Stimmabgabe in Zeiten der Pandemie

Hintergrund

In den USA rückt die Präsidentschaftswahl näher und die Sorge wächst, dass durch die Covid-19-Pandemie das Wahlrecht eingeschränkt werden könnte. 

US-Wahlkabine in Ohio 2019

Die US-Amerikaner sind in Sorge: Mehr als zwei Drittel halten es für wahrscheinlich, dass der Ausbruch von Covid-19 die Möglichkeit der Stimmabgabe bei den Präsidentschaftswahlen einschränken wird. Der 15. Zusatzartikel zur US-Verfassung bestimmt: „Das Wahlrecht der Bürger der Vereinigten Staaten darf (…) nicht auf Grund der Rassenzugehörigkeit, der Hautfarbe oder des vormaligen Dienstbarkeitsverhältnisses versagt oder beschränkt werden.“ Ihre Wahlgesetze, auch die für die Präsidentschaftswahlen, schreiben die 50 Bundesstaaten jedoch selbst und haben dabei durchaus Spielraum. In der Praxis kann dies zu erheblichen Beschränkungen des Wahlrechts führen. 20 Millionen US-Dollar will das für die Wahlkampfstrategie der Republikanischen Partei verantwortliche Republican National Committee in diesem Wahlkampf allein für die Aufrechterhaltung dieser Beschränkungen einsetzen. Restriktionen des Zugangs zur Wahlurne, wie eine strikte Ausweispflicht, überlaufene Wahllokale und die Einengung der Briefwahl, gelten als geeignet, traditionell demokratisch wählende Minderheiten wie Latino-Bürger*innen und Schwarze vom Wählen abzuhalten. Der amtierende US-Präsident Trump gewann in vielen der Swing States 2016 nur mit knappen Mehrheiten. Jede nicht für die Demokraten abgegebene Stimme ist mithin aus Sicht von Trumps Wahlkampfstrategen ein Gewinn.

Schließung von Wahllokalen und Einschränkungen bei der Wählerregistrierung

Eine ganz praktische Einschränkung könnte das Wahlrecht im November dadurch erfahren, dass aus Sorge vor der Ausbreitung des Coronavirus Wahllokale geschlossen bleiben. So geschah es im Juni bei den Vorwahlen in Georgia, als allein im Großraum Atlanta mehr als 80 Wahllokale nicht öffneten. Manche Wähler*innen mussten bis zur Stimmabgabe mehr als drei Stunden warten; andere gingen heim, ohne ihre Stimme abgegeben zu haben. Die Pandemie könnte bereits zuvor bestehende Ungleichheiten vertiefen: Das renommierte Brennan Center for Justice stellte in einer Studie zu den Wahlen 2018 fest, dass schwarze Wähler*innen vor der Stimmabgabe im Schnitt 45% länger warten als Weiße und Latino-Bürger*innen 46%.

Unter dem Eindruck von Covid-19-bedingten Ausgangssperren ist auch die Wählerregistrierung, die in einem Land ohne Einwohnermeldeamt und Meldepflicht für die Stimmabgabe erforderlich ist, signifikant zurückgegangen. Nicht alle Bundesstaaten bieten eine Online-Wählerregistrierung an. Welchen Einfluss dies auf die Wählerschaft haben wird, ist noch unklar.

Erschwernisse bei der Briefwahl

In Pandemiezeiten liegen die Vorteile der Briefwahl auf der Hand: Statt im Wahllokal wird der Wahlzettel in den eigenen vier Wänden ausgefüllt, das Ansteckungsrisiko tendiert gegen Null. Lediglich in 34 von 50 Bundesstaaten und in der Hauptstadt ist Briefwahl ohne Angabe von Gründen zulässig. In der republikanischen Hochburg Texas, wo Biden nach jüngsten Umfragen nur 1,3 %-Punkte hinter Trump liegt, ist die Briefwahl Bürger*innen unter 65 Jahren grundsätzlich verwehrt. Versuche der texanischen Demokratischen Partei, die Briefwahl ohne Einschränkungen allen Bürger*innen zu ermöglichen, wurden von der mehrheitlich republikanischen Regierung des Bundesstaats blockiert. Trump sieht in der Briefwahl eine der größten Gefahren für seine Wiederwahl. Briefwahlen führten zu Wahlfälschung, twitterte er Ende Mai. Den Kurznachrichtendienst veranlasste dies zum ersten Faktencheck in der Geschichte von Trumps Twitter-Konto und dem Warnhinweis: „Get the facts about mail-in ballots“.

