Grundlagen für einen Wohlstand ohne Wachstum

Gastbeitrag

Unsere Wirtschaft ist auf Produktivität und Wachstum fixiert. Wie können wir sie in ein Wirtschaftsmodell verwandeln, das auf einem breiter gedachten Wohlstandskonzept aufbaut? Das unser Leben wertvoll macht, statt unseren Planeten zu zerstören?

Tim Jackson

In einem denkwürdigen Moment fragte Königin Elisabeth II. während eines Besuchs in der London School of Economics im Jahr 2008 die versammelten Wirtschaftswissenschaftler/innen, warum niemand die Finanzkrise habe kommen sehen. Etwas überrumpelt gingen die Gefragten von dannen und dachten darüber nach. Einige Monate später setzten sie dann ihre Namen unter einen sorgfältig formulierten dreiseitigen Brief an die Königin. „Kurz zusammengefasst, Euer Majestät,“ schlossen sie feierlich, „das Unvermögen, den Zeitpunkt, das Ausmaß und den Ernst der Krise vorherzusehen… ist im Wesentlichen das Versagen der kollektiven Vorstellungskraft vieler kluger Menschen …, die Risiken für das System als Ganzes zu begreifen.“

Es war ein bescheidener, fast demütiger Brief. Aber er war auch irreführend. Natürlich gab (und gibt) es ein kollektives Versagen der wirtschaftlichen Vorstellungskraft. Aber das beantwortet nicht wirklich die Frage. Wie ist dieses Versehen passiert? Warum verstanden die Ökonomen die Systemrisiken nicht? Und warum in aller Welt sollten wir es einer „kollektiven Vorstellungskraft“ überlassen, uns vor Finanzkatastrophen zu schützen? Könnte es vielleicht sein, dass uns gar nichts mehr vorzustellen blieb, nachdem wir alles dem Gott des Wirtschaftswachstums geopfert hatten?

Wirtschaftswachstum führt nicht zwingend zu steigendem Wohlstand

Die Wahrheit ist: Eine Wirtschaft, deren Stabilität auf die unaufhörliche Stimulation der Konsumentennachfrage angewiesen ist, wird unweigerlich auf eine Expansion der Geldmengen zurückgreifen, um das Wachstum aufrecht zu erhalten. Das Aufkeimen von Krediten führt zu instabilen Bilanzen. Zur Verschleierung ungesunder Kredite bedient man sich dann komplexer Finanzinstrumente. All das wird im Namen des Wachstums auf höchster Regierungsebene und von den Regulierungsbehörden gebilligt. Aber sobald die Kredite toxisch werden, bricht das System zusammen. Die Wahrheit ist, Euer Majestät, hätten die Wirtschaftswissenschaftler sagen müssen, dass das Wachstum durch Wachstum selbst zunichte gemacht wurde.

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Einer der verblüffendsten Aspekte des Brexit-Referendums war, dass die Befürworte/innen das Wirtschaftswachstum so vollkommen außer Acht ließen. Die Menschen scherten sich wenig um das wirtschaftliche Risiko – selbst nachdem Barack Obama oder Christine Lagarde oder der Gouverneur der englischen Zentralbank, Mark Carney, uns vor diesem Risiko gewarnt hatten. Dieser verdorbenen Wirtschaft und ihren wankelmütigen Repräsentant/innen war ohnehin nicht zu trauen. Aber es ging um mehr: Wirtschaftswachstum ist nicht gleichbedeutend mit zunehmendem Wohlstand.

Wohlstand geht weit über materielle Belange hinaus. Es geht nicht nur um ein immer höheres Einkommen und immer mehr Besitz. Wohlstand hat auch wesentliche soziale und psychologische Dimensionen. Wohlhabend zu sein bedeutet auch, Liebe geben und empfangen zu können, von den Menschen um uns herum geachtet zu werden, einer sinnvollen Arbeit nachzugehen, sich sicher zu fühlen, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu und Vertrauen in die Gemeinschaft zu haben. Kurz gesagt, alles Dinge, die den ganz normalen Menschen im Lauf der letzten Jahrzehnte abhanden gekommen sind.

Arbeit und Produktivität

Betrachten wir kurz einen dieser Aspekte: Arbeit ist mehr als nur ein Mittel, um den Lebensunterhalt zu sichern. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Verbindungen untereinander – sie gehört zum „Kitt“ der Gesellschaft. Eine gute Arbeit geht einher mit Respekt, Motivation, Erfüllung, Teilhabe am Gemeinschaftsleben und sorgt für ein Gefühl von Lebenssinn und Lebensinhalt. Im Prinzip.

