Coronadenken 1/3 - Gesellschaft und Recht

Analyse

Die Corona-Pandemie stellt unsere Gemeinwesen vor unbekannte Herausforderungen. Heikle Fragen moralischer und politischer Art sowie des Zusammenlebens müssen beantwortet werden. Der  Kieler Philosoph und Umweltethiker Konrad Ott bietet in diesem Essay, den wir in drei Teilen präsentieren, eine Orientierungshilfe in den schwierigen Zeiten von Corona.

Coromadenken - Mundschutz

Das gesellschaftliche Leben, so wie wir es kennen, kommt im März 2020 in Deutschland zum Erliegen bzw. wird durch Appelle und Verbote sukzessive zum Erliegen gebracht. Das ist für uns alle neu. Deshalb habe ich mir dazu einige Gedanken gemacht, die ich wegen des Umfangs hier in drei Folgen anbiete: Zunächst geht es um die Situation an sich, in der wir uns befinden, und die entsprechenden rechtlichen Grundlagen; danach mache ich mir ein paar Gedanken über die moralischen Implikationen und die Folgen für Familie und Gemeinschaftsleben; ich beschließe meinen Beitrag mit Überlegungen zu Ökonomie und Politik in Zeiten von Corona.   

Wie kann eine Gesellschaft auf eine Epidemie reagieren?

Die Entstehung und Verbreitung von CoVid-19 zur Pandemie ist als Faktizität hinzunehmen. Es ist allerdings keine reine Naturkatastrophe. Fledermäuse übertragen Corona-Viren auf Zwischenwirte, die auf chinesischen Wildtiermärkten konsumiert worden sind. Das Verbot des Wildtierhandels konnte in China auch nach früheren Corona-Epidemien nicht durchgesetzt werden, obschon allen bekannt ist, dass diese Märkte ein „melting pot“ der Zoonosen sind.

Besonderes Problem von CoVid-19 ist die Inkubationszeit, d.h. Infizierte sind mehrere Tage symptomfrei und verbreiten währenddessen das Virus. Ohne Gegenmaßnahme erfolgt dadurch eine exponentielle Verbreitung in der Bevölkerung. Die Ansteckungsrate R ist für den Verlauf des Infektionsgeschehens von zentraler Bedeutung. Die Verläufe bei CoVid-19 sind höchst unterschiedlich und streuen von sehr milden, milden, mittelschweren, schweren bis hin zu sehr schweren und tödlichen Verläufen. Unbestreitbar besteht ein überproportionales Risiko für hochbetagte und vorgeschädigte Menschen (Diabetes, Krebs, Asthma, Schlaganfall, Lungenkrankheiten wie COPD oder Mukoviszidose etc.). An Medikamenten und Impfstoffen wird intensiv geforscht. Hoffnungen ruhen auf der Kombination von zwei Malariamedikamenten, Chloroquin und Azithormycin. Allerdings ist die Dosierung fraglich; die Medikamente scheinen am besten zu wirken, wenn noch unklar ist, welchen Verlauf die Infektionskrankheit nehmen wird, während die Wirkung bei schweren Verläufen nachlässt.  Chloroquin-Studien sind angelaufen.

Eine atypische beidseitige Lungenentzündung ist die CoVid-19-Krankheit, die zum Tode führen kann. Bislang verfügen wir weder über Medikamente noch Impfstoff, sondern nur über die Möglichkeit, schwerste Verläufe auf Intensivstationen zu beatmen. Die Sterbewahrscheinlichkeit ist uneindeutig. Dividiert man die Anzahl der weltweit identifizierten Fälle durch die Anzahl der Verstorbenen, die als CoVid-19-Tote klassifiziert werden, so kommt man auf ein Sterberisiko von etwa 5 Prozent. Allerdings gibt es die Dunkelziffer der Infizierten, die nicht erfasst, weil nicht getestet worden sind, und deren Krankheitsverlauf einen (sehr) milden Verlauf nahm, wie er bei den meisten der erfassten Fälle zu beobachten ist. Da sich Dunkelziffern ex definitione nicht oder nur spekulativ beziffern lassen, ergibt sich eine Sterberate von x<  5 Prozent. Wäre die Dunkelziffer hoch, so wäre die Mortalität entsprechend geringer.

