Coronadenken 2/3 - Moral

Analyse

Die Corona-Pandemie stellt unsere Gemeinwesen vor unbekannte Herausforderungen. Heikle Fragen moralischer und politischer Art sowie des Zusammenlebens müssen beantwortet werden. Der  Kieler Philosoph und Umweltethiker Konrad Ott bietet in diesem Essay, den wir in drei Teilen präsentieren, eine Orientierungshilfe in den schwierigen Zeiten von Corona.

Coronadenken - Graffiti Mundschutz

Die Moral muss von der Politik fordern, (fast) alles zu tun, um Menschenleben zu retten. Die Moral ist der Standpunkt der Forderungen (Hegel). Und die Moral fordert daher angesichts der Epidemie, Menschenleben zu retten. Die Moral, die viele von uns intuitiv und aus Überzeugung teilen, beruht im Wesentlichen auf drei Pfeilern:

1) Der erste Pfeiler ist eine kantische Auffassung vom Wert eines Menschenlebens. Die Würde der Menschheit in der Person ist über jeden Preis erhaben und nicht verrechenbar („Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“). Diesem Pfeiler liegt der normative Individualismus zugrunde. Letztlich zählt das Leben und das Wohlergehen Einzelner; Verpflichtungen gegenüber kollektiven Entitäten wie dem Staat, der Nation, dem Volk, der Christenheit usw. sind bestenfalls sekundär. Es geht um Leben und Tod einzelner Personen.    

2) Der zweite Pfeiler ist der prägende Hintergrund der christlichen Moral, in der den Alten, Kranken, Schwachen besonderer Schutz und Fürsorge zukommt. Ihnen, nicht den Gesunden, Jungen und Kräftigen soll das besondere moralische Augenmerk gelten. Dies schließt es a limine aus, vulnerable Gruppen als „Kollateralschäden“ der Epidemie anzusehen. Dieser Moralpfeiler definiert, welche Äußerungen als zynisch gelten und moralisch unstatthaft sind. Wer etwa sagte, dass Corona die Kosten der Pflegeversicherung langfristig senken könnte, diskreditiert sich selbst. Was aber, wenn Angehörige der vulnerablen Gruppen andere Vorstellungen haben. Ein 80+-Senior vor der Kamera: „Das wird alles übertrieben“. Meine 93jährige Schwiegermutter: „Ich bin zäh, aber wenn es mich trifft, muss ich mich nicht lange quälen.“ Solche Äußerungen mag man für irrational halten, aber zynisch sind sie nicht. Die Gruppe all derer, denen in der christlichen Moral der besondere Schutz zukommt, dürfen in diskursethischer Perspektive nicht entmündigt werden. Die jungen Gesunden dürfen das Opfer der Alten zwar nicht fordern, dürften es aber annehmen. Die Äußerungen eines texanischen Politikers, viele Großeltern seien bereit, sich für den freien Lebensstil ihrer Enkel zu opfern, wirken deshalb so empörend (und marktideologisch), weil argumentfrei eine generelle Bereitschaft zum Opfer insinuiert wird.  

3) Den dritten Pfeiler möchte ich titelartig mit „Bioethik“ überschreiben. Diese Überschrift umfasst die medizinnahen Komponenten der Moral. Bioethisch begründet sind Zielfunktionen wie „flattening the curve“ und „buying time“. Diese Zielfunktionen begründen Maßnahmen, die verhindern sollen, dass die Kapazitäten des Kliniksystems überfordert werden, was die Anzahl der Toten drastisch erhöht. Es soll verhindert werden, dass es zu Triage in deutschen Kliniken kommt. Der in der hippokratischen Tradition stehenden Ärzteschaft die Triage schwerstkranker Patient*innen zu ersparen, kann als hohes gesundheitspolitisches Ziel betrachtet werden. Wenn Verhaltenseinschränkungen dazu beitragen, die Praxis der Triage zu verhindern, hat jede/r einen moralischen Grund, sein persönliches Verhalten an entsprechenden Regeln zu orientieren. Mit Rückblick auf das Recht (siehe ersten Teil) bleibt die Frage, ob dieses moralisch gebotene Verhalten rechtlich erzwungen werden darf. Angesichts bestimmter Bilder neigt die Moral dazu, die Frage zu bejahen.   