In der Praxis sieht das natürlich anders aus. Viel zu vielen Menschen bleibt nichts anderes übrig, als qualitativ minderwertige Jobs mit unsicheren Löhnen anzunehmen. In zwei Dritteln aller europäischen Länder liegt die Jugendarbeitslosenquote derzeit bei über 20 Prozent, in Griechenland und Spanien sind es über 50 Prozent. Diese enorme Verschwendung an menschlicher Energie und Begabung führt unweigerlich zu gesellschaftlichen Konflikten und sozialen Unruhen. Sie untergräbt die Schaffenskraft der arbeitsfähigen Bevölkerung und gefährdet die gesellschaftliche Stabilität. Langfristig wird das geradezu verheerende Auswirkungen haben.

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Kern des Problems ist, dass die traditionellen Wirtschaftswissenschaften Arbeit als etwas begreifen, bei dem man Zeit, Muße und Komfort opfert; Löhne sind in diesem Sinne nichts weiter als eine „Entschädigung“ für das erbrachte Opfer. Fritz Schuhmacher drückte es so aus: „das Ideal vom Standpunkt des Arbeitgebers aus gesehen ist ein Arbeitsertrag ohne Arbeitnehmer/innen und vom Standpunkt der Arbeitenden aus gesehen ein Einkommen ohne Arbeitstätigkeit“.

Diese perverse Dynamik manifestiert sich im Streben nach einer immer höheren Arbeitsproduktivität, einer unablässigen Produktionssteigerung pro Arbeitsstunde. Produktivitätszuwachs gilt als Motor für den Fortschritt. Für uns hat das aber auch eine Kehrseite. Wenn unsere Volkswirtschaften nicht wachsen, steigt die Arbeitslosigkeit und damit erhöhen sich auch die Sozialausgaben, was zu unüberschaubaren staatlichen Schulden führt. Eine höhere Staatsverschuldung geht mit einer Kürzung der öffentlichen Ausgaben einher, was wiederum einen Rückgang der Nachfrage zur Folge hat. Mit anderen Worten, die Dynamik der steigenden Arbeitsproduktivität ist eine gnadenlose und unversöhnliche Geliebte.

Die „Produktivitätsfalle“

Der Standardweisheit zufolge muss die Wirtschaft in dem Fall so schnell wie möglich zum Wachstum zurückkehren. Es gibt allerdings auch andere, interessantere Wege aus dieser „Produktivitätsfalle“. Einer davon stellt unsere Fixierung auf „Produktivität“ in Frage. Es stimmt natürlich, dass unsere Fähigkeit, mehr Leistung mit weniger Menschen zu erbringen, uns viel Schinderei erspart. Wer wollte heutzutage noch seine Buchführung manuell erledigen, die Bettwäsche eines Hotels per Hand waschen oder Beton mit einem Spaten mischen?

Aber es gibt auch Bereiche, in denen das Streben nach immer höherer Arbeitsproduktivität weit weniger sinnvoll ist. Beispielsweise ist die Zuwendung und Fürsorge, die ein Mensch einem anderen zukommen lässt, ein besonderes „Gut“. Menschen dazu zu bringen, diese Tätigkeit schneller zu verrichten, ist kontraproduktiv. Die Qualität dieser Arbeit liegt ja gerade in der Zeit und der Aufmerksamkeit, die wir einander geben. In einem von sinnlosen Produktivitätszielen geprägten Gesundheitswesen ist die Mitgefühlsmüdigkeit ein immer weiter um sich greifendes Übel.

Man denke auch an das Handwerk. Gerade die in handgearbeiteten Waren steckende Präzision und Detailtreue verschafft diesen Produkten ihren bleibenden Wert. Es ist die Sorgfalt des Tischlers, Schneiders und Designers, die diese Detailtreue ermöglicht. In der schöpferischen Kunst ist es die Zeit, die mit Proben und Aufführungen verbracht wird, die ihr ihre dauerhafte Anziehungskraft verleiht. Was hätte man davon – abgesehen von sinnlosem Lärm –, wenn man die Londoner Philharmoniker bitten würde, Beethovens 9. Symphonie Jahr für Jahr schneller zu spielen?

Offensichtlich ist unsere Fixierung auf Produktivität fester Bestandteil unserer Obsession mit Wachstum. Aber es gibt ein anderes Wirtschaftsmodell, das auf einem breiter gefassten Wohlstandskonzept aufbauen kann, bei dem die wichtigsten wirtschaftlichen Aktivitäten nichts mit dem Streben nach abstraktem Wachstum zu tun haben. Stattdessen sind sie von Fürsorge, Handwerk und Kreativität abhängig: Genau die Dinge, die unser Leben wertvoll machen. Es ist eine Vision, die auch die Königin gutheißen könnte.