Boris Johnson: Der Krisen-Manager in Zeiten des Coronavirus

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Noch vor wenigen Tagen hatte Boris Johnson den Britinnen und Briten geraten, sie sollen sich  für die „Herdenimmunität“ anstecken. Jetzt hat er die Maßnahmen drastisch angezogen, um die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren.

Boris Johnson
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Premierminister Boris Johnson beim Besuch des Mologic Laboratory in Bedford.

„Bleiben Sie Zuhause. Beschützen Sie das NHS, (National Health System). Retten Sie Leben“. Alle sozialversicherten Bürgerinnen und Bürger in Großbritannien haben am 24. März 2020 diese SMS-Nachricht von der britischen Regierung erhalten. Denn diesmal möchte Boris Johnson nicht den Brexit, sondern Corona „erledigen“, „Get Corona Done“. In 12 Wochen soll der ganze Spuk vorbei sein. Während Johnson den Britinnen und Briten noch vor wenigen Tagen eröffnete, sie sollen sich für die „Herdenimmunität“ anstecken, so hat er jetzt die Maßnahmen drastisch angezogen, um die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren – und hat sich inzwischen selbst, ebenso wie sein Chef-Berater Dominic Cummings, mit dem Coronavirus infiziert. Dafür wendet er sich täglich mit den aktuellen Corona-Entwicklungen an das britische Volk.

Eine 180-Grad-Wendung, die Johnson für seine Zwecke nutzt

Boris Johnson hat gerade noch rechtzeitig eingesehen, dass er seine Karten verspielen würde, würde er weiterhin auf eine flächendeckende „Durchseuchung“ in Großbritannien setzen. Das nationale Gesundheitssystem, das NHS, könnte eine unkoordinierte und unkontrollierte Epidemie im Land nicht bewältigen. Die Zahlen der Intensivbetten in Großbritannien sind erschreckend gering: Etwa sechs Intensivbetten kommen zum Zeitpunkt des Corona-Ausbruchs auf 100.000 Menschen, im Vergleich zu 12,5 in Italien und 29,2 Betten in Deutschland. Laut eines weit verbreiteten Berichts des Imperial College (auf welchen sich auch die Bundesregierung beruft) würden Johnson’s propagierte zielgruppenspezifische Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionszahlen – ohne soziale Distanzierungsmaßnahmen für die gesamte Bevölkerung (einschließlich Home Office bzw. Schulschließungen) – selbst im besten Fall mindestens 250.000 Leben riskieren. Zudem war die Unterstützung des NHS eines von Johnson’s großen Wahlversprechen bei den Parlamentswahlen im Dezember 2019 und bleibt somit ein großes Interesse des frisch vereidigten Premiers.

Darüber hinaus hatte der französische Präsident Emmanuel Macron Boris Johnson darauf hingewiesen, dass er die französischen und europäischen Grenzen nach Großbritannien hin schließen müsse, sollte Johnson sich weiterhin weigern, mit strengeren Pandemie-Maßnahmen zu kooperieren. Laut Catherine Fieschi, Autorin des Buches „Populocracy“, boten diese beiden Ereignisse – das Gespräch mit Macron und die Studie des Imperial College – Johnson die einmalige Gelegenheit, eine politische Kehrtwende zu vollziehen, die ihm für seine Zwecke nutzen würde: Als Krisenmanager in den Zeiten einer Pandemie, eine Rolle, die Johnson selbst wohl etwas zu sehr an die Rolle des Winston Churchill erinnert.

Boris Johnsons Populismus-Strategie geht auch in Corona-Zeiten auf

Der britische Premier hat schnell genug verstanden, dass die Bewältigung der Pandemie mit Lügen und Provokation à la Trump nicht funktionieren würde. Nun beruft er sich auf zwei zentrale populistische Werte: ein neues, britisches Wir und den Common Sense.