Das kollektive Gedächtnis und dessen „moral imagination“ unterstützen diese Tryptichon-Moral angesichts bestimmter Bilder des Grauens. Armeelaster fahren Särge in Krematorien (Italien). Eisstadien dienen als Leichenhallen (Spanien). Kühllaster parken vor den Kliniken in New York. Assoziation von Massengräbern stellen sich ein. Einige Bilder des Grauens erreichen uns nur in Form von Narrativen: Leichen in spanischen Pflegeheimen, die vor ihrem Tod nicht mehr versorgt wurden. Ähnlich wirken die Bilder, die zeigen, dass Bestattungen nicht mehr nach den rituellen Ordnungen vollzogen werden können oder dürfen. Die Trauergemeinde darf sich aufgrund des Seuchenrechts nicht mehr zusammenfinden. Gemeinsames Weinen wird zu riskant.

Solche Bilder und Narrative rühren an Urängste und scheinen uns evident zu „sagen“, was keine/r von uns ernsthaft wollen kann, dass es Mitmenschen widerfährt: zu krepieren und verscharrt zu werden. Dieses „nicht wollen können“ geht tiefer als die Prüfung einer Maxime auf ihre Tauglichkeit fürs Gesetz (Kant). Es rührt an den lebensweltlichen Fundamenten einer humanen Welt. Darum kann hier Widerspruch keinen Anhalt mehr finden. In Joseph Conrads Heart of Darkness bleibt das nackte Grauen diskursiv unzugänglich. 

Diese drei Pfeiler in Verbindung mit besagten Urängsten ergeben eine Moral des „Menschenleben retten“. Die Rettung von Menschenleben wird als oberstes Gebot bezeichnet. Damit wäre in der Sphäre der Moral der höhere Verpflichtungsgrund (Kant) in der CoVid-19-Krise hinreichend bestimmt. Die Maßnahmen und Regeln verhindern nicht alle, aber viele Infektionen, in der Konsequenz viele Erkrankungen und letztlich Sterbefälle. Damit gelten die Maßnahmen als moralisch nicht nur erlaubt, sondern geboten. Wenn das oberste Gebot ein moralisches Gebot ist und die Moral sämtliche anderen Gründe „übertrumpft“, dann sind rechtsstaatliche Bedenken, Einschränkungen des geselligen Lebens und ökonomische Konsequenzen nachrangig. Abwägungsfähig sind dann nur Gründe, die ebenfalls etwas mit Gesundheit zu tun haben: Depressionen, häusliche Gewalt, Suizide etc. Es kommt dann zu kuriosen Verrechnungen von CoVid-19-Toten mit möglichen zukünftigen Sterbefällen, die auf mangelnde Bewegung im „home office“ zurückzuführen sein könnten. Diese „bioethischen“ Verrechnungen erscheinen im moralischen „framing“ legitimer als die rechtspolitische Kritik an Freiheitseinschränkungen.

Die Bioethik ist nun in sich selbst unterschieden: Sie weist a) ein hippokratisch-ärztliches Moment auf, umfasst b) funktionale Imperative des Klinikbetriebes als der Orte des Rettens und Heilens und stützt c) sich nicht zuletzt auf Virologie/Epidemologie als statistische Wissenschaften, die mit der allgemeinen Demographie vermittelt sind. Die Moral muss daher den Weg zurück von den Urängsten zur bioethischen Organisation der CoVid-19-Krise finden, sich also gleichsam vom eigenen „horror trip“ wieder ernüchtern.[1]

Das ärztliche Ethos fordert seit Luthers Schrift Ob man vor dem sterben fliehen möge (Wittenberg 1527), dass Ärzte und Priester auf ihren Posten bleiben sollen. Der Übergang in das klinische Ethos ist unmittelbar gegeben. Ein Foto aus der Rostocker Universitätsklinik auf der Titelseite der Ostsee-Zeitung vom 21. März zeigt Klinikpersonal mit Mundschutz und Schildern: „Wir bleiben für euch in der Klinik. Bleibt ihr für uns zu Hause.“ Die Botschaft ist unmissverständlich und moralisch legitim: „Was wir für euch zu leisten bereit sind, gibt uns einen moralischen Anspruch an euer Verhalten. Ihr habt es selbst in der Hand, wie viele von euch wir in der Klinik behandeln müssen. Kurz und bündig: Verhaltet euch so, dass wir uns nicht in der Klinik oder auf der Intensivstation begegnen müssen.“

