Junk Science: Bekämpfung der Waffengewalt in den USA

Seit dem Massaker an der Sandy Hook-Grundschule spitzen sich in den USA die öffentlichen Kontroversen um Waffengewalt und –besitz zu.  Im Mittelpunkt steht dabei vermehrt, dass zu Ursachen und Rahmenbedingungen der Waffengewalt als auch zur Frage, mit welchen Maßnahmen sich das Übel am effektivsten bekämpfen ließe, zu wenig wissenschaftlich geforscht wird. Diese Feststellung ist zweifellos richtig, doch der Kern des Problems liegt woanders.

Waffengewalt in den USA. Foto vom March for Our Lives 2018

Hier finden Sie die Langfassung des Texts „Junk Science!“ – Mit mehr Forschung zu größeren Erfolgen bei der Bekämpfung der Waffengewalt in den USA?

Tödliche Schusswaffenverletzungen verursachten 2017 in den USA den Verlust von nahezu 40.000 Menschenleben. Bei knapp 60 % dieser Todesfälle handelt es sich um Suizide, annähernd 40 % sind Morde, der Rest geht auf Unfälle mit Schusswaffen zurück. Obwohl sie nur einen minimalen Teil der Opferzahl ausmachen, sind es vor allem die sich in den letzten Jahren häufenden schlagzeilenträchtigen Massaker durch Amokschützen, welche die öffentliche Kontroverse über das Für und Wider der geltenden waffenrechtlichen Bestimmungen ein ums andere Mal neu entfachen. In dieser Debatte stehen sich im Wesentlichen zwei große politische Lager gegenüber: auf der einen Seite die gun rights-Verfechter, die für möglichst uneingeschränkte Rechte von Waffenbesitzern eintreten, auf der Gegenseite das gun control-Lager, das sich für mehr oder weniger weitgehende Restriktionen im Waffenrecht engagiert.

Angesichts der Machtverhältnisse in beiden Kammern des US-Kongresses hatten Befürworter strengerer Waffengesetze seit geraumer Zeit keine Chance, ihre Gesetzesinitiativen durchzusetzen. Nahezu die Gesamtheit der Volksvertreter der Republikanischen Partei nimmt waffenpolitisch extrem konservative Positionen ein, die sich mit der Ideologie und der politischen Agenda der Waffenbesitzerlobby NRA gänzlich oder zumindest weitgehend decken. Wenn sich auf Bundesebene in den letzten Jahren auf diesem Politikfeld überhaupt etwas bewegte, dann handelte es sich um den Erlass von Vorschriften, mit denen die Rechte von Waffenbesitzern weiter liberalisiert wurden. So stimmte das Repräsentantenhaus Ende 2017 einem Gesetz zu, dass die Gültigkeit der jeweils in den Gliedstaaten ausgestellten Lizenzen zum verdeckten Tragen einer Handfeuerwaffe (concealed carry) auf sämtliche Staaten der Union ausdehnt, unabhängig von den im Einzelfall z.T. enorm voneinander abweichenden Kriterien zur Erteilung derartiger Genehmigungen. Aus Sicht der gun rights-Befürworter trägt jeder rechtschaffene Bürger, der eine Schusswaffe mit sich führt, zur Verbrechensbekämpfung bei. Ende 2017 verfügten landesweit rd. 17 Mio. Personen über eine concealed carry-Lizenz. Nicht nur viele Bundesstaaten mit relativ restriktiven Vergaberichtlinien, auch die große Mehrheit der lokalen Polizeibehörden lehnen das dem US-Senat zur Bestätigung vorliegende Reziprozitäts-Gesetz vehement ab.