Viele der Verstorbenen waren aber auch im terminalen Stadium einer anderen Krankheit oder auf hohen Pflegestufen. Dadurch relativiert sich das Sterbegeschehen auf eine Weise, die sich nicht mehr exakt berechnen lässt, aber die ethische Frage nach der angemessenen Recheneinheit aufwirft: Menschenleben oder Lebensjahre. Diese Frage wirft Bettina Schöne-Seifert („Wen soll man sterben lassen“, FAZ vom 31. März) implizit auf. Allein die Frage an sich erscheint vor dem Hintergrund eines kantianisch geprägten normativen Individualismus moralisch skandalös. Deshalb werden wir im Abschnitt über Moral auf sie zurückkommen (müssen).

Wie kann eine Gesellschaft auf eine Epidemie reagieren? Vier Strategien kommen in Betracht: a) „chinesische“ Strategie: massive Einschränkungen beim ersten Auftreten (ähnlich Singapur, Japan, Taiwan). Dabei ist zu sagen, dass China selbst zwischen November und Neujahr viel Zeit hat verstreichen lassen. Der b) allmähliche Aufbau von Herdenimmunität in der Bevölkerung bei größerer Liberalität und einer als möglich unterstellten Abschottung der Risikogruppen. Dazwischen liegt c) das sich über Wochen (Mitte Februar bis Mitte März) hinziehende allmähliche Einschränken des öffentlichen Lebens. Seit der Antike ist das Problem des Mittelwegs als der womöglich schlechtesten Strategie geläufig. Die c)-Strategie hat wohl (Stand Ende März) die Nachteile der „chinesischen“ und der Herdenimmunität-Strategie verbunden: massive Freiheitseinschränkungen ohne Erfolge bei der Eindämmung der Epidemie. Es wurden noch Pokalspiele in vollen Stadien ausgetragen, als das Virus schon in NRW unterwegs war. Die Einsicht in den „Ernst der Lage“ stand nur wenigen klar vor Augen und dämmerte vielen erst allmählich, den Autor eingeschlossen. Die kurze Frist, ohne unmittelbaren Handlungsdruck über Maßnahmenbündel debattieren zu können, wurde bereits zum Jahreswechsel verpasst. CoVid-19 traf uns trotz der Bilder aus Wuhan unvorbereitet. Eine interessante vierte und offensichtlich erfolgreiche Strategie verfolgte Süd-Korea. Hier d) gelang es, durch effektive Maßnahmenbündel (Testen, Mundschutz, Apps usw.) die Infektionsrate zu drücken und eine gewisse Offenheit des gesellschaftlichen Lebens zu bewahren. Allerdings war Süd-Korea durch die Erfahrungen mit früheren Epidemien offenbar gut vorbereitet. Deutschland könnte für die anstehende Zeit der „Lockerungen“ von Süd-Korea lernen.

Wenn die Diagnosen zuträfen, so implizieren sie nicht unbedingt einen Vorwurf an die Politik. Man hätte die „drakonischen“ Maßnahmen vom 22. März zwar „prinzipiell“ bereits Ende Februar ergreifen können, aber dies hätten viele als (völlig) unverhältnismäßig empfunden. Die meisten Menschen können sich Exponentialkurven nicht vorstellen (ähnlich wie Zinseszinseffekte über lange Zeiträume), und sie können Konsequenzen einer lebensweltlich ungewohnten Situation nicht überblicken (etwa Konsequenzen für Alten- und Pflegeheime). Die wenigsten Menschen mögen Einschränkungen des gewohnten Alltaglebens. Die Routinen des Alltags stabilisieren die Lebensführung, wie man aus den Studien zur Phänomenologie des Alltagslebens weiß. Freilich kann die Philosophie auch eine Phänomenologie des infektionsrechtlich reduzierten Lebens betreiben, und ich werde im Abschnitt über das Gemeinschaftsleben kurz darauf eingehen.

Der entscheidende Faktor ist die Zeit. Die Dauer, die virologisch geboten sein mag, und die Zeit, die eine Gesellschaft sich für eine Zwangspause geben kann, sind nicht synchronisiert. Termine der Abiturprüfungen, laufende Fixkosten, die Möglichkeiten von Verschiebungen korrespondieren nicht mit den Zeiten, die Virologen für sinnvoll oder für geboten erachten, um die Kurve abzuflachen. Denn dies ist das virologische Mantra: „flatten the curve“. Es ist korrelativ zu den Kapazitäten des Kliniksystems.

