Indien: Angehörige sexueller Minderheiten erhalten volle Bürgerrechte

Hintergrund

In einem wegweisenden Urteil entschied das Oberste Gericht in Indien gegen den Paragraphen 377, der gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr kriminalisiert. Die LGBTQ-Aktivistin Shubha Chacko beschreibt die Bedeutung des Urteils für die indische Gesellschaft.

Arms reach out of a group of protesters in India and wave various LGBTI flags under a big tree.

Vishnu, Tränen in den Augen, umarmte mich und sagte immer wieder mit erstickter Stimme „Danke! Danke!“. Wenige Stunden zuvor, am 6. September 2018, hatte der Oberste Gerichtshof von Indien Paragraph 377 des indischen Strafgesetzbuchs (Indian Penal Code – IPC) als „irrational“, „willkürlich“ und „unverständlich“ bezeichnet.

Dieser Paragraph bot in Indien seit mehr als 155 Jahren die Rechtfertigung für die Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen. Vishnus Dankbarkeit als schwuler Mann galt weniger mir persönlich als allen Aktivist*innen, Jurist*innen, Medienvertreter*innen und allen anderen Verbündeten – und natürlich den Richter*innen des Obersten Gerichtshofs.

Hintergründe zur Entstehung des Paragraphen 733

In der traditionellen indischen Gesellschaft konnten nicht der Norm entsprechende geschlechtliche Identitäten, insbesondere von Männern und Personen, die von Geburt an als männlich galten, durchaus offen gelebt werden: Sie wurden toleriert, akzeptiert und manchmal sogar gefeiert. Der Diskurs über Sexualität war jedoch tief in der Kasten- und patriarchalischen Kultur verankert. Das heißt, ein Ziel der patriarchalischen Kultur war die Kontrolle der weiblichen Sexualität, ein Ziel der Kastenkultur war die Verhinderung der „Vermischung“ der Kasten.

Mit der britischen Herrschaft wurde Sexualität tabuisiert, ein „schmutziger“ Aspekt des Lebens. Die britischen Kolonialherren erließen nicht nur Gesetze, die die Beherrschten allgemein diskriminierten, sondern insbesondere auch die sexuellen Minderheiten und Sexarbeiter*innen. Da die Kolonialherrscher die Gesellschaft unter anderem „sauber“, „ordentlich“ und „moralisch“ wollten, wurden Normen und Gesetze entsprechend angepasst. In ihrem Buch „Same-Sex Love in India“ (2000) weisen Ruth Vanita und Saleem Kidwai auf die Homophobie hin, die sich ab dem 19. Jahrhundert als Erbe der Kolonialzeit, der Auferlegung der britischen Anti-Sodomie-Gesetze und der viktorianischen Moralvorstellungen zunehmend verbreitete.

Gleichzeitig wurden unter dem Vorwand, sich der angeblichen Welle der Syphilis und Gonorrhoe entgegenzustemmen, eine Reihe von Gesetzen verabschiedet. So versuchte etwa das Gesetz gegen ansteckende Krankheiten (Contagious Disease Act) Prostituierte, die sich weigerten sich gegen „ansteckende“ (d. h. durch Geschlechtsverkehr übertragene) Krankheiten behandeln zu lassen, in Garnisonsstädten zu segregieren oder sie komplett zu entfernen. Hierbei ging es weniger um Gesundheitsschutz als um die Einhegung des angeblich verderbten, niedrigen und unzivilisierten Verhaltens der Einheimischen.

Das indische Strafgesetzbuch (IPC), das erste kodifizierte Strafgesetz im britischen Empire, enthielt einen Paragraphen, der sich am britischen Buggery Act von 1533 orientierte und das „verabscheuungswürdige und widerwärtige“ Vergehen der buggery (Analverkehr) mit „Mensch oder Tier“ unter Strafe stellte. Dieser Paragraph entwickelte sich mit der Zeit zum Paragraph 377 (Section 377) des IPC, der „Geschlechtsverkehr entgegen die Natur“ kriminalisiert und „unnatürliche Vergehen“ definiert als „Geschlechtsverkehr“ (d. h. mit Penispenetration) gegen die Natur mit Mann, Frau oder Tier. Den Verurteilten drohte lebenslänglich Gefängnis oder eine anderweitige Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren und eine Geldstrafe.

