Aufräumen! Aber wie?

Interview

Noch nie zuvor hat die Menschheit so viel Abfall produziert wie heute. Wie können wir diese Entwicklung umkehren? Ein Round-Table-Gespräch mit Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich Böll Stiftung, Peter Kurth, Vorstand des Bundesverbands der deutschen Entsorgungswirtschaft, und Thomas Fischer, Bereichsleiter Kreislaufwirtschaft bei der Deutschen Umwelthilfe.

Abfälle im Meer. Am häufigsten gefunden: Kunststoffteile, Flaschen, Seile, Schwimmkörper und Bojen.

Von Xenia von Polier und Michael Billig

Unseren Müll findet man inzwischen an den tiefsten Punkten im Meer und auf den höchsten Gipfeln der Erde. Prognosen deuten darauf hin, dass die Menschheit künftig noch mehr Abfall produzieren wird. Wie können wir diese Entwicklung stoppen?

Unmüßig: Dafür müssen wir uns zunächst fragen: Was sind die Ursachen für die steigenden Abfallmengen? Wer hat ein Interesse daran, dass wir immer mehr Dinge verpacken? Zu den treibenden Kräften zählen aus meiner Sicht die petrochemische Industrie sowie einige andere Akteure, die an der Produktion von Verpackungen Geld verdienen. Das ist ein Geschäftsmodell.

Kurth: Ich sehe hier eher ein Henne-Ei- Problem. Was war zuerst da – die Nachfrage nach Verpackungen oder das Angebot? In der Bevölkerung gibt es schließlich auch ein geändertes Konsumverhalten. Ich finde, dass die Menschen, denen das steigende Verpackungsaufkommen nicht gefällt, bitte auch einmal über ihr Einkaufsverhalten nachdenken sollen. Das wäre schon ein Fortschritt.

Fischer: Viele Verbraucher sind sicherlich bequem. Aber es ist inakzeptabel, dass die Verantwortung komplett auf sie abgewälzt wird. Kein Kunde hat darum gebeten, Bananen in Folien zu tüten oder Gurken einzuschweißen. Aktuell werden 63 Prozent des Obsts und Gemüses verpackt. Das Verpackungsmüllproblem wird maßgeblich von den Herstellern und Händlern getrieben. Sie überlegen stets, wie sie mit einem Produkt den höchsten Profit erzielen können. Natürlich verdienen sie mehr, wenn sie etwa Kaffee grammweise in Kapseln verkaufen, als diesen in 500-Gramm-Verpackungen anzubieten. Insgesamt ist übrigens die Lebensmittelverschwendung durch die Portionierung nicht gesunken. Das ist ja das Hauptargument der Lebensmittelindustrie: Sie würde nur deshalb immer mehr verpacken, damit Lebensmittel besser dosiert sind und weniger weggeschmissen werden muss. Das ist aber nicht der Fall.

Kurth: Es wird aber niemand gezwungen, Kaffee in Kapseln zu nehmen. Ich kaufe ihn in großen Paketen. Die Menschen können doch selbst entscheiden. Wenn keine Kaffeekapseln mehr verkauft werden, dann werden sie auch nicht mehr produziert. Ich setze auf mündige Verbraucher. Ohne sie wird es nicht gehen. Zusätzlich benötigen wir einschneidende Maßnahmen bei der Industrie und im Einzelhandel. Beides muss zusammenlaufen.

Brauchen wir auch ökonomische Anreize, damit möglichst wenig Materialien verwendet werden – also Steuern oder Lizenzgebühren?

Fischer: Definitiv. Dafür kommen mehrere Lenkungsinstrumente in Frage. Zum Beispiel Abgaben auf bestimmte Einwegprodukte, die häufig später in der Natur zu finden sind. Wir brauchen auch verbindliche Vorgaben für die Recyclingfähigkeit. Das Wettbewerbsmodell unseres aktuellen dualen Systems reicht nicht aus. Denn die Hersteller wechseln einfach zu einem anderen System, falls sie für eine Verpackung, die nicht recyclingfähig ist, mehr bezahlen sollen. Darüber hinaus müssen Hersteller für sämtliche Waren Verantwortung übernehmen, die sie in Umlauf bringen. Die Industrie sollte verpflichtet werden, sie so zu gestalten, dass sie recyclingfähig sind und ihre weitere stoffliche Nutzung im Vergleich zu Neumaterial wettbewerbsfähig ist. Dazu wäre auch eine Ressourcensteuer auf Neumaterialien denkbar.

