Ministeriale Vielfalt trifft grüne Kernkompetenzen: Grünes Mitregieren in den Ländern

Analyse

Seit der Bundestagswahl 2017 haben Bündnis 90/Die Grünen die Anzahl ihrer Regierungsbeteiligungen in den Ländern auf hohem Niveau ausgebaut. In Hessen, Bremen, Thüringen und Hamburg konnten sie vier Koalitionen in identischer oder leicht angepasster Konstellation fortsetzen.

Zusammensetzung Bundesrat Juni 2020

Mit den neuen Regierungsbeteiligungen in Sachsen (CDU/Grüne/SPD) und Brandenburg (SPD/CDU/Grüne) kommen zwei weiteren Koalitionen hinzu. Damit regieren Bündnis 90/Die Grünen mittlerweile wieder in elf Bundesländern (davon fünf im Osten der Republik) und führen als stärkste Kraft die grün-schwarze Koalition in Baden-Württemberg an.

Regierungsbeteiligung Bündnis90/Die Grünen in den Ländern (2005-2020)

Die ökologische Frage als zentrales Handlungsfeld grüner Regierungsarbeit

Der Blick auf die Regierungsbildungen der letzten Jahre untermauert einen lang anhaltenden Trend. Wenn Bündnis 90/Die Grünen regieren, dann setzen sie zuvorderst einen Schwerpunkt ihren Markenkern, also auf die ökologische Frage im Dreieck von Umwelt, Klima und Energie. Dies wird bei der Auswahl der Ministerien deutlich.

Geschäftsbereiche von Bündnis90/Die Grünen in den Ländern (Stand Juni 2020)

Wo die Grünen regieren, tragen sie Verantwortung für das Umweltministerium, das in den meisten Fällen die Geschäftsbereiche Umwelt, Klima und weitere umfasst. Damit verfügen sie in diesem Politikfeld mit Abstand über die meiste Regierungsverantwortung – sowohl im Vergleich zu anderen Parteien als auch im parteiinternen Vergleich zu anderen Politikfeldern. Untermauert wird dieser ökologische Schwerpunkt durch weitere Ministerien bzw. Zuständigkeiten für Geschäftsbereiche mit Umweltrelevanz, die die Grünen in den Ländern verantworten (Energie, Agrar und Verkehr). Diese Bündelung an Ressourcen unterstreicht, dass die ökologische Frage das zentrale Handlungsfeld der Regierungsarbeit der Grünen in den Ländern ist.

Dass die Grünen in dem Feld ihrer Kernkompetenz erfolgreich regieren, belegt eine Auswertung politikwissenschaftlicher Studien, die den Zeitraum 2005-2018 erfasst. Koalitionen, an denen Bündnis 90/Die Grünen beteiligt sind, verfolgen demnach eine ehrgeizigere Politik der ökologischen Modernisierung als solche ohne grüne Beteiligung. Das ist vor allem dort erkennbar, wo die Länder einen vergleichsweise großen Handlungsspielraum haben: in der Klima- und Energiepolitik (insbesondere erneuerbare Energien) und in der Agrarpolitik (insbesondere Tierschutz).

Zugleich zeigt die Auswertung der grünen Regierungsarbeit aber auch: Mit dem neuen Erfolg der Partei ergibt sich die Möglichkeit, weitere Politikfelder auch in der Regierung zu gestalten. Davon machen die Grünen in vielfältiger Weise Gebrauch. So ist neben dem Kernthema Ökologie eine Diversifizierung erkennbar, die mit den Regierungsbeteiligungen einhergeht. So verantworten die Grünen mittlerweile eine Reihe von Ministerien in anderen Politikfeldern wie Verbraucherschutz und Integration/Migration (je 6), Justiz und Soziales (je 4), Finanzen und Wissenschaft/Forschung (je 3), Gesundheit und Wirtschaft (je 2) sowie erstmals wieder seit der Regierungsbildung in Sachsen die Zuständigkeit für Europa (1). Die Verantwortung dieser Ministerien geht einher mit dem Aufbau an personellen Kapazitäten und fachlicher Expertise. Die Themenbreite ermöglicht Synergieeffekte zwischen den Landes- und Bundesgrünen in Form einer informellen Arbeitsteilung über die G-Koordination für bundespolitische Prozesse.

Bundesrat: Starke Veto-Position der Grünen bei Zustimmungsgesetzen

Über den Bundesrat beeinflussen Bündnis 90/Die Grünen die Bundesgesetzgebung. Sie sind an Koalitionen beteiligt, die in der Länderkammer über 45 der insgesamt 69 Stimmen verfügen. Die Länder ohne grüne Regierungsbeteiligung kommen zusammen auf 24 Stimmen im Bundesrat. Für eine 35-Stimmen-Mehrheit muss die Große Koalition also mindestens drei Länder mit grüner Beteiligung mit 11 Stimmen auf ihre Seite ziehen. Verfehlt ein Zustimmungsgesetz eine Mehrheit, ist es im Bundesrat gestoppt. Im Fall von zustimmungspflichtigen Gesetzen sind die Grünen also in einer starken Veto-Position, mit der sie Gesetze aufhalten oder aber entscheidend mitgestalten können wie zuletzt die Beratungen über das Klimapaket 2019 gezeigt haben.

Zusammensetzung Bundesrat Juni 2020

Anders als bei zustimmungspflichtigen Gesetzen kann der Bundesrat Einspruchsgesetze nur verzögern, und auch das nur dann, wenn er mit Mehrheit aktiv Einspruch erhebt. Ruft der Bundesrat den Vermittlungsausschuss nicht an, billigt er das Gesetz automatisch. Für einen Einspruch müssten also die Grünen ihre jeweiligen Koalitionspartner dafür gewinnen, mit JA für die Anrufung des Vermittlungsausschusses zu stimmen; ein schwieriges Unterfangen, das nur in selten in Betracht kommt.

