Religionspolitik heute

Rede

Zum doppelten Jubiläum 100 Jahre Weimarer Verfassung - 70 Jahre Grundgesetz, veranstaltete die Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit der Konrad-Adenauer-Stiftung eine Diskussion zum Thema „Religion und Staat in einem pluralisierten und säkularisierten Land“. Dr. Ellen Ueberschär, Vorstand der hbs, eröffnete die Veranstaltung mit einigen Überlegungen zur Religionspolitik.

Religionspolitik heute - Ausblick von einer Kanzel auf eine aufgeschlagene Bibel und den leeren Kirchinnenraum.

In einem kleinen Nachkriegsbüchlein erzählt Heinrich Böll 1958 die Geschichte eines Radioautors, der, nach der vollendeten Aufnahme eines Vortrages, das Wort „Gott“ durch die Wendung „jenes höhere Wesen, das wir verehren“ ersetzt wissen wollte.

Seine fadenscheinige Begründung wird von Böll mit der Bemerkung versehen, dass der Radioautor sich mit seiner neuerlichen Rückkehr zum christlichen Glauben doch nicht ganz wohlfühlte und lieber an seine frühere Gesinnung, eine offensichtlich säkular gefärbte, anknüpfen wollte. Es bleibt offen, ob es hier um die NS-Zeit geht, in der alles Christliche mit Verachtung gestraft wurde.

Die Geschichte versetzt uns in jene gesellschaftspolitische Atmosphäre der späten 1940er und frühen 1950er Jahre zurück, in der das Grundgesetz erarbeitet wurde.

Nominatio Dei als Demutsformel einer Verfassung mit vorläufigem Charakter

Kürzlich zeichnete der Staatsrechtler Horst Dreier die Entstehung der Präambel und ihres Gottesbezuges nach und erinnerte daran, dass Theodor Heuss selbst an einem bestimmten Punkt befand, dass das Wichtigste bei der Präambel eigentlich sei, dass sie etwas Feierliches sein müsste.

Er hat von einer „profanen Liturgie“ gesprochen und von einer „doch gewissen Magie des Wortes“. Heuss wollte vor allen Dingen nicht, dass die Nationalsozialisten sozusagen wie Pontius Pilatus ins Credo in die Präambel kommen.

Es ging mit der Nominatio Dei nicht um den christlichen Schöpfergott, sondern um eine Demutsformel, mit der zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass die Autoren nicht in Anspruch nehmen, eine letztgültige Wahrheit zu präsentieren, sondern sich des menschlichen, fehlbaren und vorläufigen Charakters der Verfassung durchaus bewusst waren.

Während weder die Weimarer, noch die Bismarck-Verfassung einen Gottesbezug vorzuweisen hatten, war nun Gott im Sinne eines „höheren Wesens, das wir verehren“, Bestandteil des Grundgesetzes.

Auf der anderen Seite der noch nicht gebauten Mauer trat ebenfalls eine Verfassung in Kraft, die nun keine Demutsformel, sondern eine Allmachtsphantasie an den Anfang stellte, in dem sie die führende Rolle der SED verankerte. Wir werden auf die DDR- Verfassung zurückkommen

Neben dem Gottesbezug in der Präambel, der gegenüber Weimar neu war, hielt sich der Parlamentarische Rat an die verfassungsrechtlichen Regelungen, die zu Beginn der ersten deutschen Republik nach großen gesellschaftlichen, auch religionspolitischen Auseinandersetzungen gefunden worden waren:

Der neutrale Verfassungsstaat, ein „Staat ohne Gott“ als Garant der individuellen Freiheit zur Religion und von der Religion und als Schutz des Selbstbestimmungsrechtes der Religionsgemeinschaften.

Das Jahr 1918 makiert den religionspolitischen Umbruch in Deutschland

War der politische Neubeginn nach 1945 eine systemische Umwälzung, die religionspolitische Ordnung war es nicht. Sie hatte ihr formatives Ereignis bereits hinter sich: Das Jahr 1918 markiert die religionspolitische Zäsur – vor allem für die Protestanten mit dem Ende des 400 Jahre währenden landesherrlichen Kirchenregiments.

