Tunesien: Wie die "Kommission für Wahrheit und Würde" zum Opfer der Parteien wurde

Analyse

Am 31. März 2019 wurde der Abschlussbericht der Tunesischen Wahrheitskommission (IVD) der Öffentlichkeit vorgestellt. Yasmin Hajer hat den Gesamtprozess über viele Jahre verfolgt und dazu geforscht. Sie legt in ihrem Beitrag dar, wie die Aufarbeitung der Vergangenheit von den verschiedenen politischen Parteien vereinnahmt und versucht wurde, sie zu beeinflussen.

Transparent Tunesien
Teaser Bild Untertitel
Publication of the final report of the Tunisian Truth Commission (IVD)

Der 17. November 2016 ist ein bemerkenswertes Datum in der Geschichte des modernen Tunesien: An diesem Tag fand die erste öffentliche Anhörung der Kommission für Wahrheit und Würde (Instance Verité et Dignité, IVD) statt. Tunesien ist eines von 44 Ländern, die eine solche Kommission zur Durchführung eines Transitional-Justice-Prozesses eingesetzt haben, um eine Phase des Konflikts abzuschließen und den Beginn eines demokratischen Übergangs zu unterstützen. Folglich wurde dieser historische Moment in internationalen Fernsehsendern übertragen und in Anwesenheit nationaler und internationaler Persönlichkeiten feierlich begangen, unter ihnen Vorsitzende von Kommissionen und Gremien mit vergleichbaren Prozessen aus mehreren Ländern der Welt.

Doch inmitten der Feierlichkeiten gab es eine Person, die die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog – und zwar durch ihre Abwesenheit: Das Symbol des leeren Stuhls des Präsidenten der Tunesischen Republik, Beji Caid Essebsi, entstand nicht aus dem Nichts heraus. Die Botschaft, die von einer der größten Regierungsparteien des Landes, Nidaa Tunis, vermittelt wurde, war eine politische: Die Partei äußerte damit erstmals öffentlich ihre Vorbehalte gegenüber der Kommission. Seit der Verabschiedung des Gesetzes zur Übergangsjustiz am 15. Dezember 2013 haben die beiden großen regierenden Parteien, Nidaa Tunis und Ennahda, die Kommission vor allem als politische Karte in ihrem Machtkampf genutzt. Dies führte auch zur Politisierung des Auftrages der IVD. Die Kommission wurde mehrfach zum Ziel von Anschuldigungen: Sie sei ausgenutzt worden, um eine bestimmte Ideologie zu fördern oder einer bestimmten politischen Gruppe, insbesondere Ennahda, in die Hände zu spielen. Folglich wurden Menschen, die unter den Diktatoren Habib Bourguiba und Zine al-Abidine Ben Ali unterdrückt worden waren, d.h. Opfer, die von der Kommission entschädigt werden sollten, zunehmend als "politische Akteur/innen" gesehen, die angeblich bestimmten politischen Parteiinteressen dienten.

Tatsache ist, dass die Opfer seit 2016 zunehmend ihre eigenen Forderungen artikulierten, unter anderem durch die Organisation von Demonstrationen, Sit-ins und sogar Hungerstreiks. In diesem Zusammenhang haben sie im Oktober 2017 die Allianz der Würde und Rehabilitierung initiiert, um die Arbeit der IVD zu unterstützen und ihr Recht auf Wahrheit und Wiedergutmachung einzufordern. Angesichts der anhaltenden Versuche, den Prozess zu politisieren, blieben ihre Rufe und Forderungen jedoch nicht nur vom herrschenden System, sondern auch von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen ungehört. Als Folge des Trends zur Politisierung und Instrumentalisierung der IVD haben auch sie begonnen, die Neutralität der Arbeit der Kommission in Frage zu stellen.