Die Scharnierpartei der bundesdeutschen Parteienlandschaft

Der Blick in die Länder verrät, dass Bündnis 90/Die Grünen in elf unterschiedlichen Koalitionen regieren. Keine Konstellation gleicht der anderen. Von den elf Koalitionen ordnen sich sechs der A-Seite zu, fünf der B-Seite. Diese Begriffe haben sich für SPD-geführte Regierungen (A-Seite) bzw. CDU/CSU-geführte Regierungen (B-Seite) etabliert. Am häufigsten regieren die Grünen in Koalitionen, in denen zudem die SPD (8) oder die CDU (6) beteiligt ist, dazu kommen gelegentlich als weitere Partnerinnen die Linkspartei (3) oder die FDP (2). Dabei regieren die Grünen nur in drei Ländern in einer 2er-Koalition, in acht Ländern hingegen in 3er-Koalitionen.

Koallitionskonstellationen der G-Länder (Juni 2020)

Diese Heterogenität in der Koalitionslandschaft erfordert von allen beteiligten Parteien ein hohes Maß an Flexibilität und die Fähigkeit, Kompromisse auch lagerübergreifend einzugehen. Im besten Fall gelingt es Koalitionen, dass alle Partner sich innerhalb der Regierungsarbeit profilieren und der jeweiligen Anhängerschaft überzeugend vermitteln können, eigene Ideen und Konzepte umzusetzen. Misslingt dies, verwischen die Unterschiede der Parteien; dann würde die Flexibilität einen fahlen Beigeschmack der Beliebigkeit hinterlassen. Jede Koalition steht vor der Herausforderung, einerseits eine gemeinsame Politik der Koalition durchzusetzen, andererseits die jeweiligen Koalitionspartner zur Geltung kommen zu lassen.

Für die Parteien ist es anspruchsvoll, in den Ländern in so unterschiedlichen Konstellationen zu regieren und trotzdem ein stimmiges Gesamtbild abzugeben. Schaut man sich die Bewertung der Parteien über die letzten Monate an, scheint den Grünen es mindestens nicht zu schaden. Zuletzt antworteten 72 Prozent aller Wahlberechtigten in Hamburg mit JA auf die Frage, ob sie es gut fänden, wenn die Grünen nach der Wahl regieren würden. Ein so hoher Zuspruch über die eigene Wählerschaft hinaus kann als Indiz dafür interpretiert werden, dass es der Partei derzeit gelingt, ein stimmiges Bild abzugeben. Die Grünen haben in den letzten Jahren ihre Rolle als Scharnierpartei in der bundesdeutschen Parteienlandschaft gefestigt.

Vorbereitungen auf eine Regierungsbeteiligung im Bund

Bis zur Bundestagswahl im Herbst 2021 ist es nicht mehr weit. Die Corona-Pandemie beschert vor allem der Union hohe Umfragewerte. Die Grünen, die im Juli 2020 bei etwa 20 Prozent in der Sonntagsfrage stehen, bereiten sich auf eine Regierungsbeteiligung vor. Anders als 1998 würden sie mit einem großen Schatz an Regierungserfahrung in Koalitionsverhandlungen eintreten. Mit den vielen Regierungsbeteiligungen in den Ländern der letzten 15 Jahre haben sie umfangreiche Erfahrungen im Handwerk des Regierens gesammelt: Wie ist ein Ministerium optimal zugeschnitten, um die eigenen Politikziele zu erreichen? Welche Elemente sollte das Koalitionsmanagement umfassen? Welches Ministerium kann für uns - den vermutlich kleinen Koalitionspartner - die Funktion einer Spiegel-Regierungszentrale leisten? Über die Besetzung welcher Leitungspositionen in nachgeordneten Behörden und Vertretungen bzw. sollten die Koalitionspartner einvernehmlich entscheiden?

Es ist zu erwarten, dass ein Eintritt in eine Koalition auf Bundesebene die parteiinternen Strukturen erneut verändert. Denn damit käme ein gewichtiger Akteur hinzu: die Regierungsgrünen im Bund. Bislang stimmen sich Bundes- und Landesgrüne in der G-Koordination ab, die von den Regierungsgrünen in den Ländern organisiert wird und vor allem durch die Agenda des Bundesrats geprägt ist. Die G-Koordination mit dem Kleinen G-Kamin übt derzeit die Rolle eines strategischen Zentrums für die Partei aus. Der 16-köpfige Bundesparteirat dient hingegen vor allem der parteiinternen Arbeit zwischen den Gremien der Bundespartei, den Fraktionen und den Landesverbänden. Mit einer Regierungsbeteiligung im Bund würde die Bundesseite - neben Bundespartei und Bundestagsfraktion vor allem die grünen Bundesminister/innen - eine stärkere Rolle als bisher im parteiinternen Abstimmungsprozess spielen. Schon aus praktischen Erwägungen ist es zudem unwahrscheinlich, dass der Donnerstagabends tagende G-Kamin dann seine Funktion als strategisches Zentrum beibehalten kann. Im Falle eines Regierungseintritts werden die Grünen deshalb entweder den Bundesparteirat aufwerten oder ein neues Gremium schaffen müssen, in dem sich die führenden Köpfe der Partei aus Bund und Ländern abstimmen können.

 

Der Text ist Teil des mehrjährigen Projektes Grüne Regierungspraxis und baut auf den früheren Studien Grün Regieren und Ökologisch Regieren auf.