Missbrauch und Gewalt gegen Angehörige der LGBTQ-Community

Oberflächlich betrachtet mag es so aussehen, dass damit nur bestimmte Formen des Geschlechtsverkehrs kriminalisiert wurden. De facto wurde damit einer Gruppe von Personen ihre grundlegenden Bürger*innenrechte und Berechtigungen entzogen. Dieses Gesetz hat Vorurteile und Diskriminierung geschürt und es dient dem Staatsapparat als Werkzeug, mit dem er Mitglieder dieser Gruppe verhaftet (oder die Verhaftung androht), sie nötigt, Geld von ihnen erpresst oder Gewalt gegen sie fördert.

Im Juli 2001 wurden in einer Polizeiaktion in Lucknow, der Hauptstadt des nordindischen Bundesstaats Uttar Pradesh, zehn „Männer, die Sex mit Männern haben“ (Men who have sex with men – MSM), verhaftet, darunter Mitglieder einer bekannten NRO in der Stadt. Die Medien heizten die homophobe Stimmung an und den Männern wurde zunächst die Kautionsstellung verweigert mit der Begründung, sie „verschmutzen die gesamten Gesellschaft, indem sie Jugendliche ermutigen und sie zu dem Verbrechen der Sodomie anstiften.“ Sie wurden nach zwei Monaten aus der Haft entlassen, aber der Fall zog sich noch Jahre hin.

Fazil Khan, der als Mitarbeiter eines HIV-Präventionsprogramms MSM beriet, wurde mitten in der Nacht von der Polizei der Kleinstadt Karnataka verhaftet. Dann nahm die Polizei zwölf weitere Mitglieder dieser sexuellen Minderheit fest, präsentierte sie den Medien und hielt sie dann gemeinsam mit anderen Gefangenen zehn Tage lang in Haft. Im Gefängnis waren sie, jetzt geoutet, Opfer von sexuellem und verbalem Missbrauch. Einer der Verhafteten berichtete:

„Auf der Wache sah ich, wie der Polizeibeamte die Mitgefangenen X und Y schlug. Der Polizist demütigte sie und machte sich in obszöner Sprache über sie lustig und sagte, sie seine keine richtigen Männer ... nach dieser Demütigung wagte sich keiner von uns, den Polizisten gegenüber Forderungen zu stellen. Ich bat sie, meine Familie anrufen zu dürfen, aber sie nahmen mir mein Handy ab.“

Nachdem die Männer auf Kaution freigekommen waren, wurden manche von ihnen an ihrem Arbeitsplatz gemobbt und von ihren Kollegen geschnitten. Sie gelten jetzt als die bösen Jungs, die im Gefängnis waren. Auch ihre Familien haben unter dem Vorfall gelitten.

Eine Atmosphäre des ausgeschlossen Seins

Das sind Beispiele der wenigen Fälle, in denen mit Verweis auf Section 377 tatsächlich Verhaftungen erfolgten. Die Kriminalisierung schafft jedoch eine Atmosphäre, in der jeder die Rechte der Community ungestraft verletzen kann, ganz gleich ob Familien und Verwandte, örtliche Kriminelle und Politiker. In medizinischen Einrichtungen und Schulen wird entweder diskriminiert oder man ist sich des Problems nicht bewusst. Hausbesitzer vermieten nur selten an Personen, die schwul sind (oder so erscheinen) und Mitglieder der LGBTQ-Gemeinde werden systematisch von Leistungen, auf die sie ein Recht haben, ausgeschlossen. Der Nexus Klasse, Kaste, sexuelle Identität und Ort verschlimmert das Problem für viele von ihnen. Section 377 hat dazu gedient, das Leben bestimmter Menschen unsichtbar zu machen, ihnen ihre Stimme zu nehmen.