Auch für die anderen religiösen Akteure wurde es erst einmal ungemütlich. Das Umfeld ist dabei nicht zu vergessen – von der französischen Festlegung auf die laicité von 1905 bis zur Sowjetunion, wo die Oktoberrevolution 1917 einen radikalen Kampf gegen die orthodoxe Kirche geführt und in Gewaltexzessen ausgelebt hatte.

Die revolutionäre Bewegung in Deutschland am Ende des 1. Weltkrieges, die den Kaiser in die Flucht trieb, war gewillt, den Einfluss der Religion weiter zurückzudrängen. Dabei standen die Fronten nicht so eindeutig wie in Frankreich oder Russland:

1918 war der Kulturkampf, der Versuch, den katholischen Glauben in die Privatsphäre abzudrängen, noch in bester Erinnerung. Der politische Kampf ging zunächst um die Staatsleistungen und das Kirchensteuersystem.

In Preußen ging es um die Konfessionsschulen und den Religionsunterricht. Adolph Hoffmann, USPD-Kultusminister, tat sich als sogenannter 10-Punkte-Hoffmann besonders hervor und trieb mit seiner Politik der Abschaffung des Religionsunterrichtes Tausende auf die Straßen von Berlins Mitte, die gegen seine Religionspolitik protestierten.

Mit der Weimarer Verfassung (WRV), die am 14.08.1919 in Kraft trat, kam jener Paragraf 137 in Geltung, der 1949 in das Grundgesetz übernommen wurde: „Es besteht keine Staatskirche.“ Und: „Jede Religionsgemeinschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.“

1948 lagen die religionspolitischen Konflikte der Kaiser- und Weimarer Zeit – so schien es – eine Ewigkeit zurück. An der Realität des säkularen Staates zweifelte man 1945 nicht mehr und übernahm stattdessen die Religions-Artikel der Weimarer Verfassung, die auch für das Thema Staatsleistungen einen Lösungsvorschlag enthalten.

Sie zielen auf individuelle und korporative Religionsfreiheit. Sie sind von vornherein auf Pluralität ausgelegt. Religionsverfassungsrechtlich gesehen, sind sie offen für eine Weiterentwicklung und waren insofern moderner als die strikten Trennungssysteme.

Ohne Verfassungsgerichtsbarkeit lassen sich religiöse Grundsätze in der DDR nicht durchsetzen

Im anderen Teil Deutschlands, 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution und dem Ende der DDR lohnt sich ein genauer Blick, wurden mit der 1949 durch die Volkskammer verabschiedeten Verfassung ebenfalls die Weimarer Artikel übernommen.

„Volle Glaubens- und Gewissensfreiheit“ wurde in Artikel 41 garantiert. Mit der kodifizierten Norm stellte die DDR die „ungestörte Religionsausübung … unter den Schutz der Republik“.

Damit kam das Regime einer Anforderung des Potsdamer Abkommens des Kontrollrates von 1945 nach, die besagte, dass freie Religionsausübung und Respekt vor religiösen Einrichtungen zu garantieren seien. Soweit so gut.

Aber: Individuelle Glaubens- und Gewissensfreiheit waren prinzipiell ausgehebelt, schon allein aus einem einfachen Grund: Es gab überhaupt keinen Verfahrensweg, Grundrechte prozessual durchzusetzen.

Das Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit verstärkte die Unfreiheit gemeinsam mit der Tatsache, dass die Justiz ohnehin ein Instrument der herrschenden Partei war. Und diese ging gemäß der marxistisch-leninistischen Ideologie grundsätzlich davon aus, dass Religion ein zu überwindendes Relikt auf dem Weg der Verwirklichung des Kommunismus sei.