Die klinische Moral hat, so gesehen, pragmatische Implikaturen für die Alltagsmoral. Diese berechtigte Erwartung gibt gute Gründe, sich vorsichtig zu verhalten, d.h. im Alltag auf Abstand zu anderen Menschen zu gehen, die nichts mit der persönlichen Risikoaversion zu tun haben. Unbestritten ist, dass die Leistungen des Klinikpersonals allen moralischen Applaus verdienen, wie dies ja auch auf Balkonen geschah. Unbestritten ist auch, dass Kliniken virologisch gefährliche Orte sind und dass Kapazitäten von Gerät, Material und Personal endlich sind. So muss durch innerklinische Maßnahmen verhindert werden, dass sich große Teile des Klinikpersonals anstecken und wochenlang ausfallen. Kompetentes Pflegepersonal in der Intensivmedizin kann nicht durch arbeitslose Personen aus anderen Branchen ersetzt werden. Das Kliniksystem ist in bioethischer Betrachtung das stärkste Bollwerk gegen die Epidemie. Es ist die „Biomacht zum Besten der Bevölkerung“. Selbst Michel Foucault hat in Sexualität und Wahrheit[2] eingeräumt, dass die Biomacht es verhindern kann, dass der Tod „dem Leben ständig auf den Fersen“ ist.

Klinisch-funktionale Gründe erhalten unter diesem obersten Gebot, Menschenleben zu retten, ein starkes Gewicht. Wir alle ausnahmslos sollen durch unser persönliches Verhalten eine Überforderung des Klinikpersonals vermeiden und die Triage möglichst ausschließen.

Faktisch wurde und wird die Triage in Italien und Spanien praktiziert, da dort Menschen über 80 Jahren nicht mehr beatmet wurden. Am 26. März 2020 erging eine „Triage“-Richtline von deutschen Fachgesellschaften. Moralisch und wohl auch rechtlich besonders heikel ist dabei die Triage ex post, d.h. der Abbruch einer Behandlung, um einem anderen Patienten das Beatmungsgerät zur Verfügung zu stellen. Die Triage ex post erscheint handlungstheoretisch eher eine Tötung als ein Sterben-Lassen zu sein. Wenn man nun die Triage ex post vermeiden möchte, indem man in der Klinik immer einige Beatmungsgeräte freihält (also nie alle verfügbaren Plätze belegt), so kann dies dazu führen, dass bei einigen Patient*innen eine kapazitär prinzipiell mögliche und medizinisch indizierte Behandlung nicht aufgenommen wird. Rechtlich gesehen, ist dies Tötung durch Unterlassen. Die Nachsicht des Rechts, die der Ethikrat in solchen Fällen fordert,[3] kann sich aber nur auf das Strafmaß, nicht auf die deliktische Zuordnung der Handlungsweise beziehen. Falls die Moral hier größere Nachsicht mit klinischen Maßnahmen übt, wie die Triage ex post zu verhindern sei, hat sie aber ihre eigenes „oberstes Gebot“ implizit aufgegeben.

Bei der Triage im Krieg spielen Altersunterschiede keine große Rolle, bei CoVid-19 schon. Alterskohorten sind von CoVid-19 höchst unterschiedlich betroffen. Vulnerabilitäten sind Alter und Vorerkrankungen. Die Fallzahlen aus Italien lassen keinen Zweifel daran, dass das Sterberisiko jenseits des 70. Lebensjahres steil ansteigt, obschon es auch in dieser Kohorte noch viele milde Verläufe gibt. Hochrisikoorte sind Alten- und Pflegeheime. Faktisch bieten diese Einrichtungen, deren Zufahrten mit „Seniorenheim“ beschildert sind, eine hospizähnliche Betreuung auf höchsten Pflegestufen.