„Es war so ein Kampf“, sagte Sameer. „Ich spreche häufig nur über völlig belangloses Zeug, weil ich Angst habe, dass man mir persönliche Fragen stellt … und wie soll ich darauf antworten? Wie soll ich sagen, dass ich einen Mann liebe und der Staat mich deshalb für einen Kriminellen hält? Jetzt möchte ich es in die Welt hinausschreien.“

Paragraph 377 des Strafgesetzbuchs verstärkte die Meinung, dass schwul sein „anormal“ oder „unnatürlich“ ist und flößte den Menschen Angst, Schuldgefühle und Scham ein, was tiefe Narben hinterließ. Das Gesetz machte die Schwulen zu Vogelfreien, die jede*r ungestraft verletzen konnte.

Meilensteine im Kampf um Gleichberechtigung

1990 veröffentlichte eine bunte Gruppe von Aktivist*innen, die sich AIDS Bhedbhav Virodhi Andolan (ABVA) nannten, ein schmales rosa Bändchen mit dem Titel „Less than Gay“. Dieses mutige Buch war eines der ersten Dokumente, das die Gewalt gegenüber sexuellen Minderheiten in einen größeren gesellschaftlichen Intoleranzkontext stellte. 1994 legte die ABVA dem Gericht eine Petition vor, in der die Abschaffung des Paragraphen 377 gefordert wurde. Nachdem die Petition jedoch von den Petitent*innen nicht weiterverfolgt wurde, wurde sie auch vom Gericht verworfen. Der Bericht führte sowohl diverse negative Erfahrungen der Betroffenen wie Polizeigewalt oder Einsamkeit aufgrund sozialer Isolation auf, aber auch positive Erfahrungen wie Freundschaften und Unterstützung.

Aber erst der Film „Feuer“ aus dem Jahr 1994 brachte das Thema gleichgeschlechtliche Beziehungen, insbesondere zwischen Frauen, in die Wohnzimmer der Mittelschicht und löste eine öffentliche Debatte aus. Die Rechte im Land tobte. Konservative Gruppierungen forderten ein Verbot des Films, aber mehrere Frauenrechtsgruppen und sexuelle Minderheiten wehrten sich gegen die Moralapostel.

Ab Ende der 1990er Jahre wurden mehrere landesweite Programme zur HIV-Prävention und zu Behandlung und Unterstützung von HIV-Infizierten aufgelegt. Eine der explizit genannten Hochrisikogruppen war die heterogene Gruppe der „Männer, die Sex mit Männern haben“ (MSM). Die NRO, die mit diesen Gruppen arbeiteten, begannen, die Entkriminalisierung von Homosexualität zu fordern.

Eine der NRO, die Naz Foundation, reichte die erste wichtige Petition gegen Paragraph 377 ein. Sie forderte, einvernehmlichen Geschlechtsverkehr aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes auszuschließen. Die Petition wurde 2004 vom zuständigen Gericht in Neu-Delhi abgewiesen, da das Gericht die Petitionsbefugnis der Naz Foundation bezweifelte. Naz gab sich jedoch nicht geschlagen und die Gerichte mussten ihr am Ende die Petitionsbefugnis zugestehen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die LGBTQ-Bewegung in Indien Fahrt aufgenommen und mehrere Organisationen wie etwa Voices Against 377 und andere LGBTQ-Aktivist*innen schlossen sich der Petition an. Zahlreiche eidesstattliche Erklärungen, unter anderem von Psychologen und Familienmitgliedern der Betroffenen, unterstützten die Naz-Petition.

Das Vor und Zurück auf dem Weg zur Entkriminalisierung

Das fast poetische Urteil des Gerichts in Delhi vom 2. Juli 2009 interpretierte Section 377 viel enger. Es zeigte tiefes Verständnis für die schwule Lebenswirklichkeit und verwies auf eine breite Palette an Rechten – von dem Recht auf Privatsphäre, Gleichheit, Nicht-Diskriminierung und Würde bis zu Gesundheit. Die Richter betonten, dass Angehörige sexueller Minderheiten in Indien gleichberechtigte Bürger*innen sind. Dieses Urteil öffnete neue Räume, schuf ein neues Gefühl der Freiheit und Offenheit. Unternehmen und Universitäten wurden offener und sensibler, Transfrauen haben in einigen Bundesstaaten für politische Ämter kandidiert und die Parteien damit auch in Zugzwang gebracht, ihren Standpunkt zu Section 377 offen zu formulieren. Dennoch blieben die Positionen zu Homosexualität und nicht-normativen Gendern und Sexualitäten nebulös.