Interpretationen virologischer Daten verknüpfen sich mit moralischen Forderungen und rechtlichen Maßnahmen. Dem Robert-Koch-Institut ist eine politische Rolle zugewachsen. Wissenschaftsethisch ist freilich klar, dass Virologen (synonym: „Epidemologen“) keine gesellschaftspolitischen Entscheidungen treffen können. Die Virologie kann grundsätzlich nur hypothetische Empfehlungen abgeben: Wenn eine Gesellschaft G ihre normativen Argumente A auf eine Zielfunktion Z ausrichtet, dann können wir über die hierzu geeigneten Maßnahmen M informieren. Die normative Bestimmung des Antezedens (A Z) fällt nicht in den Kompetenzbereich der Virologie. Die Wissenschaft kann uns nicht sagen, was wir tun sollen. Sie kann nur Regeln der Geschicklichkeit und Ratschläge der Klugheit mit auf den Weg geben.[1] Wenn allerdings bei bestimmten Strategien Millionen Tote zu beklagen sein könnten, scheiden solche Strategien aufgrund des moralischen „sensus communis“ aus. Der moralische Syllogismus (1. S führt zu K. 2. K ist moralisch unannehmbar. 3. Also ist S falsch.) zieht sich dann in eine unhinterfragbare, scheinbar rein wissenschaftliche Evidenz zusammen.  

Um nicht bloß zu fragen, was wir tun könnten, sondern um zu fragen, was wir als bundesrepublikanische Gesellschaft tun sollten, bedarf es einer geeigneten Methodik. Ein utilitaristisches Kalkül scheidet meines Erachtens aus. Die Maximierung der Gesamtdifferenz zwischen positiven und negativen mentalen Zuständen („pleasure“ versus „pain“) angesichts unterschiedlicher Handlungsstrategien lässt sich nicht berechnen. Wollte man ernsthaft ein gesamtgesellschaftliches utilitaristisches Kalkül anstellen, müsste man die im Folgenden zu durchlaufenen Sphären „durchrechnen“.   

Ich wähle eine hegelianische Perspektive auf normative Umgangsweisen mit der CoVid-19-Epidemie in den unterschiedlichen Sphären des „Rechten“. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts ist generell eine methodische Linienführung durch alle Sphären einer ausdifferenzierten modernen Gesellschaft, in denen es um Normativität, d.h. um das „Richtige“ geht. Diese Sphären sind das formelle Recht, die Moral, die Familie und das Gemeinschaftswesen, die Ökonomie und die Politik. Die Moral ist dabei nur ein Moment der praktischen Vernunft, kein abstraktes Absolutum. Auf diesen Punkt möchte ich als Ethiker im Abschnitt über die Moral ausführlich zurückkommen. Meine These zur Moral möchte ich hier aufstellen: Die Reflexion der Moral auf ihre eigenen Antinomien im rechten Umgang mit der Pandemie nötigt ihr eo ipso eine Selbstrelativierung ab. Ich werde versuchen, diese These einzulösen.

Ich verbinde zwei Arten der Diskursivität. Die erste, hegelianische Diskursivität ist das Durchlaufen der Sphären des Richtigen, da jede dieser Sphären von CoVid-19 in dramatische Bewegungen versetzt wird und auf die Herausforderung („challenge“) in der ihr eigenen Logik bzw. in der zweistufigen Form von Code und Programm (sensu Luhmann) antworten muss („response“). Es soll deutlich werden, dass sich in jeder Sphäre Widersprüche bilden müssen, die über die einzelnen Sphären hinaustreiben. Diese Widersprüche können die Gestalt von Paradoxien, Aporien und Dilemmata annehmen. Es handelt sich angesichts einer Pandemie unweigerlich um eine negative Dialektik (sensu Adorno).  Bei diesem in sich widersprüchlichen Durchgang soll der „Konfliktstoff“ sowohl transparent als auch der Analyse zugänglich werden und damit die opake Gestalt eines Gordischen Knotens verlieren, den man nur willkürlich und gewaltsam zertrennen kann. Die zweite, habermasianische Diskursivität soll daher als kritische Prüfung vorgebrachter Argumente durch alle Sphären mitlaufen. Diese Prüfung erstreckt sich auch auf die Begrifflichkeit und die „frames“, in denen bestimmte Argumente formuliert werden. Diese in sich gedoppelte Diskursivität macht deutlich, dass am Ende des Durchgangs mehr herausspringen muss als der Gemeinplatz, die Gesellschaft müsse einen Diskurs führen, wie es nach der Epidemie weitergehen solle. Zuletzt erfolgen daher politische Vorschläge, wie zu handeln und zu entscheiden sei. 