Nach Fieschi ermögliche die Krise Boris Johnson die Möglichkeit, den Patriotismus in Großbritannien wieder aufblühen zu lassen. So benötige die Krise im Land nicht etwa eine „geteilte Verantwortung“ wie von Frankreich oder Deutschland propagiert. Das alleinige „Britisch“-Sein werde die Epidemie im Vereinigten Königreich überwinden können. Nach den langjährigen Brexit-Kämpfen, die die britische Gesellschaft tief gespalten haben, könnte die Corona-Krise jetzt eine Art Wiedervereinigung der verbitterten Gesellschaft und der vier Landesteile ermöglichen. Dies unterstreicht Boris Johnson noch durch den Verweis auf die nationale Krise, den „Blitzkrieg“, „Viruspakete“ und weitere Anspielungen auf den Zweiten Weltkrieg.

Der zweite Aspekt von Johnson’s Strategie, so Fieschi, sei die Berufung auf den britischen „Common Sense“. Johnson’s Art der Kommunikation, seine unvollständigen Sätze und seine Sprache impliziere auch in Zeiten von Corona, dass wir alle, also Regierung und Volk, Bürgerin und Premier, derselben Meinung seien. In seinen täglichen Pressekonferenzen beschränkt sich Johnson auf emotionale Ansprachen und die Verkündung der politischen Entscheidungen – und überlässt demonstrativ den medizinischen Expert/innen, seinen „technischen Beratern“, die detaillierten Fragen der Journalist/innen zu beantworten.

Der „Brexit“ ist verschwunden

Gleichzeitig ist das spaltende Thema des Brexit endgültig von der politischen Bühne verschwunden. Und dies ist kein Zufall: Laut Berichten verbot Boris Johnson ab dem Austritt Großbritanniens aus der EU am 31. Januar 2020 die weitere Verwendung des Wortes „Brexit“ in einem durchgesickerten Regierungstext. Die zentrale Regierungsabteilung zum Brexit wurde aufgelöst und eine neue „Taskforce Europa“ gegründet, welche direkt dem britischen Premierminister unterliegt.

Auch die harten Brexiteers haben ihre politische Plattform verloren. Die Kooperation der pro-Brexit Partei UKIP mit der Konservativen Partei und ihr Rückzug in vielen Wahlkreisen bei den Parlamentswahlen ermöglichte eine breite konservative Mehrheit in Westminster – und nahm der UKIP sowie konservativen Hardlinern ihre politische Relevanz. Gleichzeitig setzt sich Boris Johnson derzeit wohl auch im Interesse dieser Wählerschaft für einen englisch-britischen Patriotismus ein.

So haben beide Taktiken der britischen Regierung ermöglicht, das Thema des Brexit und seinen möglichen negativen Auswirkungen verschwinden zu lassen, ohne darüber eine öffentliche Debatte auszulösen – denn über den Brexit als historisches Ereignis und die „freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen souveränen Gleichgestellten“, also mit der EU, wird ja noch geredet. Brexit erledigt, die EU ist weg – was gibt es denn da zumal in Zeiten des Corona, noch zu streiten?

Boris Johnson wird wenig zu verlieren haben

Catherine Fieschi kann sich bereits vorstellen, was Boris Johnson nach der Corona-Krise sagen wird:

„Das Vereinigte Königreich kann auf seinen eigenen Füßen stehen. Wir haben die [Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus] zu einem Zeitpunkt und an einem Ort getroffen, die dem Vereinigten Königreich entsprachen, und nicht, als die Europäer uns sagten, wann wir es tun sollen. Es hilft uns, dass wir gute Beziehungen zu Europa haben, aber wir sind kein Teil Europas, denn wir sind komplett anders als die Europäer/innen. Wie wir sehen können, hätte uns die Mitgliedschaft in der EU nicht vor den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie geschützt. Deswegen müssen wir jetzt das globale Großbritannien sein.“

So könnte es sein, dass Boris Johnson trotz des Brexit-Debakels und der weltweiten Corona-Pandemie gestärkt aus dieser Krise hervorgehen wird.