Im Dezember 2013 nahm die Geschichte erneut eine Wendung. Das Oberste Gericht Indiens setzte in Antwort auf eine Klage gegen das Urteil des Gerichts in Delhi den Paragraphen 377 wieder ein. In seiner Entscheidung vertrat das Gericht die Ansicht, dass nur „ein verschwindend geringer Anteil“ der indischen Bevölkerung von dem Gesetz betroffen sei und es daher keine Veranlassung gebe, Paragraph 377 neu und enger zu interpretieren.

Das Parlament, so das Gericht, sei die einzige zuständige Institution, die eine Novellierung, sofern diese überhaupt erforderlich sei, des Paragraphen 377 veranlassen könne. Menschenrechtsgruppen und Mitglieder der Community protestierten unter dem Slogan #377NoGoingBack, und Vikram Seth, einer der einflussreichten Schriftsteller Indiens, sprach von einem „schlechten Tag für die Liebe und das Gesetz“.

Während sich nach diesem Urteil einige der Freiräume wieder schlossen, lebten in vielen kleinen und großen Städten „normale“ LGBTQ-Personen weiter offen zusammen und forderten auch weiterhin öffentlich Gleichberechtigung. „Nach dem Urteil des Gerichts in Delhi haben wir uns geoutet“, so Shilpa, „und eines ist klar: wir lassen uns nicht wieder in die Unsichtbarkeit drängen.”

Dann wurde der Weg über das Parlament beschritten. Zunächst legte im Jahr 2016 der Abgeordnete Shashi Tharoor dem Unterhaus eine sog. Private Members Bill, einen persönlichen Antrag auf Novellierung des Paragraphen 377 vor. Noch ohne Erfolg: Der Antrag fiel durch.

Rückenwind für die LGBTQ-Community

Doch das Oberste Gericht kam zu dieser Zeit zu zwei Entscheidungen, die den Gegnern des Paragraphen 377 Rückenwind gaben: 2014 sprach das Oberste Gericht in einem Urteil, das später als NALSA-Urteil bekannt werden sollten, Transgender-Personen das Recht zu, ihr Geschlecht zu wählen. Das Gericht wies auch die Regierung an, sicherzustellen, dass die gesetzlichen, politischen und wirtschaftlichen Rechte der Transgender-Community geschützt und gefördert werden.

Das zweite wegweisende Urteil für LGBTQ-Rechte folgte im Jahr 2017, als das Oberste Gericht feststellte, das „Recht auf Privatsphäre“ sei ein Grundrecht. Das war ein wichtiger Schritt im Kampf gegen Paragraph 377, da die Richter explizit auf die Themen sexuelle Orientierung und Privatsphäre eingingen. Sie wiesen darauf hin, dass sexuelle Orientierung ein wesentlicher Bestandteil der Privatsphäre ist und Diskriminierung einer Person aufgrund ihrer sexuellen Orientierung daher eine schwerwiegende Verletzung der Würde und des Werts des Menschen darstellt.

Diese Urteile ermutigten eine Reihe von LGBTQ-Aktivist*innen sowie bekannte Persönlichkeiten wie den Tänzer Navtej Singh Johar, Petitionen zur Abschaffung des Paragraphen 377 einzureichen. Unterstützende Petitionen, auch von Transgender-Aktivist*innen, folgten. Die Petitionen wurden einer Richtergruppe zugewiesen, die sich mit verfassungsrechtlichen Fragen beschäftigt. Am 6. September 2018 entschied das Oberste Gericht, dass einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen keine Straftat darstellen. Damit wurde einvernehmlicher Sex zwischen Erwachsenen, einschließlich Homosexuellen, entkriminalisiert.