Formelles Recht

[2] Das Infektionsschutzgesetz (IfSG), vor allem dessen § 28, wird als Ermächtigungsgrundlage für Ordnungs- und Polizeirecht, also für Maßnahme- und Verordnungsrecht herangezogen. Das Infektionsschutzgesetz war seit Jahrzehnten ein „schlafendes“ Gesetz, für das sich die Jurisprudenz nicht sonderlich interessiert hat. Plötzlich mutiert es zu einem Gesetz, auf dessen Grundlage der Gesetzesvorbehalt vieler Grundgesetz-Artikel greift. Die bürgerlichen Rechte werden seuchenrechtlich eingeschränkt. Unbestimmte Rechtsbegriffe wie „notwendige Maßnahmen“, „vollziehbare Anordnungen“, „soweit erforderlich“, „Verhältnismäßigkeit“ usw. dominieren. Verstöße gegen Verordnungen gelten als Straftatbestände und werden dementsprechend mit harten Sanktionen bewehrt. Wenn Amtsleiter, wie auf Rügen geschehen, vor laufender Kamera offenherzig einräumen, dass sie „verdeckte Ermittler“ einsetzen, um die Einhaltung der Maßnahmen zu kontrollieren (NDR-Nordmagazin vom 27.3.2020), dann sind die Grenzen des rechtsstaatlich Erträglichen überschritten. Der Wortlaut des § 28 IfSG rechtfertigt nun aber keine Ausgangsbeschränkungen. Diese Auffassung scheint sich unter Juristen durchzusetzen.

Eine juristische Analyse stellt sich folgendermaßen dar: Die Verordnungen, Maßnahmen und Bestimmungen, welche die Länder und der Bund, zur Eindämmung der Pandemie ergriffen haben, erhalten faktisch viel Zustimmung aus der Breite der Gesellschaft. Die Bewertung, ob diese Maßnahmen rechtmäßig sind, obliegt jedoch nicht dem Rechtsgefühl der Laien, den Medizinern oder dem Robert-Koch-Institut, sondern der Judikative.

Ob die getroffenen Maßnahmen also rechtmäßig sind, soll am Beispiel Nordrhein-Westfalen untersucht werden. Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Karl-Josef Laumann, hat am 22.03.2020 seinen Namen unter die „Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2“, kurz „CoronaSchVO“, gesetzt. Zum Erlass einer solchen Verordnung können Landesregierungen gem. Art. 80 I S.1 GG befugt sein, solange sie hierzu per Gesetz ermächtigt werden. Eine solche Ermächtigung findet sich im § 32 Infektionsschutzgesetz (IfSG). Das IfSG erlaubt den Landesregierungen, Verordnungen auszugestalten und zu verabschieden. Das Gesetz, auf Grundlage dessen die Verordnung erlassen wird, muss jedoch Zweck und Ausmaß der Ermächtigung bestimmen. Diese bedeutet im Speziellen, dass die Landesregierungen die Gestaltung ihrer Verordnung zwar an ihre eigenen Bedürfnisse anpassen kann, sich in der Verordnung aber nichts finden darf, was sich nicht der rechtlichen Grundlage entnehmen lässt. Andernfalls entbehrt die Verordnung der Grundlage. So spricht auch der § 32 S.1 IfSG davon, dass eine Verordnung die in den §§ 28-31 IfSG beschriebenen Maßnahmen nur dann anwenden darf, wenn für die jeweiligen Maßnahmen die Voraussetzungen erfüllt sind. Nur dann dürfen entsprechende Ge- und Verbote erlassen werden.