Religiös sein ist in der DDR ein Grund für Diskriminierung

Artikel 42 der DDR-Verfassung von 1949 aber entsprach dem Artikel 136 der Weimarer Reichsverfassung (WVR). Formal also galt zunächst ein Diskriminierungsverbot für Christinnen und Christen in Ost wie West. Die Realität aber sah in der DDR eine systematische Diskriminierung vor.

Bis 1989 blieb Christinnen und Christen der Zugang zu leitenden Positionen in allen gesellschaftlichen Bereichen – von der Politik über Wissenschaft und Bildung bis zur Wirtschaft – versperrt.

Mit der Übernahme des Artikels 137 aus der Weimarer Verfassung, der den Kirchen den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes zubilligte, bestand bis 1968 eine staatskirchenrechtliche Einheit zwischen DDR und Bundesrepublik.

Der entscheidende Punkt ist aber, dass die körperschaftlichen Traditionen für die Kirchen erhalten blieben, mithin eine am Modell der Volkskirche orientierte Organisation „mit Beamtenapparat, Laufbahnwesen, Amtsbezeichnungen und dem Prinzip eines flächendeckenden Angebots“.[1]

Aus dem Körperschaftsstatus folgten zwar keine weiteren Vorrechte oder Begünstigungen, aber dass die Kirchen an dieser Rechtsform auch dann noch festhielten, als ihre verfassungsrechtliche Verankerung 1968 entfiel, ermöglichte die rasche und relativ geräuschlose Wiedervereinigung der Evangelischen Kirche in Deutschland im Jahre 1991.

Auch die Kirchensteuer wurde 1949 in der DDR verfassungsrechtlich verankert, aber 1956 mit einer Verfügung des Finanzministers angereichert, der die Kirchensteuer vom Zwangsvollstreckungsverfahren ausnahm. Juristisch gesprochen, wurde die Kirchensteuer zur „Naturalobligation“ herabgestuft, lebensweltlich gesprochen wurde sie zu einem freiwilligen Beitrag.

Nach Einschätzung der Kirchen zahlten 90% der Kirchenmitglieder in den 1980er Jahren weniger Kirchensteuer als es ihrem Einkommen entsprach. Der Religionsunterricht, der 1949 mit der Übernahme von Artikel 149 der WVR in staatlichen Räumen garantiert wurde, dort aber faktisch nie stattfand, wurde zum Kernbestandteil eines eigenen kirchlichen Bildungswesens. 

Die geänderte Verfassung von 1968 brach mit der Verfassungskontinuität zum Staatskirchenrecht von Weimar. Alle Übernahmen der 1919er Verfassung wurden gestrichen und auf einen einzigen Absatz zusammengeschrumpft.[2]

Nun trat die eigentlich unhaltbare Situation ein, dass die verfassungsrechtliche Grundlage einer am Modell der Volkskirche organisierten Kirche entfiel, aber gleichwohl an ihm festgehalten wurde.

Säkularisierungsprozesse bringen neue Ansprüche an die Gestaltung von Religion mit sich

Mit der Wiedervereinigung kamen die Kirchen, Christinnen und Christen in den Geltungsbereich der grundgesetzlichen Regelungen zurück, aber nicht ohne Kontroverse.

In drei Bereichen gab es Bedenken und Kritik: bei der Einführung der Kirchensteuer, der Einführung des Religionsunterrichtes nach GG Art. 7 (3) und der Einführung der Militärseelsorge, die erst 2003 in voller Gültigkeit auf das gesamtdeutsche Gebiet vollzogen wurde.

Die Integration einer weithin entkirchlichten Bevölkerung, frei von jeder religiösen Bildung, hat dieses Land in den letzten 30 Jahren geprägt, wenngleich die Säkularisierungsprozesse sich nicht nur in der DDR abspielten.

Die Liberalisierung und Pluralisierung der Gesellschaft brachte nicht nur die Auflösung des religiösen Duopols in Deutschland, das fast 500 Jahre die religionspolitische Landschaft geprägt hatte, sondern auch neue Ansprüche an die Gestaltung von Religion in Staat und Gesellschaft.

