Eine vernichtende Niederlage für alle fortschrittlichen Kräfte in Großbritannien

Kommentar

Durch den Wahlsieg der britischen Konservativen haben sich auch die letzten Hoffnungen zerschlagen, der Brexit lasse sich noch abwenden. Die Folgen werden sein: Katastrophen-Kapitalismus und Klima-Chaos.

Downing Street

Zehn Jahre nach der Finanzkrise, könnte man meinen, die Menschen sollten endgültig genug haben – genug von der Sparpolitik der öffentlichen Hand, genug von stagnierenden Einkommen, genug von der Wohnungsknappheit. Genug auch von Kinderarmut, dem Anstehen um Lebensmittel bei Tafeln, einem überlasteten Gesundheitssystem und der Tatenlosigkeit angesichts der Klimakatastrophe. Genug schließlich auch von Steuervergünstigungen und Subventionen für die Reichen bei räuberischem Kapitalismus für alle anderen. Jedoch, die Wahlen letzte Woche scheinen zu zeigen, die Briten wollen, dass es so weitergeht – nur womöglich noch schlimmer.

Allerdings hatte auch niemand erwartet, die aktuellen Zustände würden auf den Kopf gestellt. Da das Thema Brexit nach wie vor die politische Landschaft beherrscht, gelang es keiner der Parteien (mit Ausnahme vielleicht der Scottish National Party, SNP) eine Allianz von Brexit-Gegner/innen und Brexit-Befürworter/innen hinter sich zu scharen. Bestenfalls, so hatten vor der Wahl einige Umfragen ergeben, sei mit einer Pattsituation im Unterhaus zu rechnen, und der Möglichkeit, mit knapper Mehrheit eine fortschrittliche Koalitionsregierung zu bilden. Solch eine Lösung hätte vielleicht den Preis gehabt, für die Unterstützung durch liberale, grüne und keltische Abgeordnete nicht Jeremy Corbyn, sondern eine weniger umstrittene Person zum Premierminister zu machen, dafür aber nicht an den programmatischen Eckpfeilern der Labourpartei zu rütteln.

Schon die Umfrage am Wahltag zeigte aber das genaue Gegenteil. Die Konservativen, an deren Spitze seit Juli dieses Jahres Boris Johnson steht, waren auf dem besten Weg, das erste Mal seit Ende der 1980er Jahre, eine sichere Mehrheit im Unterhaus zu erhalten. Die Labourpartei hingegen würde Dutzende Mandate verlieren, ohne aber dass Liberaldemokraten oder Grüne davon profitierten, und als einzige Oppositionspartei würde die SNP im Norden hinzugewinnen. Im Unterschied zu anderen Verfahren, die öffentliche Meinung abzuschätzen – das hat die bittere Erfahrung vergangener Jahre gezeigt –, stimmte die Umfrage am Wahltag sehr genau mit dem tatsächlichen Ausgang überein.

Was Johnson hier gelang, ist bemerkenswert. Erstmals seit der Finanzkrise, und während es weltweit politisch und wirtschaftlich drunter und drüber geht, hat Großbritannien eine Regierung mit solider Mehrheit im Parlament. Und: Zu dieser Mehrheit kam es, da viele Menschen direkt gegen die eigenen Interessen votierten.

In Großbritannien, wie in vielen anderen liberalen Marktwirtschaften auch, hat  Konservatismus innerhalb der Arbeiterklasse eine lange und ehrwürdige Tradition. Ganz gleich, ob sich das so verhält, weil die Eliten es bewerkstelligen oder weil schwer zu fassende soziale Kräfte am Werk sind, die politische Ordnung jedenfalls bleibt unangetastet, weil ein entscheidender Teil der Bevölkerung glaubt, das bestehende System der Kapitalakkumulation nütze ihm. Zu Zeiten führte dies zu einem sozialdemokratischen Kompromiss, der den Menschen zu Gute kam, da es starke Gewerkschaften und einen großzügigen Sozialstaat gab. Zu anderen Zeiten schuf man Aufstiegschancen, durch die manche zu einem Eigenheim kamen und sich selbständig machten. Damit einhergehend haben Linke aus der Mittelklasse über ein Jahrhundert die mangelnde Radikalität der unterdrückten Massen bejammert (und das oft sehr scheinheilig und von oben herab), während das britische Establishment fast nie eine Gelegenheit ausließ, um populistische Koalitionen zu bilden, die den Interessen der Eliten dienen.