Die Maßnahmen, welche die §§ 28- 31 IfSG anordnen, werden in §§ 28 I S. 1 Hs. 1, 29 I, 31 IfSG beschränkt auf Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider. Dies bedeutet, dass eine Person, welche durch die Verordnung einem Ge- oder Verbot unterworfen wird, eines dieser Gruppenmerkmale aufweisen muss. In der Verordnung der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen tauchen diese einschränkenden Gruppenmerkmale jedoch in keinem der insgesamt 15 Paragraphen auf. Vielmehr werden pauschal Ge- und Verbote an die Allgemeinheit ausgesprochen. So spricht der § 12 der CoronaSchVO etwa, welcher Ansammlungen im öffentlichen Raum regelt, nicht von Erkrankten oder Erkrankungsverdächtigen, sondern von „Personen“. Diese Ausweitung der Maßnahmen auf faktisch jede Person ist nicht vom § 28 IfSG vorgesehen. Damit widerspricht die CoronaSchVO ihrer Rechtsgrundlage. Die Verordnung und die Rechtsgrundlage sind nicht im Einklang, weshalb § 28 IfSG nicht als Rechtsgrundlage für Beschränkungen der Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum herhalten kann.

So bliebe nur die Möglichkeit, alle Bundesbürger*innen und alle sich auf deutschem Staatsgebiet aufhaltende Personen als Ansteckungsverdächtige zu betrachten.  Bei der Anzahl an Infizierten von etwa 85.000 (Stand: 3. 4. 2020) und einer nicht-quantifizierbaren Dunkelziffer bedeutete dies aber, dass mehr als 99 Prozent der Bevölkerung pauschal ohne Nachweis zu Verdachtsfällen erklärt werden müssten. Ob eine solche Ausweitung der Gruppenzugehörigkeit („Alle Personen gelten als Krankheitsverdächtige“) rechtmäßig ist, erscheint dringend klärungsbedürftig. 

Angenommen, man würde jede einzelne Person im Bundesgebiet als Verdachtsfall sehen, so würde sich eine interne Differenzierungsdiskrepanz ergeben. Es würde dann nämlich keinen Sinn ergeben, warum nicht jede Person unter häusliche Quarantäne gestellt wird, wie es mit denjenigen geschieht, bei denen das Virus nachgewiesen wird, oder bei denen, die mit guten Gründen als Verdachtsfälle behandelt werden dürfen. Ein Beispiel für letztgenannte Gruppe sind die 20 Rückkehrer*innen aus Wuhan, die nach ihrer Ankunft in Berlin 14 Tage in Quarantäne verbleiben mussten. Diese Quarantäne erscheint rechtlich zulässig. Man kann aber nicht willkürlich zwischen denjenigen Verdachtsfällen unterscheiden, die man in Quarantäne nimmt, und allen übrigen Personen, die zwar zu Verdachtsfällen definiert werden, denen man aber mehr Freiheiten belässt. Wären wirklich alle Personen Verdachtsfälle, so wäre es sogar verantwortungslos, Ausnahmen zu machen, wie sie in § 12 I Nr. 5 CoronaSchVO gemacht werden. Daraus ergibt sich das Paradox, dass wir alle als Verdachtsträger eingestuft werden müssen, aber nicht alle entsprechend behandelt werden dürfen. Dies ist ein immanenter Widerspruch. Man könnte versuchen, den Widerspruch zu heilen, indem man Verdachtsfälle ersten, zweiten, dritten und x-ten Grades unterscheidet und jedem Grad unterschiedliche Restriktionen zuordnet. Dadurch türmte man jedoch immer weiteres Maßnahmenrecht auf eine brüchige Rechtsgrundlage.