In diesem Artikel werde ich erläutern, wie die Kommission durch die beiden großen Konfliktparteien von einer verfassungsmäßigen Instanz in ein politisches Instrument verwandelt wurde – trotz der Mechanismen innerhalb des Verfassungsrechts, die die Kommission vor genau diesem Schicksal schützen sollten.

Der rechtliche Schutz der Kommission und der Prozess der Transitional Justice: Ein fehlgeschlagener Versuch?

Das Grundlagengesetz zur Schaffung und Organisation von Transitional Justice (TJ-Gesetz) stellt eine 'tunesische Besonderheit' dar: Die gesetzliche Definition davon, wer oder was als 'Opfer' angesehen werden kann, sowie das, was vom Gesetz als Verbrechen und Gräueltaten definiert wurde, gaben der Kommission die Befugnis, ein breites Spektrum an Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen.

Die Definition von 'Opfern'

Artikel 10 des TJ-Gesetzes betrifft nicht nur diejenigen, die direkt unter Menschenrechtsverletzungen und Gräueltaten wie Folter gelitten haben, sondern auch indirekte Opfer, wie beispielsweise Angehörige von Opfern, die ebenfalls physisch, moralisch oder in Bezug auf ihre Stellung in der Gesellschaft gelitten haben. Artikel 10 des Gesetzes besagt, dass "ein Opfer jede Einzelperson, Gruppe oder juristische Person ist, die durch eine [Menschenrechts-]Verletzung geschädigt wurde. Nach dem öffentlichen Recht gelten auch Familienangehörige als Opfer, die aufgrund ihrer Verwandtschaft zum Opfer wurden, sowie jede Person, die beim Einsatz zur Unterstützung des Opfers oder zur Verhinderung der Verletzung seiner/ihrer Rechte geschädigt wurde."[1] Die Inklusivität dieser Definition zielt darauf ab, die Möglichkeit einer Diskriminierung zwischen den Opfern aufgrund von Ideologie, politischer Orientierung oder aus anderen Gründen zu verringern. Darüber hinaus umfasst das im TJ-Gesetz vorgesehene Mandat der Kommission den gesamten Zeitraum von 1955 (dem Zeitpunkt der Unabhängigkeit von Frankreich) bis 2013, in dem in Tunesien gegen alle oppositionellen Gruppierungen Menschenrechtsverletzungen begangen worden sind. Dazu gehörten Menschenrechtsverteidiger/innen, Youssefist/innen (Anhänger/innen von Bourguibas Konkurrent Salah Ben Youssef während und nach der Unabhängigkeit), Linke, Islamist/innen, Unionist/innen und andere.

Darüber hinaus wurde Frauen im TJ-Gesetz besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Sie wurden nicht nur nachdrücklich ermutigt, ihre Akten einzureichen und Zeugnis abzulegen, sondern auch sie wurden als entscheidend für den Erfolg des Prozesses angesehen, da sie ebenso wie Männer zu denjenigen gehörten, die unter Unterdrückung und Gewalt der alten Regime gelitten und eine entscheidende Rolle bei den Aufständen Ende 2010/Anfang 2011 gespielt hatten.

Aus diesem Grund hat die Kommission eine Unterkommission für Frauen, die Frauenkommission, eingerichtet, die quer zu und mit anderen Unterkommissionen arbeitet, wie z.B. den Unterkommissionen für Schiedsgerichtsbarkeit und Schlichtung, Reparation und Rehabilitation, Bewahrung des Gedächtnisses, Untersuchung und Investigation, sowie Funktionale Prüfung und Institutionelle Reform.

Darüber hinaus ging die gesetzliche Anerkennung der Opfer über Einzelne hinaus und bezog auch "jede Region, die marginalisiert war oder unter systematischer Ausgrenzung litt", ein, wie in Artikel 10 ausgeführt wird.[2] Das bedeutet, dass die marginalisierten Regionen Tunesiens, die einer systematischen Ausgrenzung ausgesetzt gewesen waren, die zum Teil wiederum auf politische Feindschaften der Ex-Regime zurückzuführen war, den Status einer "Opferregion" erhielten und somit Reparationen anstreben konnten.

