Verkannte Heldinnen: Frauen mit weißen Helmen

Kommentar

Die unbekannten Heldinnen in Syrien verdienen mehr Aufmerksamkeit: Weibliche Weißhelme und ihre Kollegen, die jeden Tag Leben und die Wahrheit retten.

Weibliche Weißhelme im Einsatz

Jeder Krieg hat verkannte Held/innen. In Syrien sind es vor allem die humanitären Ortskräfte, die im wahrsten Sinne des Wortes ihr Leben riskieren, um anderen zu helfen. Sie sind allerdings noch weniger sichtbar, wenn sie weiblich sind. Das liegt zum einen an den gesellschaftlichen Limitationen, denen Frauen vor allem in konservativen Gemeinden unterliegen, und zum anderen an der Tatsache, dass es viele Stimmen gibt, die Frauen nicht an der humanitären Frontlinie dulden.

Der morgige Weltfrauentag ist deswegen ein ausgezeichneter Moment, um die Stimmen dieser Frauen zu verstärken und ihre heroische Arbeit in den Fokus zu rücken. Sie verdienen es aus dem Dunkel ins Rampenlicht zu treten.

Der Konflikt in Syrien hat viele solche verkannte Held/innen. Nahmhaft sind die Weißhelme[1], sie sind offiziell als Syrische Zivilschutz (SCD) bekannt. Sie arbeiten seit 2013 im Land und haben nach eigenen Angaben 114.000 Leben gerettet. Einer der weniger bekannten Umstände jedoch ist der, dass Frauen immer mehr in den Fokus treten, sowohl in den Programmen als auch im Team selbst.

Die Arbeit vor Ort

Muzna Dreid unterstützt die Weißhelme von Kanada aus. Sie sprach Ende Februar per Skype mit mir und erklärte die vielfältige Arbeit: „Tatsächlich haben die Weißhelme viele Programme zusätzlich zu den sogenannte Such- und Rettungsmissionen, die bekannt sind von den heldenhaften Videos, in denen Menschen aus den Trümmern geborgen werden. Zu diesen Programmen gehören Bodenminenräumung, Frauenzentren sowie eine App zur Verfolgung von Kampfflugzeugen. Wir arbeiten auch an der Gerechtigkeitsfrage, wenn wir Boden- und Genproben von Angriffsstellen sammeln und zur Analyse bereitstellen.“

Die App zum Beispiel verfolgt die Flugbewegungen von russischen und syrischen Regimestützpunkten. Als Konsequenz kann die App berechnen wo wahrscheinlich in den nächsten Minuten bombardiert wird und sendet Warnungen an die Bevölkerung. Das hilft Zivilist/innen sich in Sicherheit zu bringen, wenn das überhaupt möglich ist in Idlib. Hier gibt es nämlich so gut wie keine Keller und schon gar keine unterirdischen Bunker.

Frauen mit Helmen

Eine neue wichtige Entwicklung in der Arbeit der Weißhelme ist das steigende Engagement von Frauen[2]. Es gibt 31 Frauenzentren in Syrien, die vor allem Frauen und Kinder versorgen, mit einem Fokus auf Gesundheit von Müttern und reproduktiver Gesundheit. Außerdem finden in diesen Zentren Sensibilisierungen über nicht explosive Kampfmittel und Minen statt. Aber nicht nur in den Programmen rücken Frauen mehr in den Fokus, auch in den eigenen Rängen gibt es immer mehr Frauen. Derzeit sind 2.800 Männer und 231 Frauen im Einsatz.

Dies erfüllt Muzna mit Stolz: "Letztes Jahr ist es uns gelungen, unsere internen Regeln dahingehend zu ändern, dass es eine Frauenquote im Vorstand gibt. Außerdem wurde beschlossen, dass unsere Frauenzentren ausschließlich von weiblichen Direktorinnen betrieben werden." Diese Entwicklung macht Mut, da die Frauen anderen Zugang haben und auf andere Netzwerke als ihre männlichen Kollegen zugreifen können, um medizinische und Sensibilisierungsarbeit zu leisten.