Die Begründung des Obersten Gerichts für ihre Urteilsentscheidung

In ihrer ausführlichen Begründung wiederholten die Richter, Paragraph 377 beraube die Menschen ihrer Würde und ihrer verfassungsmäßigen Grundrechte auf Gleichberechtigung und Nicht-Diskriminierung verletzt. Sie betonten, dass alle Bürger*innen, einen Anspruch darauf haben, in der Gesellschaft als Menschen behandelt zu werden, ohne Stigma. Die Richter wiesen in ihrem Urteil darauf hin, dass dieser Paragraph einer Gruppe von Menschen zahlreiche Chancen und Möglichkeiten in ihrem beruflichen und privaten Leben vorenthielt, auch wenn dies nicht das explizite Ziel des Paragraphen gewesen sei.

Der Paragraph, so die Urteilsbegründung, stelle eine „unzumutbare Beschränkung der Meinungsfreiheit und des Rechts auf freie Meinungsäußerung“ dar und verletze daher das Konzept der „substantiellen Gleichberechtigung“. Laut Gautam Bhatia, Jurist und Akademiker, ist „dieses Urteil die fortschrittlichste Interpretation von Artikel 15(1) und der Idee der Nicht-Diskriminierung, die das Oberste Gericht bisher veröffentlicht hat“.

Mit diesem Urteil wurden verschiedene Prinzipien im Bereich Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit eingeführt oder gestärkt. Dazu gehört auch das radikale Konzept der Selbstbestimmung, das auch die Selbstbestimmung der sexuellen Identität und die Idee des sexuellen Subjekts umfasst. Das Urteil betonte auch, dass auch „einzelne und insulare“ Minderheiten einen Anspruch auf Gerechtigkeit haben. Section 377, so die Richter, war insofern problematisch, als der Paragraph nicht zwischen einvernehmlichen und nicht einvernehmlichen Handlungen unterscheidet, anders als Section 375, die z. B. Vergewaltigung definiert.

In Stellungnahmen, die für die Rechtsprechung weitreichende Folge haben, wiesen die Richter darauf hin, dass die Ursache des Problems Normen sind, die „Klischees der Geschlechterrollen und geschlechterbasierter Diskriminierung perpetuieren“. Darüber hinaus enthielt die Urteilsbegründung weitergefasste Ideen, z. B. die Tatsache, dass mit der Weiterentwicklung der Verfassung es die Aufgabe der Verfassung ist, die Rechte der Bürgerinnen und Bürger auszuweiten, nicht sie einzuschränken. Auch verwiesen die Richter auf die zentrale Bedeutung der Verfassungsethik im Gegensatz zur gesellschaftlichen Ethik, im Rahmen der Prägung der Gesetze des Landes: „Grundrechte hängen nicht vom Ausgang von Wahlen ab“.

Das Urteil, das tief in Konzepten der sozialen Gerechtigkeit verankert ist, nennt den „abschreckenden Effekt“, den Paragraph 377 auf viele Menschen hatte und geht so weit zu sagen, dass „die Geschichte den Mitgliedern dieser Community und deren Familien eine Entschuldigung für die so lange verweigerte Wiedergutmachung der Scham und Ausgrenzung, die sie über die Jahrhunderte erleiden mussten, schuldet.”

Die Richter fordern die Zentralregierung auf, Programme zu starten, die das Stigma, unter dem die LGBTQ-Community leidet, mindern und abschaffen. Weiterhin, so das Gericht, sollten Mitarbeiter von Behörden, insbesondere bei der Polizei, Sensibilisierungstrainings erhalten, damit sie die Community vor Gewalt und Mobbing schützen können.

Endlich nicht mehr illegal

Die unmittelbarste Folge dieses Urteils ist die Tatsache, dass es den Betroffenen die gewaltige Bürde der Angst abnimmt. „Wir sind nicht mehr illegal“, war am 6. September 2018 ein häufig gehörter Seufzer der Erleichterung. Die Institutionen der Judikative spielen bei der Formulierung von Normen eine tragende Rolle – ihre Botschaften werden von den Institutionen der Gesellschaft als Ganzes gehört, in diesem Falle, dass die Mitglieder der LGBTQ-Gemeinde keine Kriminellen, keine Outlaws mehr sind. Für die Einzelnen ist dieses neue Gefühl der Freiheit einzigartig: Viele beschrieben den 6. September 2018 als ihren persönlichen 15. August 1947, der Tag, an dem Indien seine Unabhängigkeit erlangte. „Heute kann ich meine Maske ablegen.“