Gefälschte Wahlzettel, falsche Wählernamen, Stimmabgabe im Namen Toter- mit diesen Szenarien wird Angst geschürt. Zahlreiche Studien wie die der Washington Post und des Brookings Institute zeigen jedoch, dass Wahlfälschung durch Briefwahl nahezu inexistent ist. Im Bundesstaat Oregon, wo seit dem Jahr 2000 alle Wahlen vollständig per Brief abgehalten werden, gab es bei insgesamt mehr als 50 Millionen abgegebenen Stimmen nur zwei Verurteilungen wegen Briefwahlfälschung in den vergangenen 20 Jahren. Das entspricht 0.000004 % - fünfmal geringer als die Wahrscheinlichkeit, in den USA vom Blitz getroffen zu werden.

Ausweispflicht für Wähler*innen

Ein weiteres Mittel zur Einschränkung des Wahlrechts ist traditionell die Ausweispflicht. Die USA kennen keinen bundesweiten Personalausweis. Die Pflicht zur Vorlage eines behördlich ausgestellten Ausweisdokuments stellt daher für viele Bürger*innen eine erhebliche Hürde dar. Dennoch gelten im Jahr 2020 in 35 Bundesstaaten Gesetze, die erfordern, dass sich Wählende an den Wahllokalen ausweisen. Die genauen Anforderungen variieren von Bundestaat zu Bundesstaat: Manche akzeptieren Ausweise ohne, andere nur mit Lichtbild; manche bieten alternative Wahlmöglichkeiten für Wähler*innen, die keinen Ausweis haben, wieder andere machen es fast unmöglich.

Map of US Voter ID Laws by State
Rot: Lichtbildausweis erforderlich (streng), Orange: Lichtbildausweis gewollt (nicht streng), Blau: Ausweis erforderlich (streng) Ausweis gewollt (nicht streng), Grau: kein Ausweis

Schätzungen zufolge verfügen ca. 11 % aller US-Amerikaner*innen nicht über einen amtlichen Lichtbildausweis. Wie die American Civil Liberties Union, eine große amerikanische Bürgerrechtsorganisation, anmerkt, sind darunter überproportional viele Wähler*innen mit geringem Einkommen, ethnische Minderheiten, ältere Menschen und Behinderte. Aus einer Studie des Government Accountability Office, einer dem Bundesrechnungshof vergleichbaren Behörde, aus dem Jahr 2014 geht hervor, dass eine strikte Ausweispflicht zu einer Verringerung der Wahlbeteiligung um 2 bis 3 Prozent führt, was in einem einzelnen Bundesstaat den Verlust Zehntausender Stimmen bedeuten kann.

Covid-19 wirkt wie ein Verstärker dieser bereits bestehenden Probleme: Wegen der Pandemie haben viele Behörden, bei denen erstmals ein Ausweis beantragt oder ein abgelaufener ersetzt werden könnte, geschlossen oder bieten nur eingeschränkte Öffnungszeiten an. Die Umstellung auf Online-Antragsverfahren kommt erst langsam in Gang. Noch offen ist überdies, wie bei Bestehen einer Ausweispflicht die Identitätsüberprüfung vor Ort in den Wahllokalen von statten gehen soll, wenn Wähler*innen – wie von der nationalen Gesundheitsbehörde CDC empfohlen – eine Gesichtsmaske tragen. Bei der Vorwahl im Bundesstaat Wisconsin im April hatte die zweitgrößte Stadt Madison Wahlhelfer*innen angewiesen, die Identität von Wähler*innen mit Gesichtsmaske allein anhand Abgleichs der Augenpartie zu verifizieren.

Die Zeit wird knapp

„Ein Mensch ohne Stimmrecht ist ein Mensch ohne Schutz”, sagte der ehemalige US-Präsident Lyndon B. Johnson. Den USA bleiben gerade einmal vier Monate, um den neuen Herausforderungen zur Durchführung freier, gleicher und allgemeiner Präsidentschaftswahlen gerecht zu werden. Ein anfechtbares Wahlergebnis wäre ein Risiko für die Legitimität des zukünftigen US-Präsidenten. Noch wäre Zeit, dem entgegenzuwirken.

Die Verfasserin gibt ihre persönliche Meinung wieder.