"Es geht darum, dass wir die uralten Strukturen verändern"

Interview

Wie kann Deutschland soziale Gerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit fördern? Ein Interview mit Staatsministerin Michelle Müntefering über Deutschlands Rolle im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen 2019-2020.

Michelle Müntefering

Dieses Interview ist Teil unseres Dossiers "Feministische Außenpolitik".

Die deutsche Regierung hat angekündigt, sich während ihrer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf Menschenrechte und Einhaltung der Menschenrechte, Klima und Klimasicherheit sowie Gesundheit und Gesundheitssicherung zu konzentrieren. Welche Rolle spielte das Bekenntnis zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter bei der Definition dieser Schwerpunktbereiche?

Das wird ein Kernansatz unseres Engagements im Sicherheitsrat. Das habe ich Ende Oktober 2018 für Deutschland in der offenen Debatte im UNO-Sicherheitsrat zur Umsetzung der Resolution 1325 in New York deutlich gemacht. Die Debatte dauerte fast einen ganzen Tag, es haben über 80 Rednerinnen und Redner gesprochen. Das war eine wichtige Diskussion, bei der einmal mehr deutlich wurde: Frauen haben eine maßgebliche Rolle für Frieden und Sicherheit.

Wir wissen: Wenn Frauen an Friedensprozessen beteiligt sind, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Friedensabkommen länger als 15 Jahre hält, um 35 Prozent. Die Einbindung von Frauen bei der Friedensschaffung, dem Wiederaufbau und der Transformation von Gesellschaften, ist damit ein zentraler Erfolgsfaktor für den Frieden.

Die Ungleichheit der Geschlechter ist, neben Menschenrechtsverletzungen und klimabezogenen Sicherheitsrisiken, immer noch eine Hauptursache gewalttätiger Konflikte. Die gleichberechtigte Mitwirkung von Frauen in allen Phasen von Konflikten ist also nicht nur eine Frage der Gleichberechtigung, sondern ein Schlüsselelement für nachhaltige Friedenssicherung.

Ein weiterer Schwerpunkt bildet die Kontrolle von Handfeuerwaffen Kleinwaffen, ein Thema, bei dem sich Deutschland bereits seit langem engagiert. Wie verändert sich die Arbeit in diesem Bereich, wenn man eine Genderperspektive miteinbringt?

Wir sehen ganz konkret, was die aktive Beteiligung von Frauen bewirken kann und handeln auch danach. Ein Beispiel: Die Abrüstungskampagnen, die wir im ländlichen Nigeria unterstützt haben, hätten ohne die Einbeziehung und Überzeugungskraft weiblicher Führungskräfte nicht funktioniert. Gegenwärtig entwickeln wir neue Strategien zur Bekämpfung des illegalen Handels von Kleinwaffen in den Grenzregionen Burkina Faso, Cote d'Ivoire und Mali. Auch hier arbeiten wir direkt mit der lokalen Bevölkerung der Region zusammen.

Um die Kontrolle von Handfeuerwaffen zu verbessern, ist es ausschlaggebend, sich der Zusammenhänge zwischen der Kontrolle von Kleinwaffen und einer sinnvollen Beteiligung von Frauen bewusst zu werden. Weibliche Führungspersönlichkeiten sind unverzichtbar bei der Mobilisierung der lokalen Unterstützung gegen den illegalen grenzüberschreitenden Waffenhandel, als auch bei der Schaffung alternativer Lebensgrundlagen, die wirtschaftliche Stabilität garantieren soll.

Auf dem Treffen des Treffpunkts Frauen, Frieden und Sicherheit im April 2018 erklärte Außenminister Heiko Maas: „Frauen können und müssen eine aktive Rolle bei der Konfliktverhütung, an Verhandlungstischen, während des Wiederaufbaus und während des Versöhnungsprozess spielen nachdem Konflikte zu Ende sind.“ Dennoch sind Frauen am Verhandlungstisch noch immer massiv unterrepräsentiert, werden ins Abseits gestellt und sogar in der Umsetzungsphase von Friedensabkommen sogar aktiv marginalisiert. Wie plant die deutsche Regierung, dies während ihrer Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat zu tun?