Kurth: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir müssen die Entsorgung bei jedem Produkt von Anfang an mitdenken. Das ist in der Politik noch nicht angekommen. Neuerdings fahren ja überall E-Roller durch die Großstädte. Als ihre Zulassung diskutiert wurde, haben die Politiker debattiert, wie schnell und wo sie fahren dürfen, aber ihre Entsorgung hat keine Sau interessiert. Sie ist ein echtes Problem, weil die E-Roller mit Lithium-Ionen-Akkus fahren. Das ist ein schwer zu recycelnder Rohstoff. Mal abgesehen davon sind die Akkus auch gefährlich. Wenn Sie im falschen Winkel auf die Batterie treten, fängt sie an zu brennen.

Unmüßig: Bei den Mobiltelefonen ist es das Gleiche. In ihnen stecken 60 verschiedene Stoffe, darunter viele kritische, knappe Rohstoffe, die wir zurückgewinnen müssen. Wir brauchen ein Ökodesign bei allen Produkten und genauso bei Verpackungen und Baumaterialien. Die drei Kriterien sollten sein: Ist das Produkt langlebig? Ist es reparaturfähig? Ist es recycelbar? Dazu muss die Politik Vorgaben machen. Das wurde in den vergangenen 20 Jahren versäumt.

Anfang 2019 ist doch erst das neue Verpackungsgesetz verabschiedet worden. Reicht das nicht?

Fischer: Nein, dem Gesetz fehlt die Verbindlichkeit. Im Verpackungsgesetz steht beispielsweise, dass Mindeststandards zur Recyclingfähigkeit von Verpackungen erarbeitet werden sollen. Trotzdem halten sich viele Hersteller nicht daran. Oft steigern sie mit einer edlen Verpackung ihren Absatz so stark, dass es sie überhaupt nicht stört, wenn sie 0,1 Cent mehr Lizenzgebühr für ihre Verpackung zahlen müssen, weil sie nicht recyclingfähig ist. Ohne verbindliche Standards wird das auch so bleiben.

Kurth: Oder man schafft einen ökonomischen Anreiz. Wer möchte, dass es für Hersteller finanziell interessant wird, weniger Abfall zu produzieren und bessere Materialien zu verwenden, der muss die Lizenzgebühren erhöhen, die die Hersteller an das Duale System zahlen.

Unmüßig: Trotzdem hätten wir noch das Problem, dass bei vielen Produkten gar nicht klar ist, welche Stoffe sie überhaupt enthalten. Um eine hochwertige Wiederverwertung und eine qualitative Kreislaufwirtschaft zu erreichen, brauchen wir gesetzliche Vorgaben, die die Reparaturfähigkeit und die Freiheit von Schadstoffen regeln.

Fischer: Da stimme ich zu. Aber ich finde, eigentlich diskutieren wir gerade am Kernproblem vorbei.

Was ist für Sie das Kernproblem?

Fischer: Wir reden hier über das Recycling von Abfällen, die wir als gegeben annehmen. Ich stelle aber schon die Abfälle an sich in Frage. Wir sollten uns überlegen: Welche politischen Instrumente müssen wir einsetzen, damit Abfälle erst gar nicht entstehen und Wiederverwendung sowie Mehrweg gefördert werden? Wenn wir dann im nächsten Schritt unvermeidbaren Müll haben, lassen Sie uns über das Recycling sprechen.

Unmüßig: Das ist auch unsere Haltung. Im Moment knüpfen wir beim Verbraucher an und sehen im Recycling die große Lösung. Stattdessen bräuchten wir aber eine Debatte über weniger Müll und Verzicht. Ein Anfang ist die Regelung, dass unsinnige Einwegprodukte, wie Einweggeschirr und -besteck in der EU verboten werden sollen. Das ist aber noch viel zu wenig. Wir müssen viel mehr darüber reden, wie wir Plastik und andere Abfälle vermeiden können. Produkte aus Plastik sollten teurer werden und auch die Kosten für Gesundheits- und Umweltschäden und die Entsorgung eingepreist werden. Man könnte schon bei den Herstellern Steuern auf die Rohstoffe erheben und im Preis berücksichtigen, wie recyclingfähig ein Produkt ist.

Kunststoffe finden sich inzwischen in fast allen Bereichen des Lebens. Halten Sie denn Plastik für ersetzbar?

