbienen- und 18 Prozent mehr Tagfalterarten. Diese Ergebnisse zeigen deutlich: Zum Schutz der Biodiversität muss eine andere Landwirtschaft Teil der Lösung werden.

Finden wir noch einen Hebel, um dem großen Artensterben Einhalt zu gebieten? Anläufe und Vereinbarungen gibt es unzählige – sektorspezifische, lokale, regionale und internationale (Schutz-)Abkommen aller Art. Zentral für globale Vereinbarungen bleibt die Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt (CBD). Sie will 2021 bei der Vertragsstaatenkonferenz in China einen neuen Anlauf zum Schutz der Biodiversität nehmen.

Vorbereiten der Komposterde in einem Permakulturprojekt in Svalbard, Spitzbergen, Norwegen.

Dabei sollen – so die Hoffnung von Wissenschaftler/innen und Naturschützer/innen – vor allem die Erkenntnisse des Weltbiodiversitätsberichts in konkrete Schutzziele münden. Wie können wir den direkten und indirekten Haupttreibern der Zerstörung der biologischen Vielfalt begegnen? Wie können wir echte Lösungen finden und der industriellen Landwirtschaft Einhalt gebieten, den Klimawandel aufhalten? Was sind die Antworten auf invasive Arten – jenseits gentechnologischer Irrwege wie Gendrives? Wie müssen wir unseren Lebensstil und unser kapitalistische Produktionsweise ändern, um Biodiversität zu schützen? Es reicht eben nicht, die eine oder andere Art zu retten und Naturschutzgebiete einzurichten – auch wenn das wichtig und notwendig ist. Dies muss in einem noch viel größeren Maße erfolgen, als das bislang trotz internationaler Verabredungen der Fall ist.

Natur braucht keine Inwertsetzung, Natur braucht Wertschätzung

Die Klimakatastrophe und der atemberaubende Verlust der biologischen Vielfalt zerstören bereits jetzt Leben und insbesondere die Lebensgrundlagen künftiger Generationen. Auch wenn wir aktuell eine rasante Beschleunigung dieser Krisen beobachten, sind es doch Phänomene, die auf jahrhundertealten Macht- und Herrschaftsstrukturen basieren, die Mensch und Natur für den Profit einiger Weniger ausbeuten. Die Erde aber ist nicht grenzenlos belastbar. Die Biosphäre ist dünn und verletzlich. Klimawandel und Artensterben sind in vollem Gange. Das Plastik in der Arktis, der Tiefsee oder auf dem Himalayagipfel wird noch viele Jahrhunderte bleiben.

Aber noch können wir etwas tun: Wir können die Landnahme stoppen, die Verschmutzung, die Ausbeutung von Ressourcen aller Art verhindern durch eine echte soziale und ökologische Transformation. Nicht mit immer neuen Ökonomisierungs- und Inwertsetzungsstrategien der Natur. Sondern durch ihre Wertschätzung.


Barbara Unmüßig ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

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