Wie schon nach dem Massaker an der Sandy-Hook-Grundschule in Newton/Connecticut im Dezember 2012 (26 Tote, zumeist Erst- und Zweitklässler) keimten nach dem Amoklauf an einer Highschool in Parkland/Florida im Februar 2018 (17 Tote, zumeist Teenager) kurzzeitig Hoffnungen auf einen waffenpolitischen Stimmungswandel in Washington auf, die sich alsbald als Illusion erwiesen. Die Reaktion der Republikaner beschränkte sich auf thoughts and prayers, während allen Vorschlägen zur Änderung des geltenden Waffenrechts eine klare Absage erteilt wurde. Anders als auf Bundesebene wurden in den vergangenen Jahren in mehreren Einzelstaaten  moderate Maßnahmen zur stärkeren Kontrolle des Waffenverkaufs und –gebrauchs eingeführt; daraus ergibt sich allerdings  kein einheitlicher Trend, weil parallel dazu in vielen Gliedstaaten die Rechte von Waffenbesitzern weiter ausgedehnt wurden, etwa in Form von stand your ground-Gesetzen, die den Einsatz von Schusswaffen zu Selbstverteidigungszwecken an jedem möglichen Ort legitimieren, ohne den Angegriffenen darauf zu verpflichten, als erste Option den Rückzug vom Schauplatz der Konfrontation zu erwägen.

Die erwähnten gun control-Fortschritte in diversen Einzelstaaten sind allzu bescheiden, als dass sie einen spürbaren Effekt auf das Ausmaß der Waffengewalt entfalten könnten. Jede einigermaßen realistische Einschätzung des Wirkungspotenzials waffenrechtlicher Neuerungen oder Reformen hat in adäquater Weise der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es in den USA 300 bis 400 Millionen Feuerwaffen im Privatbesitz sowie einen gut sortierten Schwarzmarkt für Schießgerät gibt.

Seit der Amoktat an der Sandy-Hook-Schule wird in den durch opferträchtige mass shootings ausgelösten öffentlichen Kontroversen vermehrt darauf hingewiesen, dass in den USA sowohl in Bezug auf die Ursachen und Rahmenbedingungen der Waffengewalt (gun violence) als auch und vor allem über die Frage, mit welchen Maßnahmen sich das Übel am effektivsten bekämpfen ließe, zu wenig wissenschaftlich geforscht wird. Diese Feststellung ist zweifellos richtig. Insbesondere von staatlicher Seite werden kaum Finanzmittel bereitgestellt, um waffenpolitisch relevante Sachverhalte wissenschaftlichen Analysen zu unterziehen. Der Hauptgrund für diese bemerkenswerte Zurückhaltung der Regierung liegt im Inhalt eines auf Initiative der NRA 1996 von den Republikanern eingeführten und seither unverändert geltenden Amendments, das dem Gesundheitsressort die Bewilligung von Zuschüssen für Forschungsprojekte untersagt, deren Ergebnisse die Empfehlung von gun control-Maßnahmen implizieren könnten.  Den Unwillen der NRA hatte damals eine mit staatlichen Geldern geförderte Studie erregt, die zu dem Schluss kam, dass in waffenbesitzenden Haushalten vor allem wegen des höheren Risikos eines innerfamiliären Tötungsdelikts der mögliche Schaden den potenziellen Nutzen einer Schusswaffe deutlich übersteigt. Der Gesundheitsbehörde hatte die NRA deshalb vorgeworfen, Wissenschaftler zu finanzieren, die ihre Arbeit nicht unvoreingenommen ausübten und in Wirklichkeit eine politische Agenda verfolgten, die das verfassungsmäßige Recht auf privaten Waffenbesitz in Frage stelle. Das besagte Amendment bewirkte, dass die Regierung die Ausgaben für gun policy-Forschung drastisch reduzierte; zudem waren immer weniger junge Wissenschaftler bereit, sich auf einem Gebiet zu spezialisieren, für das es kaum Fördermittel gab. Gelder von privaten Stiftungen reichten nicht aus, um dem Thema in der Forschung einen seiner Bedeutung in der Realität vergleichbaren Rang zu sichern.