Es ist jedoch keine leichte Aufgabe, Frauen in diese Arbeit einzubeziehen. „Weibliche Weißhelme stehen vor besonderen Herausforderungen, da diese Art von Arbeit als Männerarbeit angesehen wird. Es ist eine sehr gefährliche und stressige Arbeit, daher wird sie nicht als für Frauen geeignet angesehen“, räumt Muzna ein. Trotzdem bleiben die Frauen beharrlich: In Notfällen nehmen sie sogar an Such- und Rettungsmissionen teil, führen aber auch allgemein Sensibilisierungsmaßnahmen durch.[3]

Idlib unter Bomben

Der Großteil der Arbeit findet momentan in Idlib statt. Diese Provinz ist die letzte im Land, die nicht vom Assad Regime kontrolliert wird. Deswegen wird sie seit Monaten aufs heftigste von syrischen und russischen Truppen bombardiert. Offensichtlich geht es um die totale Unterwerfung der Menschen, die in den Augen des Regimes Gegner sind, da sie sich in welcher Form auch immer aufgelehnt haben. „Die Krise in Syrien hat sich in den letzten Monaten erheblich verschlimmert. Nach Angaben der Vereinten Nationen befinden sich in Idlib 4,5 Millionen Menschen. In weniger als neunzig Tagen sind ungefähr 1 Million Menschen geflohen. 60% sind Kinder, über 20% sind Frauen. Dies ist die größte humanitäre Krise in der modernen Geschichte.“ stellt Muzna klar. So gut wie alle medizinischen Einrichtungen sind schon zerstört und die wenigen, die es noch gibt, sind völlig überlastet auf Grund der vielen Opfer[4]. Im Moment ist kein Ende dieser Krise abzusehen.

Laut Muzna ist „uns ganz Syrien wichtig, aber Idlib braucht gerade die größte Aufmerksamkeit, weil es stark bombardiert wird und dort vier Millionen Zivilisten gefangen sind. Wir sind aber auch in Hama, Latakia, Aleppo, Afrin und Mindbej tätig. Wir arbeiten also nicht nur um Idlib, aber die Nachfrage nach Such- und Rettungsmissionen ist hier aufgrund des Bombardements sehr hoch.“

Daher ist es unerlässlich, die russische Regierung und ihre Verbündeten unter Druck zu setzen, alle Angriffe sofort einzustellen. Die Millionen von Zivilisten in Idlib können nicht alle gänzlich ausgelöscht werden - aber sie können auch nicht fliehen, da die Türkei ihnen nicht erlaubt, die Grenze zu überqueren. Sie sind buchstäblich gefangen, während sie wegen des nächsten Bombenanschlags oder einer tödlichen Krankheit um ihr Leben fürchten.

Der Kampf um die Wahrheit

Während dieser Kampf in vollem Gange ist, hat sich das Schlachtfeld auch auf den digitalen Raum ausgeweitet. Die große Medienpräsenz der Weißhelme hat seine Schattenseiten: eine breite Schmutzkampagne wird seit Jahren gegen sie geführt.

Der hierzu erschienene Bericht der Syria Campain, “Killing the Truth”[5], erlaubt beeindruckende Einblicke in diese Kampagne, die von russischer Staatspropaganda, einer Armee von Trollen, Assad-nahen Bloggern und dem konservativem Trump-Camp angetrieben wurde. Sie behaupten, dass die Weißhelme Verbindungen zu Al-Kaida unterhalten und die Angriffe selbst inszenieren, um so die russische und syrische Armee zu bezichtigen. Obwohl diese Behauptungen komplett absurd sind, hat die Kampagne dazu beigetragen, dass es eine Verunsicherung außerhalb des Landes gibt: „Wir wissen nicht mehr, was wahr ist in Syrien.“