Das ist so. Wir können es uns nicht leisten, über Frieden, Frauen und Sicherheit im 21. Jahrhundert zu sprechen, ohne dass Frauen am Tisch sitzen. Sie müssen Akteure und Gestalter der Friedens- und Sicherheitspolitik sein und nicht nur Empfängerinnen politischer Entscheidungen. Deutschland ist seit Beginn engagierter Befürworter der Agenda für „Frauen, Frieden und Sicherheit“. Deshalb freuen wir uns, den Co-Vorsitz der informellen Expertengruppe des Sicherheitsrats von Schweden zu WPS zu übernehmen. Die unverzichtbare Rolle von Frauen am Gestaltungsprozess soll aber auch im Rat selbst sichtbar werden: Deshalb wollen wir einen Akzent setzen, indem wir weibliche Berichterstatter der Zivilgesellschaft einladen um im Sicherheitsrat vorzutragen.

Nicht alle Regierungen sehen die Notwendigkeit, die Rechte von Frauen zu fördern, ihnen Gehör zu verschaffen und die politische Beteiligung von Frauen zu erhöhen. Wie plant die Bundesregierung, den Widerstand gegen die Gleichstellung der Geschlechter zu überwinden?

Wir werden die Rolle der Frau und der gleichberechtigten Teilhabe an sämtlichen gesellschaftlichen Prozessen zur Sprache bringen. Kontinuierlich, bei Diskussionen und in Dokumenten. Wir setzen darauf, dass Widerstände schrittweise überwunden werden können.

Den Ansatz einer notwendigen Beteiligung von Frauen an Friedens- und Mediationsprozessen werden wir aber auch in die regionalen und länderspezifischen Überlegungen des UN-Sicherheitsrats einbringen. Und: Wir unterstützen Projekte direkt, wie etwa das African Women Leaders Network, um die Beteiligung von Frauen an Transformationsprozessen der Afrikanischen Union zu erhöhen. Denn wir wollen nicht nur über Frauen, Frieden und Sicherheit in internationalen Gremien wie den Vereinten Nationen diskutieren, sondern auch zu einer spürbaren positiven Veränderung vor Ort beitragen. Gleichstellung und Menschenrechte gehören zum Kern deutscher Außenpolitik.

Immer mehr Organisationen der Zivilgesellschaft drängen die deutsche Regierung, in die Fußstapfen Schwedens und Kanadas zu treten und offen eine feministische Außenpolitik zu verfolgen, auch als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat. Ist die deutsche Regierung bereit für eine feministische Außenpolitik? (Warum/ Warum nicht?)

Das sind gute Beispiele - und für mich ganz persönlich auch vorbildhaft. Letztes Jahr habe ich in New York Margot Wallström getroffen. Die schwedische Außenministerin hat in diesem Feld viel erreicht, ich finde das, auch gerade als Vertreterin einer jungen Generation, großartig. Auch Kanada war schon immer ein enger Partner Deutschlands, wenn es darum ging, sich für Gleichstellung und Menschenrechte einzusetzen. Deutschland kann sich da aus meiner Sicht noch einiges abgucken. Ich werde diese Gespräche weiter führen. Es ist gut, dass es heute auch wieder viele junge Frauen in Deutschland und auf der ganzen Welt gibt, die sich engagieren. Ich bin überzeugt: Die Debatte lohnt sich.