Das Durchschnittsalter der deutschen Corona-Toten beträgt 81 Jahre, liegt also in der näheren Umgebung der statistischen Lebenserwartung. Was sagt (uns) diese Zahl, wenn sie nicht schlechterdings moralisch irrelevant ist? Sie eröffnet die Möglichkeit, das Prinzip des unendlichen Werts eines jeden Menschenlebens als Abstraktion von dem zu denken, was tatsächlich und unwiederbringlich mit jedem Tod verloren geht: nämlich individuell gelebte Lebenszeit. Diese Möglichkeit durchdenke ich nur im Konjunktiv. Der Verlust an Lebensjahren wäre (!) auch innerhalb einer Moral des „Leben retten“ ein anderer bioethischer Parameter als die Zahl der Toten. Auf diesem Parameter könnte sogar die Triage ex post legitimiert werden, denn eine unserer bioethischen Intuition besagt, dass einen starken Anspruch auf Rettungs(versuche) hat, wer noch viel Leben vor sich hat. Der vorzeitige Tod wäre schlimmer als der Tod in einem Alter, in dem das natürliche Sterberisiko an sich hoch ist. Alter und Allgemeinheitszustand wären somit keine Behandlungskriterien, die willkürlich und illegitim diskriminierten. Das Minimierungsziel veränderte und spezifizierte sich dadurch: „Therapiere so, dass in der Summe möglichst wenig Lebenszeit verloren geht!“ Aber durch diese Differenz machte die Moral der „(Menschen)leben retten“ einen weiteren Abstrich bei sich selbst.

Diese Option kommt nicht in Betracht, wenn man die medizinischen Erfolgsaussichten als das alleinige und exklusive Kriterium für die Aufnahme einer Beatmung festlegt. Dies macht medizinethisch guten deontologischen Sinn, da man durch diese Exklusivität die Tür zu einer Lebensbewertung „von außen“ verschlossen hält, die den Ärzten nicht zusteht. Das Verbot der Lebensbewertung durch Ärzte wurde bekanntlich von Hufeland zum Kern des hippokratischen Ethos gerechnet, wobei Hufeland vor den Folgen warnt.[4] Gleichwohl hat dieses exklusive Kriterium einen doppelten Boden. Bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten handelt es sich ja um eine Prognose, die sich in den meisten Fällen verifiziert, wenn man sie der Triage-Entscheidung zugrunde legt. Daher lässt es sich in der klinischen Kasuistik nicht überprüfen, ob nicht andere „stille“ Kriterien bei der Entscheidung eine Rolle gespielt haben. Insofern nimmt das exklusive Kriterium den Status eines Postulats an. Wir dürfen dieses Postulat aus medizinethischen Gründen nicht relativieren, müssen es aber vertrauensvoll der klinisch kontextualisierten Urteilspraxis anheimstellen. Die Moral führt somit bestenfalls zu einem Syndrom aus Postulat und prognostisch-therapeutischer Klugheit.

Jede Epidemie ist zuletzt nur ein Faktor im übergreifenden Sterbegeschehen einer Population. Denn freilich wären in demographischer Betrachtung auch ohne CoVid-19 in diesem Jahr alte und schwerkranke Menschen verstorben. Statistisch betrachtet, muss man also den Einfluss von CoVid-19 auf das normale Sterbegeschehen berechnen. Eine virale Infektion überlagert gerade in den Hochrisikogruppen aufgrund ihrer Schnelle andere Krankheiten zum Tode. Man nehme als extremes Beispiel die Verbreitung von CoVid-19 in einem Hospiz. Es ist somit die epidemologisch-demographische Perspektive selbst, die die Moral des unendlichen Wertes jedes Menschenlebens und des Schutzes der besonders vulnerablen Gruppen relativiert. Diese nüchterne bioethische Relationierung von CoVid-19-Toten in das übergreifende Sterbegeschehen als inhuman zu brandmarken, dürfte der Moral nicht leichtfallen. Umgekehrt wird vielleicht auch ein Schuh daraus: Eine Gesellschaft, die Endlichkeiten verdrängt und die den Tod hinter die Kulissen der Kliniken verlegt hat, mag sich, wenn die trügerische Sicherheit urplötzlich weggeblasen wird, eine Moral zurechtlegen, die verbietet, was nicht sein darf.