Nun gibt es im § 28 IfSG auch den Halbsatz „sie (d.h. die zuständige Behörde - KO) kann auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind“. Für manche ist das der entscheidende Satz, welcher die Kontaktbeschränkungen rechtfertigt und den Verordnungen ihre Rechtsgrundlage verschafft. Dieser Halbsatz des § 28 IfSG ist jedoch nicht darauf gerichtet, Menschen in die häusliche Isolation zu schicken und sie aus dem öffentlichen Raum weitestgehend fernzuhalten, vielmehr zielt dieser Halbsatz auf eine zeitlich und räumlich eng begrenzte Möglichkeit ab, kurzfristig Maßnahmen zu ergreifen, welche einer Verbreitung eines Virus oder einer Krankheit vorbeugen. Denkbar sind hier etwa Anordnungen, ein Flugzeug oder ein Haus zu verlassen oder es nicht zu verlassen, bis infizierte Personen identifiziert und isoliert wurden, oder das Gebäude oder Flugzeug von Erregern gereinigt wurde. Die Isolierung aller Passagiere auf Kreuzfahrtschiffen, d.h. das Verbot, das Schiff zu verlassen, wenn bei einem Passagier CoVid-19 nachgewiesen wurde, ließe sich nicht ohne weiters gemäß § 28 IfSG rechtfertigen. Ein wochenlanges allgemeines Kontaktverbot hingegen, welches tief in Grundrechte eingreift, lässt sich mit § 28 nicht rechtfertigen, wie auch Andrea Edenharter (Ostsee-Zeitung vom 26. 03. 2020) ausführt. 

Festzuhalten ist, dass § 28 IfSG weder pauschale Ausgangssperren noch generelle Einschränkungen im Bereich der Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum zulässt.

Doch im eilig novellierten § 28 des IfSG werden jetzt mit Wirkung vom 27. März 2020 Grundrechtseingriffe für zulässig erklärt. Damit wurde eine Rechtsgrundlage geschaffen, die allerdings das Grundproblem eher hervorhebt, als es zu lösen. So heißt im novellierten § 28 in lapidarem Ton, die Art. 2, 8, 11, und 13 GG „werden insoweit eingeschränkt“.

Im Gefolge des auf § 28 IfSG aufgebauten Maßnahmenrechts kommt es zur Einschränkung folgender verfassungsrechtlich gewährter bürgerlicher Grundfreiheiten:

  • Versammlungsfreiheit (Demonstrationen). Der Gesetzgebungsvorbehalt des Art. 8 (2) bezieht sich nur auf Versammlungen unter freiem Himmel. Versammlungen in Sälen wären weiterhin zulässig, sind aber faktisch verboten. Hier tritt das Recht in eine Antinomie: Es wird verboten, was nicht verboten werden darf.
  • Religionsfreiheit (Gottesdienste, Beerdigungen). Zur Ausübung der Religion nach Art 4 (2) gehört zentral die gemeindliche Feier des Gottesdienstes, die ausgesetzt ist. Hier könnte man sagen, dass der Staat keine Verbote erlassen hat, sondern die Kirchen freiwillig einem Ersuchen des Staates nachgekommen sind.   
  • Gewerbefreiheit und Berufsausübung. Art 12 (1) sagt, dass die Berufsausübung „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt“ werden kann. Dabei dürfte der Verfassungsgeber aber kaum primär an das IfSG gedacht haben, sondern an die Schrankenwirkung vieler sinnvoller Einzelgesetze wie etwa dem Lebensmittelrecht, dem Tierschutzgesetz oder umweltrechtlichen Bestimmungen.
  • Freizügigkeit im gesamten Bundesgebiet (etwa Reisen über Ostern an die Ostsee). Allerdings erwähnt Art 11 (2) ausdrücklich „die Bekämpfung von Seuchengefahr“. Diese Einschränkung erscheint somit direkt zur Begründung von Restriktionen einschlägig.
  • Eigentum (etwa über Ostern Zweitwohnung auf Usedom nutzen wollen).
  • Entfaltung der Persönlichkeit (Kunst, Kultur, Sport, Reisen) nach Art 2(1), allerdings eingeschränkt durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz. Der Verweis auf das „Sittengesetz“ ist umstritten.
  • Freiheit von Forschung und Lehre nach Art 5 (3), sofern zu dieser Freiheit auch das Betreten des Hörsaals und des Labors zu rechnen ist. Die Umstellung auf E-Learning ist durchaus ein Eingriff in die Freiheit der Lehre.
  • Asylrecht (Art 16a). Das europäische Asylrecht ist faktisch ausgesetzt.  