Ihren Höhepunkt erreichte diese Dynamik 2016 bei der Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft. Oberflächlich ging es dabei um Großbritanniens Rolle in in der EU, tatsächlich aber war es das perfekte Vehikel für einen Kulturkampf. Gegenüber standen sich, Menschen mit Hochschulabschluss, Fachkräfte aus den Metropolen sowie Migranten und Geschäftsleute, die sich im gesellschaftlich liberalen und international ausgerichteten Großbritannien des 21.Jahrhunderts wohlfühlen und, auf der anderen Seite, eine eigenartige Mischung von Arbeiter/innen aus kleinstädtischen und ländlichen Gebieten, von wohlhabenden Nationalisten, von Menschen, denen der kulturelle Wandel missfällt, und solchen, die verbohrt zurückwollen in Großbritanniens merkantilistische und imperialistische Vergangenheit. Diese beiden Lager waren fast genau gleich stark, aber, nach dem Verhältniswahlrecht, kamen die Brexit-Befürworter/innen nicht zuletzt wegen der sehr hohen Wahlbeteiligung, auf eine Million mehr Stimmen.

Viel ist geschrieben worden darüber, wie unfair es bei der Volksabstimmung zuging, welch dreiste Lügen die Brexit-Befürworter/innen verbreiteten, und welche Rolle undurchsichtige digitale Beraterfirmen und ausländische Staaten spielten. Zwar sind all diese Punkte nicht ganz falsch, sie gehen aber am Kern der Sache vorbei. Die britische Arbeiterklasse wollte den Eliten einen Denkzettel verpassen, hatten diese doch Investmentbänkern den Hals gerettet und die Rechnung dafür den einfachen Leuten präsentiert – in Form von Steuererhöhungen und Sparmaßnahmen. (Tatsächlich hatte sich David Cameron schwer verrechnet, als er meinte, seine Version eines liberalen Konservatismus, welche von Großbritanniens vorsintflutlichem Wahlsystem bestätigt worden war, würde auch bei der Brexitabstimmung, die nach dem Verhältniswahlrecht erfolgte, leicht zum Sieg genügen). Der populistische Gegenwind war nur zu begreiflich – und ein klares Zeichen dafür, dass das britische Wirtschaftssystem bedrohlich an Rückhalt in der Bevölkerung verloren hatte. Boris Johnson, andererseits, ist es gelungen, einige der Protestwähler/innen auf seine Seite zu ziehen – und damit genau jene Kräfte zu stärken, gegen die sich ihre Wut richtet.

Wie ist es möglich, dass ein Mitglied der Aristokratie, dessen politische Karriere sich durch ein verblüffendes Maß von Täuschung und Fehlverhalten auszeichnet, und der zudem vorhat, Dinge des täglichen Bedarfs zu verteuern, indem er Handelsschranken einführt, und das soziale Sicherungssystem durch internationale Abkommen auszuhebeln, – wie also kann es sein, dass einer wie Johnson infolge eines Aufstands des Proletariats zum Premierminister gewählt wird? Am frappierendsten am Ausgang der Wahl ist, wie die „rote Mauer‟ zerschmettert wurde, das heißt, wie die Hochburgen der Labourpartei in den Midlands und in Nordengland fielen. Wie es aussieht, haben sich die historischen Kerngebiete des britischen Sozialismus, nachdem sie von den Tories über Jahrzehnte durch Deindustrialisierung und Sparpolitik ausgeplündert wurden, dazu entschlossen, ihr Heil in einem gänzlich entfesselten Kapitalismus zu suchen.

Auch können wir uns nicht damit trösten, es habe gar keine echte Alternative zur Wahl gestanden. Die Kluft zwischen den Programmen der beiden großen Parteien war kaum je größer, denn, nach einer Generation, deren Politik von Vorsicht und Kompromissen geprägt war, trat Labour dieses Mal an mit einem radikalen Programm an, das hohe staatliche Investitionen vorsah, einen Abschied von der CO2-Wirtschaft sowie Reformen zugunsten der Arbeiterschaft. Corbyns Wahlprogramm wollte die Wunden von 40 Jahren Neoliberalismus heilen und die britische Wirtschaft fit machen für die Klimakrise. Hier verhielt es sich nicht, wie 2016 in den USA oder 2017 in Frankreich, als der Widerstand gegen Donald Trump und Marine Le Pen nicht von der Linken kam, sondern aus der liberalen Mitte. Im Unterschied hierzu haben die britischen Wähler/innen das am stärksten klassenbewusste Wahlprogramm, mit dem eine Partei seit dem 2. Weltkrieg angetreten ist, klar abgeschmettert.