Um es ausdrücklich zu wiederholen: Der Bundesgesundheitsminister hat eine sittliche Pflicht gegenüber dem Klinikpersonal, ihm die moralisch verstörende Praxis der Triage zu ersparen. Für sinnvolle und erreichbare Vermeidungsziele mit befristeten Maßnahmen Zeit zu kaufen, erscheint eine berechtigte Strategie. Wenn man auf diese Ziele energisch hinarbeitet, wird der Vorwurf falsch, die Maßnahmen schöben eine „Bugwelle“ nur vor sich her. Der „peak“ bleibt nicht aus, wird aber weniger tödlich.

Verhinderungsziele kann man unterschiedlich formulieren: a) „X darf nicht passieren“, b) „X sollte nicht passieren“. Die moralische Differenz zwischen a) und b) führt auf die Frage ob „alles Menschenmögliche“ getan werden soll, um X zu verhindern. Während a) diese Frage bejaht, würde sich b) auch mit weniger als dem Menschenmöglichen zufriedengeben. Die Qualifizierungen der Verhinderungsziele („alles Menschenmögliche“, „um jeden Preis“) sollten Gegenstand der politischen Debatte sein, nicht die unstreitigen Verhinderungsziele an sich. Dies zwingt der politischen Debatte eine Nuanciertheit auf, die grobschlächtige Rhetorik suspekt macht (siehe Abschnitt „Politik“ im dritten Teil). Bei der politischen Beurteilung solcher Ziele, Konzepte, Strategien und Maßnahmen verbreitert sich der Pool der zulässigen Gründe, und die außermoralischen Gründe (psychologische, ökonomische, kulturelle usw.) lassen sich nicht „außen vor“ halten. Die Moral kann diese Gründe nicht gleichsam auf dem Verordnungswege wegsperren. Die Moral gelangt in der Reflexion auf sich selbst letztlich zur Einsicht, dass sie nicht über der gesamten lebenspraktischen Vernunft stehen kann und darf. Daher geht die Moral notwendig in Sittlichkeit (Gemeinschaft, Ökonomie, Politik) über. Sie muss, mit Hegel gesagt, in der Sittlichkeit „aufgehoben“ werden.

Familie und Gemeinschaftsleben

Kleinfamilien befinden sich im Stresstest, Kinder dauerhaft beschäftigen zu müssen. Die aufgeräumte Wohnung wirkt öde, die unaufgeräumte Wohnung verschlampt. Am schlimmsten trifft es alle ohne ein häusliches Umfeld, in das sie sich zurückziehen können: die Obdachlosen. Sie sind der Verwahrlosung preisgegeben. Obwohl sie prinzipiell über sozialrechtliche Ansprüche verfügen, können diese faktisch weder geltend gemacht noch eingelöst werden. Die diakonischen Betreuungsangebote brechen weg. Die Gesellschaft kann den Schlechtestgestellten das menschenwürdige Existenzminimum nicht gewähren, das alle Gerechtigkeitstheorien fordern (bspw. John Rawls und Martha Nussbaum). Die folgenden, eher phänomenologischen Beschreibungen des Lebens auf den „besseren Plätzen“ sind so zu lesen, dass der Schatten des Elends derer, die unbehaust sind, ständig auf ihnen liegt. Ohne ein solches Eingedenk-Sein, das politisch nicht folgenlos bleiben darf, wären diese Beschreibungen nicht zu rechtfertigen. Auf den „besseren Plätzen“ werden die Privilegien des Eigenheims mit Garten und den Nebengebäuden gerade im Frühjahr auffällig.

Die Normativität der Pandemiebekämpfung schlägt auf Lebensstile und Konzeptionen guten Lebens durch. Mit Blaise Pascal gesagt: Sich längere Zeit allein in einem Zimmer aufhalten zu müssen ist die größte Herausforderung hypersozialer Wesen. Mietwohnsiedlungen, Ein-Personen-Haushalte und Altenheime sind besonders negativ betroffen. Auf die Frage nach dem, was er sich nach der Zeit der Kontaktsperre in seinem Altersheim wünsche, antwortete ein Bewohner: „Eine Tasse Kaffee und eine Bockwurst draußen essen.“[5] Alleinsein führt zu Einsamkeit und Isolation. „Die Decke fällt auf den Kopf“; die Enge wird beklemmend. In sozial benachteiligten Haushalten drohen TV- und Alkoholexzesse, sexualisierte Gewalt, Vereinsamung und Depression. Ein Anstieg häuslicher Gewalt und höhere Scheidungsraten werden prognostiziert. Kleinfamilien befinden sich im Stresstest, Kinder dauerhaft beschäftigen zu müssen. Die aufgeräumte Wohnung wirkt öde, die unaufgeräumte Wohnung wirkt verschlampt.