Diese neue Freiheit bedeutet auch, dass Organisationen, Gruppen und Unternehmen, die die Mitglieder sexueller Minderheiten unterstützen, dies viel offener tun können. Mehr Mittel und mehr Unterstützung können investiert und die öffentliche Diskussion kann gefördert werden. Die Mitglieder der Community selbst können dieses Urteil als Hilfsmittel nutzen, um Organisationen zu mehr Offenheit gegenüber LGBTQ-Fragen zu motivieren. Andere Bewegungen und andere Gruppen können das Urteil für ihren Kampf einsetzen, und das Urteil hat auch für andere Länder, insbesondere die Länder des Commonwealth, Konsequenzen.

„Wir müssen jetzt nicht mehr übervorsichtig oder indirekt sein, wenn wir LGBTQ-Themen in unsere Diversitätsprogramme mit aufnehmen“, so der Personalchef eines multinationalen Konzerns. „Ich muss meine Unterstützung für Mitglieder der LGBTQ-Gemeinde nicht mehr verheimlichen“, freute sich ein Mitarbeiter einer sozialen Organisation.

Was bedeutet das für die indische Gesellschaft

Darüber hinaus hat das Urteil auch Auswirkungen auf den Zugang sexueller Minderheiten zu anderen Rechten und Ansprüchen, die ihnen bislang verwehrt wurden. Die Basis, auf der sie zu „Nicht-Bürgern“ erklärt wurden, hat sich in Luft aufgelöst. Jetzt, wo diese wichtige Hürde genommen ist, arbeiten viele Aktivist*innen bereits an einem Entwurf eines umfassenden Antidiskriminierungsgesetzes. Für andere wiederum beginnt nun der Kampf um eine Reihe persönlicher Freiheiten – Ehe, Adoption, Erbrecht etc.

Natürlich gab es auch ablehnende Stimmen zu dem Urteil – was an sich schon einiges über die Gesellschaft aussagt. Einige Zeitungen und Verlage sowie einige religiöse Organisationen und Gremien ignorierten das Urteil oder redeten seine Bedeutung klein. Andere religiöse Gruppen verdammten das Urteil pauschal mit dem Argument, es sei „ein Schritt in die Selbstzerstörung“ oder eine Sünde, die durch Therapie korrigiert werden müsse. „Das ist eine Gefahr für unsere nationale Sicherheit“, donnerte ein Abgeordneter der Bharatiya Janata Party (BJP). „Das ist nicht wirklich Teil unserer Kultur“, beteuerten andere.

Siddamma ist eine talentierte und dynamische Jogappa (eine traditionelle Transgender-Gruppe in Südindien). Ich habe am Tage nach dem Urteil mit ihr gesprochen: „Was sagst du dazu?“ „Ich habe nichts davon gehört“, meinte sie, „betrifft das uns auch?“ Die Tatsache, dass die Medien von „schwulem Sex“ sprachen, hat das Thema beschränkt und verengt, wo es doch um die einvernehmliche sexuelle Beziehung zwischen Erwachsenen geht, ganz gleich, welches Gender. Wird das Thema auf schwulen Sex beschränkt, werden andere Identitäten und Personengruppen unsichtbar.

„Das ist ein Riesenschritt vorwärts und ich bin so erleichtert, aber ich werde mich noch nicht outen, denn leider denken mein Chef, meine Familie, meine Nachbarn und die Gesellschaft als Ganzes nicht so wie der Oberste Gerichtshof.“

Daher ist das Gebot der Stunde die Information: Die Menschen, insbesondere in Kleinstädten und auf dem Land, müssen über das Urteil informiert werden. Aber gleichzeitig müssen wir die Herausforderung der gesellschaftlichen Veränderung annehmen. Wir müssen auf jeden Fall auch verstehen, dass Menschen, die aufgrund ihrer Sexualität, Klasse, Kaste oder ihres Geschlechts marginalisiert sind, nur äußerst oberflächlich geschützt sind, auch wenn sie an vorderster Front gekämpft haben.

Aus dem Englischen übersetzt von Anette Bus.