In der Tat hätten die Verhältnisse für eine politische Wende kaum günstiger sein können. Die Tories, seit neun Jahren an der Regierung, hatten zwei Premierminister verschlissen sowie die Brexit-Krise verursacht – und waren dann drei Jahre lang nicht in der Lage gewesen, sie zu lösen. Auch der übliche Vorbehalt gegen Labour und andere fortschrittliche Kräfte griff nicht mehr – nämlich dass man Linken, die das Geld mit beiden Händen ausgeben, die Wirtschaft nicht anvertrauen kann –, denn gleich, wie viel Schulden man macht, der wirtschaftliche Schaden eines harten Brexit ist größer. All dessen ungeachtet aberentschieden Millionen von WählerIinnen sich für Boris Johnson darunter viele Stammwähler der Labourpartei,

Besonders ärgerlich ist dies, da die britische Wirtschaft sich dringend aus ihrer Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen lösen muss. In einem Jahr, in dem der Weltklimarat IPCC warnte, uns blieben nur noch elf Jahre, um eine Umweltkatastrophe abzuwenden, in dem Protestaktionen von Extinction Rebellion Städte in aller Welt erschütterten und eine visionäre schwedische Jugendliche mit ihrer grünen Message in aller Munde war, in eben diesem Jahr wählten die Briten eine Regierung, der es in Umweltfragen an jeder Glaubwürdigkeit fehlt. Rückblickend mag uns 2019 als das Jahr in Erinnerung bleiben, in welchem die erste Industrienation der Geschichte dabei versagte, die Klimakrise anzugehen.

Wo also stehen wir heute? Kurzfristig hat sich jede Hoffnung zerschlagen, der Brexit könne abgewendet oder abgefedert werden. Johnson hat bereits klargemacht, dass er noch in diesem Jahr im Unterhaus über ein Brexit-Abkommen abstimmen lassen will. Bald danach wird sich zeigen, dass es ganz und gar unrealistisch ist, in der kurzen verbleibenden Zeit ein Handelsabkommen zu schließen. Die Konservativen werden die Schuld dafür, wie gewohnt, der EU und ihrer unversöhnlichen Haltung geben, und – folgt man dem Wahlergebnis – werden die Briten ihnen glauben. Die von vielen erhoffte Reaktion der Brexitgegner/innen auf die Art und Weise, wie die Regierung den Brexit händelt, ist ausgeblieben.

Innenpolitisch wird die Sparpolitik weitergehen, und das, obgleich Johnson eine bescheidene Steigerung der Ausgaben in gewissen Bereichen versprach – was ihm, so scheint es, viele Wähler/innen abgenommen haben. Das nächste Streitthema werden dann all jene Rechte und Regelungen sein, die mit dem EU-Austritt entfallen, wobei der Begriff „Streitthema‟ wohl an der Sache vorbeigeht, ist doch anzunehmen, dass die meisten der Betroffenen sich nicht wehren und ihre Wahlentscheidung verteidigen werden. Sollte ein Handelsabkommen mit den USA unter Donald Trump geschlossen werden, wird die Liberalisierung und Privatisierung der Wirtschaft weiter voranschreiten, denn das US-Kapital wird schnell Mittel und Wege finden, um einen liberalisierten Auslandsmarkt auszubeuten.

Die Aussichten sind düster. Und, da die neue Regierung ein klares demokratisches Mandat hat, ist nicht zu erkennen, woher neue Kräfte des Widerstands kommen könnten. Wie nach jeder Wahl wird ein Teil der Linken nach Westminster marschieren und eine Revolution fordern, die Öffentlichkeit und die Medien wird das aber kaum jucken.

Zumindest anfangs wird echter Widerstand gezwungenermaßen lokal sein, beschränkt und rein reaktiv. Das bedeutet, man wird sich gegen die schlimmsten Reformen mit Haut und Haaren wehren müssen – gegen weitere Kürzungen im Gesundheitssystem oder dagegen, dass noch mehr Sozialwohnungen abgerissen und durch Luxusimmobilien ersetzt werden. Das bedeutet, ethnische Minderheiten und Migrant/innen müssen sich zu basisnahen Bündnissen zusammenschließen, um sich gegen den zunehmenden Rassismus und Faschismus zu wehren. Menschen müssen Grünflächen zurückerobern und Böden retten, damit eine industrielle Landwirtschaft, so wie sie in den USA üblich ist, zumindest ein wenig ausgebremst und Überflutungen und den rapide steigenden Emissionen, die durch den Ausbau von Flughäfen entstehen, Einhalt geboten wird.

Man kann nur hoffen, dass eine neue Generation von Britinnen und Briten zur Vernunft kommt und für ihr Land einen anderen Weg wählt. Für den Augenblick jedoch kann eine andere Welt nicht von Ministerien und Behörden aus entstehen, den Anfang muss hier die Straße machen.