Obwohl in der Öffentlichkeit nach jeder spektakulären Bluttat mit steter Regelmäßigkeit mehr staatliches Engagement in der wissenschaftlich fundierten Suche und Konzeption angemessener Maßnahmen und Programme gegen die grassierende gun violence gefordert wurde, zeichnet sich bis zum heutigen Tag keine Trendwende in dieser Angelegenheit ab. Viele Wissenschaftler und Journalisten sowie diverse Politiker sehen in der wissenschaftlichen Vernachlässigung der Waffenproblematik einen wichtigen Erklärungsfaktor für die verhärteten Fronten in der epischen waffenpolitischen Debatte: So lange die Ursachen und Dynamik der gun violence nur unvollständig verstanden würden und es an belastbaren Belegen für die Zweckmäßigkeit und Effizienz einzelner gun control-Konzepte mangele, werde der Streit über das Pro und Contra neuer oder modifizierter Waffengesetze auch zukünftig ähnlich ritualisiert und fruchtlos verlaufen wie bisher.

Eine im März 2018 von der unabhängigen Denkfabrik RAND Corporation präsentierte aufwändige Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Waffenpolitik in den USA brachte frischen Wind in die Diskussion über die politische Relevanz von Forschungsarbeiten zur Identifizierung erfolgversprechender gun policy-Maßnahmen. Die auf einem rigorosen Kriterienkatalog basierende Evaluierung bescheinigt nur einem kleinen Teil der begutachteten wissenschaftlichen Studien einen zweifelsfreien Nachweis der realen Effekte der jeweils untersuchten waffenpolitischen Instrumente. Folgerichtig fordert die RAND Corporation mehr und vor allem bessere Forschung zur Waffengewalt und –politik sowie ein diesbezügliches starkes Engagement Washingtons.

Die Berechtigung des vielstimmig vorgetragenen Plädoyers für mehr Forschung auf dem Gebiet der Waffengesetzgebung steht gänzlich außer Frage. Es drängt sich indes der Eindruck auf, dass der Beitrag, den die Wissenschaft zur Bekämpfung der in mannigfaltiger Form in Erscheinung tretenden Waffengewalt zu leisten vermag, stark und z.T. maßlos überschätzt wird. Dieser eher skeptische Standpunkt fußt auf drei Argumenten:

1.) Wissenschaftlich solide und aussagekräftige Forschungsergebnisse lassen sich nur erzielen, wenn ausreichend gute Daten zur Verfügung stehen. Dies ist aber auf waffenpolitischem Terrain mitnichten der Fall. Das Defizit betrifft grundlegende Sachverhalte: So ist die Zahl der Waffeneigner und der insgesamt vorhandenen privaten Schusswaffen aufgrund des Nichtvorhandenseins eines zentralen nationalen Waffenregisters nicht bekannt. Daher müssen Wissenschaftler mit auf z.T. unsicheren Indizien beruhenden Schätzungen arbeiten. Gleichzeitig wird Forschern der Zugang zu amtlichen Informationen verwehrt, welche die Verbindungen zwischen legalen und illegalen Waffenmärkten erhellen könnten. Seit 2003 beschränkt das Tiahrt Amendment die Weitergabe der Erkenntnisse der mit der Überprüfung lizenzierter Waffengeschäfte betrauten Behörde (ATF) über illegale Praktiken in diesem Metier auf die Instanzen der Strafverfolgung. Zuvor standen die entsprechenden Reports der ATF auch Wissenschaftlern zur Verfügung – eine Praxis, die es gemäß der vehementen Kritik der NRA ihren waffenpolitischen Gegenspielern erlaubte, die gesamte Branche in Misskredit zu bringen. Zudem ist der Nutzen diverser Berichtssysteme, die essentielle Daten zur Schusswaffengewalt sammeln, limitiert, weil (noch) nicht alle Gliedstaaten solche Informationen weiterleiten.