Demgegenüber werden die Privilegien des Eigenheims mit Garten und den Nebengebäuden auffällig, wo im Frühjahr immer etwas zu tun ist. Die Möglichkeit der Hauswirtschaft im „oikos“ wird nicht als Last erfahren, sondern als Beschäftigungstherapie aufgewertet. Man kann tun, wofür sonst die Zeit fehlt: Bücher und Fotos sortieren, Akten abheften, Möbel auffrischen, entrümpeln. Die Vorratskammer wird zum kognitiv anspruchsvollen Ort, da es einen Essensplan auszuarbeiten gilt. Die Bevorratung wird wieder zum Kern der Hauswirtschaft; der Garten wird als Ort des Nahrungsanbaus ernsthaft in Erwägung gezogen. Gerade in der Situation, in der die Supermärkte zum unentbehrlichen Rückgrat der Versorgung werden, gewinnt der Gedanke an eine partielle Selbstversorgung an Bedeutung. Es werden Beete angelegt. Die altbekannten Gesundheitstipps fallen jetzt auf fruchtbareren Boden, da zu befürchten steht, dass im höheren Lebensalter der gesundheitliche Allgemeinzustand über einen Zugang zu einem Beatmungsgerät entscheiden könnte.

Es fällt nicht schwer, Tendenzaussagen zu formulieren, welche Lebensstile mit welchen Einschränkungen besser oder schlechter zurechtkommen. Es gibt extrovertierte und introvertierte, aktive und kontemplative Lebensstile, und es ist kein Zufall, dass Astronauten zu Lebensratgebern werden. Mit sich selbst etwas anfangen können, ist die Lebenskunst, die jetzt zählt. Unsere extrovertierte Kultur hat sie lange belächelt. Yoga, Meditation, Gebet, Zwiesprache, Lektüre, Musik sind eher beschauliche Tätigkeiten, die die Zeit nicht nur vertreiben, sondern mit Sinn und Bedeutung füllen. Zeitweilige Suspendierung des gewohnten Lebens als „Intermezzo“ bzw. „Kontingenzeinbruch“ (Luhmann) kann auch eine bereichernde existenzielle Erfahrung sein.

Die Freude an dem, was noch geht, wird zum belebenden „Götterfunken“. Dies gilt besonders für Naturkontakte zu Frühlingsanfang. Aus Vorpommern gesprochen: Buschwindröschen, Kleiber, Schwarzspecht, Meisen. Die ersten Kraniche und Störche. Balzende Amseln im Garten. Nie schmeckte die frische Luft beim Atmen frischer. Löwenzahn- und Bärlauch-Salat. Eine Runde mit dem Rad über leere Kreisstraßen. Generell gesagt: Naturphänomenologisch geschulten Augen, Ohren und Nasen wird es draußen nie langweilig. Die Umgebungslandschaft in ihren Details zu verspüren, ist immer voller Erfahrungen. Für naturverbundene Menschen ist Hausarrest schier unerträglich. Dies zeigt, dass die Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer Einschränkung lebensformrelativ ist.

Für Christ*innen mag soziales Fasten eine besondere Erfahrung der Fastenzeit vor Ostern sein. Vielleicht würde durch leicht gelockerte Regeln der gemeinsame Osterspaziergang der Stadt- und Dorfbewohner*innen (im gebührenden 2-Meter-Abstand) zur kollektiven Erfahrung eines Festes und zur gemeinsamen Feier des Frühjahrs. Christ*innen könnten und sollten der in der Geschichte der Christenheit einzigartigen österlichen Situation, dass die höchste Feier ohne kirchlichen Gottesdienst vollzogen werden muss, ein spirituelles Flair sui generis verleihen, für das die liturgischen Vokabeln bislang noch fehlen.