Rechte sind in der Verfassung des Grundgesetzes primär als Abwehrrechte gegen den Staat konzipiert. Dies führt zur folgenden normlogischen Implikation: Wenn Personen P („right bearers“) über ein Recht R verfügen (P!R), und wenn zentrale Rechte Freiheitsrechte (FR) sind, und wenn ein FR haben bedeutet, an einer Handlungsweise H nicht gehindert werden zu dürfen, und wenn dies impliziert, dass H erlaubt sein muss, und wenn Freiheitsrechte in der Verfassung des Grundgesetzes Abwehrrechte gegen den Staat sind, dann folgt zwingend, dass der Staat des Grundgesetzes seinen Bürger*innen nicht dauerhaft all das verbieten darf, was ihnen aufgrund ihrer Rechte erlaubt sein muss. Freiheit ist und bleibt mehr als die Einsicht in das virologisch Notwendige. Die freiheitliche rechtsstaatliche Ordnung ist auch nicht einfach ein Gut, das mit anderen Gütern (irgendwie) abgewogen werden kann, sondern vielmehr die Verfassung, innerhalb derer über das Verhältnis konkurrierender Rechtsgüter und die Legitimität von Grundrechtseinschränkungen entschieden werden muss. Aus einer republikanischen Perspektive steht eine epidemisch bedingte Veränderung des allgemeinen Sterberisikos nicht über der Verfassung, die die Korrelation von Bürgerrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sichert. Als Naturwesen wollen wir leben – aber als Bürger*innen wollen wir, mit Aristoteles, Hegel und Hannah Arendt gesagt, in einem Staat guter Gesetze leben.

Die Gesetzesvorbehalte in den einschlägigen Artikeln des Grundgesetzes („durch Gesetz oder auf Grundlage eines Gesetzes“) stehen im Spannungsverhältnis zum Verbot, den Wesensgehalt eines Grundrechtes „anzutasten“ (Art 19 (2)). Der handlungsbezogene Ausdruck „antasten“ kann auf die Möglichkeiten bezogen werden, Grundrechte durch Notstandsverordnungen außer Kraft zu setzen. Von diesen Möglichkeiten haben autoritäre Politiker immer gerne Gebrauch gemacht. Man lässt die Fassade der Verfassung intakt und regiert per Dekret. Natürlich fällt sofort Carl Schmitt ein: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Art 19 (2) ist daher als ein Warnsignal bzw. als eine „rote Linie“ im Grundgesetz selbst zu begreifen, die sich nicht beliebig verschieben lässt. Wer den Wesensgehalt der Grundrechte antastet, legt ipso facto die Hand an die Verfassung.

Was in Ungarn derzeit geschieht, überschreitet alle rechtsstaatlichen Linien. Mit Ungarn hat die EU nun wohl eine Diktatur zum Mitglied, in der das Parlament entmachtet ist und die Presse durch diffuse Straftatbestände faktisch der Selbstzensur unterliegt. Nun wäre es ungerecht, Merkel, Spahn, Laschet, Söder und anderen zu unterstellen, sie betrieben nach ungarischem Vorbild eine Aushöhlung der Verfassung des Grundgesetzes durch Maßnahmen- und Notverordnungsrecht. An der Verfassungstreue der deutschen Regierung besteht kein Zweifel. Demokratische Berufspolitiker sollten aber folgende Prinzipien beherzigen, da seuchenpolizeiliches Maßnahmenrecht zur Routine werden könnte: 

  • Das Infektionsschutzgesetz steht nicht über der Verfassung.
  • Der Wesensgehaltschutz der Grundrechte schränkt Maßnahmenrecht zeitlich ein.
  • Die Befristungen und Beschränkungen müssen bestimmt werden, Generalklauseln sind zu vermeiden.

Allerdings haben die staatlichen Gewalten auch die Verpflichtung, „Schaden vom Volk abzuwenden“, wie es in der Vereidigungsformel heißt. Damit ist ein Übergang zur Moral (und damit zum zweiten Teil) gegeben, denn der Tod ist prima facie der maximale Schaden, der Menschen zustoßen kann.


[1] Die „Herdenimmunitäts“-These, wie sie Patrick Vallance vertritt, ist solche eine auf Annahmen beruhende Empfehlung. Vallances folgende Äußerung zeugt nicht vom Mangel an Selbstbewusstsein: „Mein Job ist es, der Macht die Wahrheit zu sagen.“ (FAZ vom 16. März 2020, S. 20). An dieser Einstellung scheinen Jahrzehnte wissenschaftsethischer Reflexion spurlos abgeperlt zu sein.  

[2] Dieser Abschnitt entstand unter Mitarbeit von Nicolai Ott.