Die Definition von Menschenrechtsverletzungen

Ähnlich wie in der Definition von Opfern bezieht das TJ-Gesetz auch eine breite Definition von Menschenrechtsverletzungen ein und berücksichtigt somit eine Vielzahl von Verbrechen, Gräueltaten und Verletzungen, die von den früheren Regimen begangen wurden. Artikel 3 des TJ-Gesetzes besagt, dass nicht nur Menschenrechtsverletzungen mit politischen Hintergründen, sondern auch Verletzungen wirtschaftlicher und sozialer Rechte berücksichtigt werden müssen. Genauer gesagt heißt es in Artikel 3: "Unter Verletzung versteht man in diesem Gesetz jede grobe oder systematische Verletzung eines Menschenrechts, die von den Apparaten des Staates oder von Gruppen oder Einzelpersonen, die im Namen des Staates oder unter seinem Schutz gehandelt haben, begangen wird, auch wenn sie dazu nicht in der Lage oder befugt sind. Die Verletzung umfasst auch jede grobe oder systematische Verletzung eines Menschenrechts, die von organisierten Gruppen begangen wird."[3] Diese Inklusivität ermöglichte es beispielsweise, die Verletzung eines Rechts auf Bildung und/oder auf Positionen im öffentlichen Sektor zu berücksichtigen, was viele oppositionelle politische Aktivisten, sowohl Islamisten als auch Linke, betraf.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das breite Spektrum an Definitionen von Opfern und von Menschenrechtsverletzungen durch die alten Regime, das in das Gesetz aufgenommen wurde, darauf abzielte, es jeder politischen Partei, einschließlich Ennahda, schwer zu machen, die IVD für ihre eigenen Interessen zu nutzen. Die Befürworter/innen von Transitional Justice, darunter Abgeordnete und zivilgesellschaftliche Akteur/innen, die an der Ausarbeitung des Gesetzes beteiligt gewesen sind, haben ihr Bestes getan, um den Prozess der Übergangsjustiz insbesondere vor jedem Versuch eines politischen Missbrauchs zu schützen und dagegen zu immunisieren. Wie ich jedoch in den folgenden Abschnitten zeigen werde, ist es den politischen Akteur/innen nicht immer gelungen, die Arbeit der Kommission von den politischen Machtkämpfen im Land zu trennen.

Zwei gegensätzliche Kräfte im Aufstieg

Auslöser für die Politisierung der Kommission für Wahrheit und Würde und ihr zunehmendes Unvermögen neutral zu bleiben, war der politische Kontext, in dem die Kommission eingerichtet worden ist.

Aus den Wahlen zur konstituierenden Versammlung am 23. Oktober 2011 entstand die islamistische Ennahda-Partei, die nach der Revolution große Teile der Bevölkerung mobilisieren konnte. Nach den Wahlen, bei denen Ennahda 89 von 217 Sitzen gewann, folgte die Bildung einer Regierung mit Hamadi Jebali von Ennahda als Premierminister und dem Ennahda-Verbündeten Moncef Marzouki vom mitte-linken Kongress der Republik (CPR) als Präsident der Tunesischen Republik. Zusammen mit der sozialdemokratischen Ettakatol-Partei stärkte diese so genannte 'Troika'-Regierung die Macht und Legitimität von Ennahda.

Darüber hinaus trat Anfang Februar 2011 eine Generalamnestie für politische Gefangene, die während der Zeit von Ben Ali verhaftet worden waren, in Kraft. Daraufhin wurden rund 3.000 Personen aus den Gefängnissen des Landes entlassen.[4] Die Mehrheit der Amnestierten hatte frühere Verbindungen zu Ennahda, aber unter ihnen befanden sich auch Linke, Nationalist/innen, Menschenrechtsverteidiger/innen, Unionist/innen und andere ehemalige politische Gegner/innen.