Nun gibt es allerdings auch säkulare extrovertierte Konzeptionen guten Lebens, die großen Wert auf ein selbstbestimmtes familiäres und geselliges Leben legen: Besuche, Reisen, Sport, Liebe, Freundschaft, Feiern, Party machen, Rumhängen in „peer groups“. Einander besuchen zählt zur menschlichen Lebensform. Menschen als hypersoziale Wesen wollen beisammen sein, wollen sich umarmen, wollen gemeinsam essen und trinken. Dieser vitale, leibhaftige Drang zur Geselligkeit lässt sich auf Dauer nur zu hohen psychischen Kosten normativ unterdrücken. Dauerhafter Geselligkeitsverzicht ist keine Option. Die Digitalisierung der Freundschaft und die Wiederentdeckung des Telefons sind auf Dauer nur höchst unvollkommene Substitute für geselliges Beisammensein unter leiblich Anwesenden.

Abstandsregeln einzuhalten, führt zum performativ gelebten Paradox eines Gemeinsinns auf Distanz. Das gemeinsame Singen auf Distanz am Balkon wird zum Sinnbild neuer Gemeinschaftsformen. Ob die kulturellen Sitten des Handschlags (Deutschland) und der Umarmung (Italien) zurückkehren, wird die Zukunft weisen; die kulturphilosophische Reflexion fragt, was „uns“ solche Konventionen bei Begrüßungen und Verabschiedungen „wert sind“. Wenn die italienischen Verhaltensformen der Umarmungen und Küsse epidemisch desaströs gewesen sein sollten, wird körperliche Distanz noch längere Zeit währen müssen. Die Kulturphilosophie des „social distancing“ muss noch geschrieben werden, wobei Georg Simmel und Walter Benjamin Pate stehen könnten.

Wachsender Gemeinsinn in der Krise und auf Distanz ist nicht zu übersehen: Hilfsbereitschaft im Nahbereich, Gespräche mit Nachbarn übern Gartenzaun, Gesten der Höflichkeit bei der Abstandnahme im öffentlichen Raum, aber auch verstärkte soziale Kontrollen untereinander.[6] Allerdings ist dieser Gemeinsinn partikular: kommunal, regional, vor allem national. Die Stärkung partikularen Gemeinsinns lässt sich soziologisch konstatieren, aber sie kann freilich auch für nationalistische Politiken ausgenutzt werden.

Horkheimer machte in den USA die Erfahrung, dass ihm nur das Stiftungsgeld Sicherheit bot. Versuche, sich einen sicheren Platz zu kaufen, sind gegenwärtig für die Mehrheit erschwert. In den USA wollen sich viele Sicherheit mit Waffen kaufen. Das Verhalten einiger reicher Personen, die Yachten besitzen, folgt implizit der Maxime, wonach es für Reiche immer einen „Platz in den Booten“ geben wird. Wenn Reiche sich auf ihre Yachten in maritime Quarantäne begeben, so haben wir den (obszönen) Fall einer „life boat ethics de luxe“ vor uns. Damit ist der größtmögliche soziale Kontrast zu den prekären Verhältnissen in Wohnsiedlungen markiert. Illusionär ist es zu glauben, wir säßen alle im gleichen Boot. Eine phänomenologische Untersuchung der Lebensführung muss um Bestimmungen ergänzt werden, die in den Bereich der politischen Ökonomie der Verhältnisse führen.


[1] Der Film „Apokalypse Now“, der auf Conrads „Heart of Darkness“ zurückgeht, spielt mit dem Motiv des „horror trip“ unter dem Einfluss von LSD.

[2] „Sexualität und Wahrheit“, Bd. 1, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1979, S. 167.

[3] Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise – Ad-hoc Empfehlung, 27.3.2020, S. 4. https://www.ethikrat.org/mitteilungen/2020/solidaritaet-und-verantwortung-in-der-corona-krise/

[4] Der Arzt „soll und darf nichts anderes thun, als Leben erhalten; ob es ein Glück oder ein Unglück sey, ob es Wert habe oder nicht, dies geht ihn nichts an. Und maßt er sich an, diese Rücksicht in sein Geschäft aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar, und der Arzt wird der gefährlichste Mann im Staat.“ (Christoph Wilhelm Hufeland, Die Verhältnisse des Arztes, 1806)

[5] Altenheimbewohner leiden unter Einschränkungen, Nordmagazin vom 27.3.2020.