Eine solche Aussage ist ein schockierendes und trauriges Ergebnis der Propagandamaschinerie, weil sie das Leid der Zivilbevölkerung in Syrien ignoriert. Neben den physischen Angriffen kosten Desinformationskampagnen tatsächlich Menschenleben vor Ort. Sie behindern wertvolle humanitäre Arbeit, indem sie Gelder blockieren oder Organisationen wie die Weißhelme dazu zwingen, sich ständig zu verteidigen, anstatt ihre Arbeit zu tun. Darüber hinaus tobt der Kampf um die Wahrheit weiter, wie der Bericht von Syria Campaign bezeugt: „Diese negative Berichterstattung droht erhebliche Auswirkungen auf die Arbeit der Weißhelme und ihre Fähigkeit zu haben, Leben zu retten sowie fortwährende Kriegsverbrechen aufzudecken. Falsche Anschuldigungen gehen über Twitter-Threads hinaus und drohen, Angriffe vor Ort in Syrien zu legitimieren.“[6]

Über 200 Freiwillige sind bereits gestorben bei dieser gefährlichen Arbeit. Dies ist häufig auf sogenannte „Double-Tap-Angriffe“ der syrischen und russischen Streitkräfte zurückzuführen. Dies bedeutet einen zweiten Bombenangriff, der Zivilisten und Rettungskräfte gezielt ins Visier nimmt, die sich nach dem ersten Bombenangriff sammeln, um Hilfe zu leisten. Diese verabscheuungswürdigen Taktiken wurden detailliert dokumentiert und stellen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.[7]

Niemals aufgeben

Am 11. November 2019 erlitten die Weißhelme einen weiteren Verlust: James Le Mesurier fiel von einem Balkon in der Nähe seines Hauses in Istanbul. Einige Tage zuvor hatte ihn der offizielle Twitter-Account des russischen Außenministeriums als Spion denunziert[8]. Somit spielt sich dieses traurige Ereignis im weiteren Kampf um die Wahrheit in Syrien ab. Le Mesurier gründete Mayday Rescue, eine Organisation, die freiwillige Helfer der Weißhelme schulte, Opfer von Bombenangriffen zu retten. Er war ein ehemaliger Angestellter der britischen Armee und verfügte über wertvolles Wissen für solche Rettungseinsätze. In den letzten Jahren wurde die Arbeit der Weißhelme so schrittweise erweitert.

Muzna blickt heute über Idlib hinaus auf das ganze Land und hat eine klare Botschaft: „Wir sind bereit, überall in Syrien zu arbeiten, auch in vom Regime kontrollierten Gebieten. Sie lehnen das aus politischen Gründen ab, aber wir sind immer bereit, Syrer/innen zu helfen, egal wo sie leben.“

Diese Aussage ist bemerkenswert, da Assad die Weißhelme als Terroristen betrachtet, die ausgelöscht werden müssen. Es spricht für das Engagement der Weißhelme, Zivilist/innen überall im Land zu helfen, indem sie beispielsweise Böden entminen. Dies wird immer dringlicher, da die russische Regierung Syrien zum Testgelände für ihre neuesten militärischen Errungenschaften erklärt hat. Der russische Verteidigungsminister sagte stolz, dass in Syrien über 200 Waffen getestet wurden[9], was wiederum jahrelange Arbeit erfordern wird, um den Boden wieder sicher zu machen.

Vor diesem Hintergrund reicht das Erbe von James Le Mesurier weit über die Menschen hinaus, die ihn kannten. Es lebt in Menschen wie Muzna und den weiblichen Weißhelmen vor Ort in Syrien weiter, die trotz aller Bedrohungen Leben retten und anderen helfen.

Wenn eine Bombe in Syrien einschlägt, kommt keine Feuerwehr und auch kein Krankenwagen. Die einzigen Menschen, die Zivilisten retten, sind diese Freiwilligen, mutige Männer und Frauen, und dies ist die einfache Wahrheit in diesem schrecklichen Krieg. Um es mit den Worten von Muzna zu sagen: „Unsere Arbeit erklärt unsere Position und unsere Perspektive, sie spricht für sich. Die Situation in Syrien ist so verzweifelt, dass wir nicht ständig Zeit haben, uns zu erklären. Wir arbeiten einfach weiter.“

Der Beitrag erschien zuerst in "The New Arab" (englisch).

Übersetzung: Anna Fleischer, Heinrich-Böll-Stiftung, Beirut