Das Gesetz Nr. 4 vom 22. Juni 2012, das die Ausnahmebedingungen für die Rekrutierung von Bürger/innen im öffentlichen Sektor regelt – und insbesondere das Dekret Nr. 3252 vom 13. Dezember 2012, in dem es heißt, dass ehemaligen politischen Gefangenen eine Stelle im öffentlichen Sektor als Ausgleich für verwehrte Entwicklungsmöglichkeiten unter den früheren Regimen gewährt werden kann – wurden von Parteien, die sich gegen Ennahda wendeten, berechtigterweise vielfach kritisiert. Infolge dieser Gesetzgebung ging die Zahl der Neueinstellungen weit über den Bedarf des öffentlichen Sektors hinaus und blähte das System mit nicht ausreichend qualifizierten Beschäftigten weiter auf. Die Opposition sah in diesem Akt keine 'Wiederherstellung der Grundrechte' für politische Gefangene, sondern interpretierte ihn als eine Möglichkeit für die Ennahda-Partei, ihren Einfluss auf alle staatlichen Institutionen auszuweiten.

Darüber hinaus stellte das Aufkommen von salafistisch-dschihadistischem Aktivismus nach der Revolution eine weitere wichtige Entwicklung dar, die Auswirkungen auf den Transititional-Justice-Prozess hatte.[5] Mehrere salafistische Parteien wurden unter Jebalis Regierung rechtlich anerkannt, darunter die radikalste Hizb Al Tahrir. Darüber hinaus wurden andere außerparlamentarische salafistische Gruppen, insbesondere Ansar Al Sharia fi Tunis, sich selbst überlassen und nicht an ihren Aktivitäten gehindert, zu denen offene 'Missionierungsversuche' und die Rekrutierung junger Menschen für bewaffnete Gruppen gehörten. Infolgedessen spitzte sich die politische Lage in Tunesien, insbesondere nach den Morden an den säkularen linken Oppositionellen Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi im Februar 2013 bzw. Juli 2013 zu. Dies trug zur öffentlichen Feindseligkeit gegenüber Ennahda bei, und zur Schuldzuweisung der Opposition, die Partei habe die Interessen salafistischer Gruppen geteilt. Letztere wurden ihrerseits beschuldigt, an den Morden beteiligt gewesen zu sein.

Ennahdas Aufstieg zur Macht führte zur Zuspitzung der politischen Lage und setzte das Land der Gefahr eines Bürgerkriegs aus. Dies nährte einen breiten anti-islamistischen politischen Diskurs, der von der liberalen und säkularen Opposition vorangetrieben wurde und 2012 schließlich in die Gründung der Partei Nidaa Tunis mündete. In diesem anti-islamistischen Klima wurde am 23. Dezember 2013 die IVD geschaffen, und Sihem Ben Sedrine, eine bekannte Journalistin und Menschenrechtsaktivistin unter dem Regime Ben Alis, wurde von der Verfassungsgebenden Versammlung zur Präsidentin der Kommission gewählt. Da die Mehrheit der Verfassungsgebenden Versammlung jedoch aus Ennahda-Mitgliedern und –Sympathisant/innen bestand, stellte die Opposition die Neutralität dieser Wahl in Frage und bezeichnete Ben Sedrine als Dienstleisterin im Interesse der Ennahda-Partei und ihrer Anhänger/innen.

Die Kommission für Wahrheit und Würde: Zwischen Parteilichkeit und Gegnerschaft

1 – Nidaa Tunis und die Blockade des Prozesses 

In ihrem politischen Projekt präsentierte sich die neu gegründete Nidaa-Tunis-Partei als Fortsetzung des bürgerlichen, "modernistischen" Erbes und etablierte einen anti-islamistischen Diskurs. Die Partei bot auch ein neues politisches Lager für Vertreter/innen der alten Regime, die sich direkt oder indirekt an vergangenen Menschenrechtsverletzungen beteiligt hatten, insbesondere für diejenigen, die in höheren Positionen tätig gewesen waren. Aus diesem Grund wurden gerade Ermittlungen zu diesen Verbrechen, die den Kern des Mandats der IVD ausmachen, von Nidaa Tunis zunehmend als Bedrohung wahrgenommen.