Die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter durch die Außenpolitik beginnt mit den für die Außenpolitik zuständigen inländischen Behörden. Wenn wir uns jedoch das Auswärtige Amt, das Verteidigungsministerium und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung anschauen, finden wir nur drei Frauen (eine von Ihnen) in Führungspositionen von 15. Nur 13,4 Prozent der deutschen Botschafter/innen sind weiblich. Die Zeit berichtete kürzlich, Frauen seien in der deutschen Regierung nicht nur unterrepräsentiert, sondern würden systematisch daran gehindert, in Führungspositionen innerhalb der Regierung zu arbeiten. Vereinfacht gesagt wird die deutsche Außenpolitik immer noch von einem patriarchalischen System gestaltet und ausgeführt. Was unternimmt die Bundesregierung, um diese Strukturen zu verändern?

In der Tat. Wir haben da noch einen langen Weg vor uns. Einige Verbesserungen sind aber glücklicherweise sichtbar, gerade seit letztem Sommer gab es Bewegung. Derzeit haben wir rund 100 Frauen in Führungspositionen, die eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der deutschen Außenpolitik spielen, von Referatsleiterinnen über Abteilungsleiterinnen hin zu Botschafterinnen. Das ist aber bei weitem nicht genug. Es geht aus meiner Sicht darum, dass wir die uralten Strukturen, die hauptsächlich von Männern gemacht wurden, verändern - die Kultur und die Mechanismen, die zu einer immer noch erheblichen Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen führen. Im diplomatischen Dienst lag der Frauenanteil bei Neueinstellungen bis Ende der 1990er Jahre bei lediglich 10-20 Prozent. Die Frauen, die damals nicht eingestellt wurden, fehlen uns heute. Deshalb bin ich froh, dass wir in den vergangenen Jahren die Anzahl der Frauen unter unseren jungen Diplomaten deutlich erhöhen konnten. Diesen Weg müssen wir jetzt konsequent weiter gehen. Ich bin übrigens froh, dass wir mit Bundesaußenminister Heiko Maas einen modernen Mann haben, der seit seinem Amtsantritt vier Abteilungsleiterinnen ernannt hat - und die erste weibliche Inspektorin in der Geschichte des Auswärtigen Amtes. Also: Es geht voran. Wir machen Tempo.

In einem Interview von vergangenem Jahr haben Sie gesagt, das "Zeitalter der Frauen" habe gerade erst begonnen. Derzeit erleben wir jedoch eine Zeit, in der Präsidenten trotz zahlreicher Behauptungen wegen sexueller Belästigung gewählt werden, und immer mehr Regierungen erwägen offen, die reproduktiven Rechte von Frauen einzuschränken. Warum hat das "Zeitalter der Frauen" gerade erst begonnen?

100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts gilt: Wir haben eine große Chance. Die Generationen vor uns haben viel erreicht. Es gibt Jugendliche, die kennen nur eine Frau als Bundeskanzlerin. Das zeigt doch auch: Heute ist alles möglich. Ich will nicht, dass Populisten und Nationalisten wieder Oberhand gewinnen und alles Erreichte wieder zurückdrehen. Aber wir müssen es wollen und dafür weiter kämpfen, wenn wahre Gleichberechtigung erreicht werden soll. Wir Frauen können einen Unterschied dabei machen, wohin sich diese Welt jetzt entwickelt. Deswegen ist es so wichtig, dass sich Frauen was zutrauen und - Frauen andere Frauen unterstützen.

Das Interview mit Staatsministerin Michelle Müntefering führte der CFFPDieses Interview ist Teil unseres Dossiers "Feministische Außenpolitik".

Video-Kommentar von Nicola Popovic (Beraterin für Frauen, Frieden, Sicherheit):

 

Nicola Popovic - Was sollte Deutschland als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat tun? - Heinrich-Böll-Stiftung

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Nicola Popovic - Ist die Förderung von Frauen, Frieden und Sicherheit gesetzlich festgeschrieben? - Heinrich-Böll-Stiftung

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Nicola Popovic - Warum sollte sich der UN-Sicherheitsrat mit Geschlechterpolitik beschäftigen? - Heinrich-Böll-Stiftung

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