Es wäre auf dem Hintergrund der historischen Entwicklungen zu kurz gegriffen, allein den Islam und die Debatten um die Religionsausübung dieser Religion als Grund für den Ruf nach Religionspolitik zu benennen. Vielmehr sind eine Reihe von neuen, religiös begründeten Fragestellungen aufgekommen, für die der Staat als Ermöglicher und regulatorische Kraft für das Zusammenleben der Freien und Gleichen Antworten finden muss.

Die Herausforderungen für moderne Religionspolitik liegen in der Integration der religiösen Bedürfnisse von Minderheiten

Die Grundfrage moderner Religionspolitik lautet nicht: wie kann der Islam die Werte des Grundgesetzes einhalten, denn das GG sichert vor allem Freiräume individueller Selbstbestimmung, und gibt keine Werte vor. Die Frage lautet vielmehr:

„Wie lassen sich die staatlichen Garantien so ausdeuten, dass sie in religiösen Angelegenheiten maximal pluralitätsfähig und freiheitsförderlich sind und gleichzeitig die Neutralität des Staats wahren?

Unter dieser Leitfrage ergeben sich mindestens drei Herausforderungen für eine moderne, aktive Religionspolitik:

  1. Wenn religiöse Minderheiten eine gleichberechtigte Integration in das Religionsverfassungsrecht ermöglicht werden soll, dann müssen zum Teil Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraktiken aktiv verändert werden. Ein Beispiel dafür sind Änderungen der Bestattungsgesetze der Bundesländer, die nötig werden, wenn die im Islam übliche sarglose Bestattung ermöglicht werden soll.
     
  2. Wie kann das hohe Maß an Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften beibehalten und dennoch eine gleichberechtigte Integration anderer religiöser Gruppen ermöglicht werden? Viele Kooperations- und Förderangebote sind auf die dominierenden religiösen Traditionen zugeschnitten und können daher nicht einfach von religiösen Minderheiten genutzt werden.
     
  3. Wenn der Anspruch einer gleichberechtigten Integration von religiösen Minderheiten und Konfessionslosen eingelöst werden soll, so ist auch zu überlegen, was mit dem christlichen Erbe – der schon erwähnten Präambel, mit den christlichen Erziehungszielen in einigen Landesverfassungen, dem Schutz von Sonn- und Feiertagen, der Präsenz von Kreuzen (wir erinnern uns an die jüngste Debatte um Kreuze in Amtsstuben in Bayern) in öffentlichen Einrichtungen geschehen soll.

Allen drei Anforderungen haben etwas mit dem Grundsatz der Vermeidung von Diskriminierung einzelner Gruppen zu tun. In der Abwägung zwischen der Vermeidung von Diskriminierung, oder Antidiskriminierung einerseits und dem individuellen Recht auf Religionsfreiheit sowie dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften andererseits liegt in einer pluralen Gesellschaft die große Aufgabe.

Ich will nicht unerwähnt lassen, dass die Grünen mit ihrer Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“ im Jahr 2013 immerhin ein Papier vorgelegt haben, das Grundsätze und Ziele bündnisgrüner Religionspolitik beschreibt und eine Reihe der drängenden politischen Herausforderungen, von der rechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften bis zum Blasphemie-Paragrafen im Strafgesetzbuch, dem kirchlichen Arbeitsrecht und den Finanzen benennt.

Hier schlummern eine Reihe von religionspolitischen Aufgaben, die für das gedeihliche Zusammenleben in dieser Gesellschaft gelöst, zumindest aber angegangen werden müssen und das in einem möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens.


[1] Holger Kremser (1993), Der Rechtsstatus der evangelischen Kirchen in der DDR und die neue Einheit der EKD: S. 32.

[2] Art. 39 (2): Die Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften ordnen ihre Angelegenheiten und üben ihre Tätigkeit aus in Übereinstimmung mit der Verfassung und den gesetzlichen Bestimmungen der Deutschen Demokratischen Republik. Näheres kann durch Vereinbarungen geregelt werden (Art. 39, DDR-Verf. 1968).