Unmüßig: In manchen Bereichen ist Plastik tatsächlich unverzichtbar. In der Medizin werden wir zum Beispiel definitiv auch in Zukunft Plastik einsetzen müssen. Das gilt sicherlich auch für andere Felder, auf denen nur mit Plastik ein technologischer oder therapeutischer Fortschritt möglich ist. Welche Felder das sind, darüber müssen wir diskutieren. Und umso mehr sollten wir Plastik in all jenen Bereichen vermeiden, wo es ersetzt werden kann. Denn es besteht ja zu 99 Prozent aus Erdöl und Erdgas. Das sind endliche Rohstoffe und wir sollten sie schon aus Klimagründen in der Erde lassen.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass wir eines Tages so etwas wie eine Null-Abfall-Gesellschaft haben?

Fischer: Zero Waste ist eine Utopie, die zum Nachdenken anregen soll. Unsere Gesellschaft braucht Utopien. Nur durch sie beginnen wir anders zu denken. Für viele Verpackungen, besonders für den Transport und Versand, ist Zero Waste aber auch schon jetzt umsetzbar. Sie können beispielsweise für den Transport von Obst und Gemüse Einwegkisten ganz einfach durch Mehrwegboxen ersetzen. Da wird die Abfallvermeidung konkret.

Kurth: Aus meiner Sicht ist eine Null-Abfall- Gesellschaft einfach nicht realistisch. Alles, was Sie hier um uns herum sehen, ist irgendwann Abfall. Wie stellen Sie sich das vor? Entscheidend ist, was man mit dem Abfall macht. Wir verstehen uns inzwischen als eine Industrie, die Rohstoffe produziert und im Kreislauf hält. Das Selbstverständnis der Branche hat sich geändert. Wir arbeiten mit Abfall und machen etwas daraus. Wir haben in Deutschland eine Gesellschaft, die mit ihren Abfallstrukturen als vorbildlich gilt. Natürlich kann man noch vieles besser machen. Aber wir haben eine gute Sammelinfrastruktur, wir haben eine gute Aufbereitungsstruktur. Insgesamt stammen von den Rohstoffen, die die produzierende Industrie in Deutschland gerade verwendet, wahrscheinlich 15 Prozent aus einem Recyclingprozess. Damit sparen wir 60 Millionen Tonnen CO2 ein. Wenn es uns gelingt, diese Menge zu verdoppeln, wären das bereits 120 Millionen Tonnen CO2 weniger. Das ist ein gigantischer Wert.

Unmüßig: Wir exportieren aber auch mehr als 700 000 Tonnen Plastikmüll pro Jahr ins Ausland.

Kurth: Ja. 700 000 Tonnen von einem jährlichen Müllaufkommen von 412 Millionen Tonnen. Insgesamt exportieren wir übrigens sogar etwas mehr als 20 Millionen Tonnen Müll ins Ausland und importieren etwas mehr als 20 Millionen Tonnen. Wer möchte, dass die Wirtschaft weltweit davon abrückt, Primärrohstoffe zu verbrauchen und stattdessen Recyclingrohstoffe gebraucht, muss den Import und Export dieser Rohstoffe auch weiterhin zulassen. Wenn wir beispielsweise Schrottexporte verbieten würden, wäre das für jedes Land der Welt, das keine Stahlindustrie hat, eine Katastrophe.

Gegen die Exporte von minderwertigem Verpackungsmüll wehren sich dagegen immer mehr Länder, und viele Deutsche sind schockiert, dass unsere Plastikabfälle die Umwelt in Staaten wie Malaysia verschmutzt.

Kurth: Das Problem mit dem Kunststoffabfall in vielen Schwellenländern ist nicht die Folge unserer Exporte. Das möchte ich gern klarstellen. In Afrika und Asien gibt es mittlerweile Mittelschichten, die ein ähnliches Konsumverhalten wie wir haben. Gleichzeitig gibt es in vielen dieser Länder kaum eine entwickelte Entsorgungsinfrastruktur. Unsere Exporte kommen vielleicht noch als i-Tüpfelchen dazu. Darüber können wir gerne reden. Aber wer glaubt, mit dem Verbot dieser Exporte lösen wir das Abfallproblem in Asien und Afrika, der lügt sich in die Tasche. Das eigentliche Problem ist, dass Länder wie Vietnam, Kambodscha, Indonesien, Malaysia und die Philippinen praktisch keine funktionierende Entsorgungsinfrastruktur haben.