2.) Auch wenn die Datenlage besser wäre, ließen sich viele waffenpolitisch relevante Fragen wissenschaftlich nur unbefriedigend beantworten. Das gilt auch und gerade für einige der zentralen Streitpunkte in der Diskussion über die Effektivität spezifischer waffengesetzlicher Instrumente und über die Notwendigkeit innovativer oder modifizierter rechtlicher Vorschriften. Das Problem liegt nicht primär am Unvermögen der Wissenschaft, sondern wurzelt in der spezifischen Art einiger Fragestellungen, die sich im gegebenen gesellschaftlichen Kontext einer zweifelsfreien Antwort prinzipiell verweigern. Es ist gar nicht so selten, dass US-Forscher nach eindeutigen Zusammenhängen zwischen zwei oder mehreren Faktoren bzw. Variablen suchen (Beispiel: Kann die Festlegung von mehrtägigen Wartefristen zwischen dem Kauf und der Aushändigung der Waffe zur Verminderung von Tötungsdelikten beitragen?), obwohl bereits der common sense eine unmittelbare Kausalität definitiv auszuschließen vermag. Auch in jenen Bundesstaaten, die über relativ strengere Waffengesetze verfügen, sind die Eingriffe in die Rechte von Waffeneignern in keinem einzigen Fall so gravierend, dass sich ihr tatsächlicher Effekt zweifelsfrei feststellen und messen ließe. Die Untersuchung der Wirkung einer konkreten gesetzlichen Regelung in einem Einzelstaat oder einer Großstadt ist letztlich müßig, weil die lokale Entwicklung auch von der waffenrechtlichen Situation bzw. der Waffenverfügbarkeit in den angrenzenden politischen Entitäten beeinflusst wird.

3.) Das Argument, eine Vermehrung wissenschaftlich abgesicherter Erkenntnisse zur Tauglichkeit diverser waffenpolitischer Instrumente könne einen wichtigen Beitrag zur Entkrampfung und Versachlichung der bislang sehr emotional geführten gun policy-Debatte leisten, geht von Voraussetzungen aus, die in den USA schlichtweg nicht existieren. Der Graben zwischen den beiden großen waffenpolitischen Lagern ist allzu tief, als dass er durch profunde Forschungsergebnisse zu einigen der zentralen Streitthemen auch nur ansatzweise überwunden werden könnte. Bei dieser Kontroverse geht es schon seit längerem nicht mehr um Fakten, sondern vor allem um Glaubenssätze, kaum um gute Argumente, dafür aber umso mehr um Ideologie. Der aggressive Ton in der waffenpolitischen Auseinandersetzung spiegelt das tiefe Misstrauen zwischen den gegnerischen Lagern wider. Wegen ihrer politischen Unbeweglichkeit und ideologischen Verblendung muss der NRA und ihrer Klientel sowie deren Fürsprechern im Kongress die Hauptverantwortung für die überaus gereizte Stimmungslage zugewiesen werden. Ultrakonservative gun rights-Advokaten unterstellen der Gegenseite die Verfolgung eines hinterhältigen Plans, der auf ein totales Waffenbesitzverbot abziele. Folgerichtig werden waffenpolitische Zugeständnisse an einen als notorischen Waffenverächter mit verkappten Konfiskationsabsichten diskreditierten Gegner kategorisch ausgeschlossen. Mit Donald Trump verfügt die NRA über einen verlässlichen Schutzpatron im Weißen Haus. Trotz der Machtverschiebung im US-Kongress nach den midterm-Wahlen im November 2018 haben neue waffengesetzliche Initiativen aufgrund der soliden republikanischen Mehrheit im Senat keinerlei Erfolgschancen. Zumindest verfügt die NRA durch die aktuelle Mehrheit der Demokraten im Repräsentantenhaus wieder über ein ebenso vertrautes wie nützliches Feindbild.