Nach ihrem Erlangen der Mehrheit bei den Parlamentswahlen im Oktober 2014 entwickelten sich die ideologischen Spannungen zwischen Nidaa Tunis, der damals stärksten Partei im Parlament, und der zweitstärksten Partei Ennahda in eine spürbare politische Auseinandersetzung. Vor dem Hintergrund von Ennahdas Image als Unterstützerin der IVD drückte Nidaa Tunis ihre Feindseligkeit gegenüber der Kommission in Form einer offen anti-islamistischen Rhetorik aus. Nidaa Tunis bediente sich nun des gleichen Diskurses, der seit der Einsetzung der Kommission im Jahr 2013 von der politischen Opposition gegen Ennahda initiiert worden war, und intensivierte diesen sogar noch, indem sie die Kommission politisierte und als von Ennahda geschaffene politische Akteurin darstellte. Im Zuge dieser Auseinandersetzung wurde die Arbeit der IVD kompromittiert: So verhinderte die Regierung, nachdem die Präsidentschaft von Marzouki zu Essebsi übergegangen war, den Zugriff der Kommission auf das Präsidentenarchiv sowie auf die Archive des Innenministeriums und des Finanzministeriums. Darüber hinaus blockierte Nidaa Tunis die Genehmigung des Haushalts der Kommission im Parlament mehrfach.

Bis heute wurden nur 20 von fast 60.000 Fällen von Unrecht und Menschenrechtsverletzungen, die der Kommission vorgelegt worden waren, an die Sondergerichtskammern weitergeleitet, und nur wenige Akten sind Teil der Ermittlungsprozesse der Unterkommission Untersuchung und Beweisführung geworden. Darüber hinaus warten die Opfer bis heute auf ihre Dokumente, in denen die Menschenrechtsverletzungen, denen sie ausgesetzt waren und die Art der Reparationen, auf die sie Anspruch haben, festgesetzt werden. Dies hat einige von ihnen Anfang 2017 veranlasst, vor dem Hauptsitz der IVD unter dem Slogan "Wo ist meine Akte?" Demonstrationen abzuhalten. Bislang wurde dieser Kampagne bzw. den Forderungen der Opfer jedoch keine politische Aufmerksamkeit geschenkt.

Auch die Liste der Namen der gesetzlich anerkannten Opfer wurde bis heute nicht veröffentlicht – und angesichts der Tatsache, dass die IVD ihre Mission im Dezember 2018 beendet[MB1] , scheint es unwahrscheinlich, dass dies bald geschehen wird. Obwohl kürzlich im Journal Officiel de la République Tunesienne (JORT) eine Al-Karama (Würde)-Reparationszahlungskasse Erwähnung fand, ist ein zugehöriger Verwaltungsausschuss bisher nicht eingerichtet worden. Auch das Bankkonto, auf dem die nationalen und internationalen Spenden für die Entschädigungen eingehen sollen, wurde bisher nicht von der Regierung eröffnet.

2 – Die Kommission und Ennahdas politischer Pragmatismus

An dieser Stelle ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass neben den kontinuierlichen Angriffen von Nidaa Tunis auf die Kommission auch Ennahda die von Nidaa Tunis ausgelösten Politisierungsversuche bewusst zu ihrem eigenen Vorteil nutzte, anstatt sie anzufechten. Die folgenden drei Argumente unterstützen diese Aussage:

Erstens, Ennahdas pragmatische Unterstützung des Gesetzes zur Administrativen Aussöhnung, das im Oktober 2017 vom Parlament verabschiedet wurde, begünstigte die Tatsache, dass Beamte, die unter Ben Ali und Bourguiba an Korruption und Betrug beteiligt gewesen waren, dadurch nun Straffreiheit genießen. Dieses Votum wurde in zahlreichen Erklärungen von Ennahda-Mitgliedern und den Teilen der Zivilgesellschaft, die den Transitional-Justice-Prozess unterstützen, sowie von der IVD selbst stark kritisiert.