Fischer: Deshalb sollten wir versuchen, den Export von Abfällen, die minderwertig, nicht recyclingfähig und unsortiert sind, in solche Länder auszuschließen. Wir müssen das Problem hier in Deutschland lösen und es nicht durch Exporte verlagern. Wir müssen unsere Kreislaufwirtschaft verbessern, sodass es künftig gar nicht erst dazu kommt, dass minderwertige oder schadstoffbelastete Abfälle anfallen, mit denen wir nichts mehr anfangen können.

Unmüßig: Lassen Sie uns aber auch noch einmal über die Staaten reden, die keine Entsorgungssysteme haben. In Ländern wie dem Senegal oder in Nigeria läuft man durch plastikvermüllte Straßen, denn die kaufen immer häufiger Wasserflaschen, da die Trinkwasserversorgung nicht funktioniert. Hier muss auch angesetzt werden. Der Wind trägt den Müll von losen Deponien in Flüsse und in Meere. Frühere Trauminseln sind mittlerweile voller Müll. Diese Plastikkrise gefährdet auch den Tourismus. Doch immer mehr Menschen wachen auf. In Asien beginnen Menschen gegen den Müllnotstand zu protestieren, und erste Politiker wollen etwas dagegen tun.

Kurth: Im Grunde müssen Sie in diesen Ländern einen Zeitsprung schaffen. Wir haben 30 Jahre gebraucht, um unsere Kreislaufwirtschaft zu etablieren. Diese Zeit haben wir weltweit aber nicht. Deswegen muss die Kreislaufwirtschaft das Topthema der internationalen Zusammenarbeit werden. Unser Verband unterstützt zum Beispiel auf den Philippinen ein Projekt mit Presscontainern. Aus einem großen Berg Kunststoffabfall machen die einen 800-Kilo-Ballen, der so eng verpresst ist, dass da kein Regentropfen mehr reinpasst. Wenn solche Container vor Supermärkten, Hotels, Rathäusern, Moscheen, Kirchen und Schulen aufgestellt werden, hat man zumindest die Möglichkeit, zu verhindern, dass die Kunststoffabfälle in die Flüsse und Meere gelangen.

Fischer: Die Voraussetzungen für einen Technologiesprung sind da, die Technik steht schon zur Verfügung. Entscheidend ist, dass möglichst schnell gute Infrastrukturen zur Wertstoffsammlung, Sortierung und Verarbeitung aufgebaut werden und es gelingt, die Technologie für eine funktionierende Abfallwirtschaft zu transferieren. Wichtig wäre aber auch, dass wir auf allen Stufen von der Produktion bis zur Entsorgung Anreize dafür schaffen, dass auch in diesen Ländern Abfall vermieden und weniger konsumiert wird.

Brauchen wir ein internationales Abkommen, um den Aufbau von Entsorgungssystemen auch in Schwellen- und Entwicklungsländern anzustoßen?

Fischer: Ja, eine internationale Plastikkonvention wäre ein wichtiges politisches Signal. Abfallvermeidung, Wertstoffsammlung und ein Ausstieg aus der Deponierung sollten zu länderübergreifenden Zielen werden. So wie es bereits beim Klimaschutz der Fall ist.

Unmüßig: Wir haben genau das bereits gemeinsam mit verschiedenen Akteuren im März bei der letzten UN-Umweltversammlung in Nairobi eingebracht. Denn um ein grenzüberschreitendes Problem wie die Plastikkrise zu lösen, braucht es globale Mindeststandards und Ansätze auf allen Ebenen.

Kurth: Ein erster Schritt ist aus meiner Sicht getan: Die Regierung hat in den Koalitionsvertrag reingeschrieben, Kreislaufwirtschaft zum Top-Thema der internationalen Zusammenarbeit zu machen. Denn Kreislaufwirtschaft hat den Vorteil, dass sie schrittweise entwickelt werden kann. Sie können an die zivilen Strukturen vor Ort anknüpfen, und mit wenig Investitionen große Hebel in Bewegung setzen. Aber auch in Europa müssen wir noch viel mehr erreichen. Selbst in der EU deponieren einige Länder immer noch mehr als 50 Prozent ihrer Siedlungsabfälle. Dabei sind Deponien wirklich die schlechteste Lösung. Das sollte uns ein bisschen nachdenklich stimmen. Wenn wir es schon in Europa nicht schaffen, bestimmte Regelungen zu verabschieden, woher nehmen wir dann das Selbstbewusstsein, in Asien und Afrika mehr Umweltbewusstsein einzufordern?

Das Interview wurde für das enorm-magazin erstellt und dort zuerst veröffentlicht.