Zweitens, als die IVD eine Verlängerung ihrer Mission um ein weiteres Jahr – bis Ende 2019 statt bis 2018[6] – beantragte, verließen die Abgeordneten der Ennahda-Partei das Plenum und enthielten sich der Abstimmung in der Plenarsitzung am 26. März 2018, so dass die Mehrheit im Parlament, Mitglieder von Nidaa Tunis und kleinere politische Parteien, gegen die Verlängerung stimmen konnten. Aus pragmatischen Erwägungen verzichtete Ennahda somit darauf, ihre Koalitionspartnerin Nidaa Tunis zu konfrontieren, brachte aber gleichzeitig kontinuierlich ihre pro-IVD-Position gegenüber der Opposition und der Öffentlichkeit zum Ausdruck. Diese Art der Kommunikation ermöglichte es Ennahda, verstärkt Unterstützung unter den Opfern der vorherigen Regime zu generieren – unabhängig davon, dass die Partei sich in der parlamentarischen Abstimmung nicht für die Verlängerung des IVD-Mandats eingesetzt hatte. Ihre Unterstützer/innen betrachteten die Partei als 'Retterin' der Kommission. In mehreren Interviews, die ich beispielsweise mit Opfern von Unterdrückung während des Ben-Ali-Regimes geführt habe, brachten meine Interviewpartner zum Ausdruck, dass sie nicht Ennahda, sondern Nidaa Tunis für die Annahme des Versöhnungsgesetzes verantwortlich machten, weil letztere Ennahda unter Druck gesetzt habe.

Drittens hat Ennahda in jüngster Zeit ein Interesse daran entwickelt, den vollen Erfolg der Kommission für Wahrheit und Würde einzudämmen – aus Sorge über das, was von der unabhängigen sogenannten Kommission zur Verteidigung von Brahmi und Belaïd vorgelegt wurde. Diese wurde von Mitgliedern der Oppositionsparteien, insbesondere der politisch linken 'Volksfront', initiiert, um die Ermordungen an den beiden linken Politikern im Jahr 2013 zu untersuchen. Kürzlich beschuldigte diese Kommission Ennahda der direkten Beteiligung an den Attentaten und lancierte juristische Wege zur Auflösung der Partei. Zusätzlich betonte der tunesische Präsident und Nidaa-Tunis-Vorsitzende Essebsi in mehreren öffentlichen Erklärungen sein Interesse daran, die Ergebnisse der Kommission zur Verteidigung von Brahmi und Belaid gerichtlich weiterzuverfolgen; dieser Diskurs wurde zu einem Zeitpunkt intensiviert, zu dem sich die beiden Parteien in einer politischen Sackgasse befanden. Infolgedessen begann Ennahda, von der Forderung nach strafrechtlicher Verfolgung von Menschenrechtsverletzer/innen unter den Ex-Regimes zu einem Diskurs überzugehen, der sich für eine allgemeine Versöhnung einsetzt und den Anspruch auf/die Forderung nach historischer Aufarbeitung hinter sich lässt: In einer Rede im November 2018 teilte Rached Al-Ghannouchi, Vorsitzender von Ennahda, seine Absicht mit, die Phase der Strafverfolgung und Wahrheitssuche zu überwinden. Dies zeigt, wie die Kommission und die ihr zugrundeliegenden Prinzipien der Transitional Justice von Ennahdha im Interesse der Partei kompromittiert werden.

Fazit

Die Kommission für Wahrheit und Würde wurde auf der Grundlage geschaffen, dass die Fälle aller Opfer gleichbehandelt werden sollten. Die Politisierung der Kommission schränkte jedoch die Möglichkeiten ein, die ursprünglich vom Gesetz vorgesehene breite Opferdefinition beizubehalten. Die Opfer wurden zunehmend als Gruppen und politische Akteur/innen wahrgenommen, die ihre Rechte nur zugunsten eines politischen Blocks und gegen einen anderen einforderten. Bedauerlicherweise setzte sich diese Rhetorik, die zunächst von Nidaa Tunis betrieben wurde, bald auch bei den Akteur/innen der Zivilgesellschaft und der breiteren tunesischen Bevölkerung durch. Zahlreiche Aktivist/innen, darunter Feminist/innen und sogar einige Opfer selbst, insbesondere aus der Linken, begannen, die Neutralität der Kommission in Frage zu stellen. Letztendlich wurden bereits bloße Sympathiebekundungen mit den Opfern zum Gegenstand ideologischer Auseinandersetzungen.

Am 12. November 2018 begannen fünf weibliche ehemalige politische Gefangene ein Sit-in in der Zentrale der IVD und gingen zehn Tage lang in den Hungerstreik, um gegen die Verzögerung des Entschädigungsprogramms durch die Kommission zu protestieren. Keine der etablierten feministischen Organisationen in Tunesien besuchte diese Frauen oder berichtete über ihre Forderungen in Social-Media-Kanälen – ganz zu schweigen von der völligen Abwesenheit jeglicher Art von Medienberichterstattung über diesen Protest und die damit verbundenen Missstände. Infolgedessen blieb ihr Streik von der Öffentlichkeit unbemerkt.

Die Politisierung der Arbeit der Kommission für Wahrheit und Würde und ihre Umwandlung von einem verfassungsmäßigen Mechanismus in ein politisches Instrument war Ergebnis des Machtkampfes zwischen Nidaa Tunis und Ennahda. Dies verzerrte die Arbeit der Kommission und entkräftete ihr ursprüngliches Mandat, nämlich die Forderung nach Gerechtigkeit für die Opfer von Verbrechen der Vergangenheit. In einem kürzlich von mir geführten Interview mit Jamal Barakat – dem Bruder von Faysal Barakat, einem politischen Gefangenen, der 1991 unter schwerer Folter starb – erklärte der Interviewte: "Das Regime von Ben Ali hat uns zu Opfern von Unterdrückung und Ausbeutung gemacht. Heute macht uns das derzeitige Regime zum zweiten Mal zu Opfern. Diesmal sind wir jedoch Opfer der Machtgier und der politischen Interessen der Machthaber."


[1] "Organic Law on Establishing and Organizing Transitional Justice” – inoffizielle [englische] Übersetzung des International Centre for Transitional Justice (ICTJ), Büro des UN-Hochkomissars für Menschenrechte, abgerufen von https://www.ohchr.org/Documents/Countries/TN/TransitionalJusticeTunisia.pdf. [Aus der englischen Version ins Deutsche übersetzt; Anm. d. Übers.].

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] N.N. (2011): “Thousands of Ben Ali's political prisoners released under amnesty." France 24. Online unter: https://www.france24.com/en/20110219-thousands-political-prisoners-held-under-ben-ali-released-under-general-amnesty-tunisia.

[5] Vgl. Hajar, Y. (2018): "Democratic Islam According to Ennahda: First Appraisal." The Legal Agenda, 11. Online unter: http://legal-agenda.com/en/article.php?id=4499.

[6] N.N. (2018): “Tunisia to extend Truth and Dignity Commission’s mandate until end of 2018”, Middle East Mentor. Online unter: https://www.middleeastmonitor.com/20180525-tunisia-to-extend-truth-and-dignity-commissions-mandate-until-end-of-2018/