Stimme der Vernunft

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Für Böll ist ‚Heimat‘ kein bestimmter Ort, sondern ein Zustand, in dem Humanität Ordnung stiftet

Heinrich Böll zwischen Zeitgeschichte und Aktualität: Welche Denkansätze bieten Bölls Heimatbegriff und der Streit mit dem Boulevard heute? Daniel Schütz sucht Antworten.

Neulich wartete ich des Nachts auf die S-Bahn und schritt, um Kälte und Zeit zu vertreiben, auf dem Bahnsteig auf und ab. Als ich dabei den dortigen Zeitungsstand zum dritten Mal passierte, hielt ich in meiner Beschäftigung, beim Laufen meinen Atem in die kalte Nachtluft zu hauchen, plötzlich inne, da mein Blick von der Überschrift einer gängigen Boulevard-Zeitung angezogen wurde: sehr effekthaschender Titel – gerade in Zeiten, die dem gemeinen Bürger immer wieder als turbulent geschildert werden, dachte ich.

Ist nicht in solchen besonders wichtig, mit einem kühlen Kopf das Geschehene aufzurollen und zu analysieren? Wem kommt die Aufgabe zu, als Stimme der Vernunft der des Boulevards entgegenzutreten? Die Aufgabe des kritischen Mahners, so entscheide ich mich, war in der Vergangenheit immer die des Intellektuellen, welchem durch seine Unabhängigkeit und Bekanntheit der Zugang zur medialen Öffentlichkeit gewährt war und der so als eine Art Leitinstanz humanistischer Ideale auftreten konnte. Aber wer nimmt heute so eine Stellung ein? Die sogenannten Großen-Intellektuellen gelten seit dem Ende der bipolaren Welt und der zunehmenden Ausdifferenzierung der sozialen Wirklichkeit als überholt. Aber stimmt das wirklich?

Denke ich an solch einen Mahner, fällt mir immer zuerst Heinrich Böll ein. Der erinnerte 1972 die Bild-Zeitung an eine sachliche Berichterstattung über die Baader-Meinhof-Gruppe, was seine Person zur Zielscheibe der Berichterstattung machte. Mit den Methoden des Boulevards rechnete er daraufhin in dem Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ ab. Das Aufkommen des Boulevard-Journalismus‘ in der Nachkriegszeit war eine Reaktion auf die Veränderung der Presselandschaft durch das Fernsehen. Durch die direkte Messbarkeit der Einschaltquote rückte es den gesamten journalistischen Bereich näher an wirtschaftliche Interessen heran und gerade im Boulevard werden Verkaufszahlen durch das Aufgreifen von Stimmungen sowie durch spektakuläre Bilder ohne politische Tendenz erzielt. Das war für einen Humanisten wie Böll nicht zu ertragen.

Was hätte Böll vom Internet gehalten?

Bölls Prosa hatte aber meist andere Themen. Zentral ist beispielweise der Gegensatz von Heimat und Exil, was er von Werk zu Werk fortschrieb. Auf dem Schriftstellerkongress 1974 in Jerusalem nannte er das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Vertriebenen und der Gefangenen. In einer solchen Erfahrung sah er die Universalität von Leid und Elend begründet. Das Fehlen regionaler, sozialer und sprachlicher Identität ist für Böll eine Konstante, wobei die Ursachen dieses Heimatverlustes variieren können.

Dabei begreift er ‚Heimat‘ nicht als einen bestimmten Ort, sondern einen Zustand, der sich durch die Existenz einer Humanität stiftenden Ordnung bewährt und sich im praktischen Leben einer Gemeinschaft bildet. Denke ich an Heinrich Böll, fallen mir diese beiden Themengebiete ein: die Auseinandersetzung mit dem Boulevard, welcher apolitisch ist, sich also nur auf Verkaufszahlen konzentriert und dafür Stimmungen aufgreift und befeuert, sowie die literarische Beschäftigung mit Heimat und Vertreibung. Beides könnte gerade aktueller nicht sein.

Sorgen mache ich mir aber eigentlich weniger wegen der Stimmungsmache des Boulevards, da heutzutage die Stimmungen eben gegen Vertriebene auch an ganz anderen Orten nicht nur aufgegriffen, sondern erzeugt und auf die Straße getragen werden. Das Internet hat einen noch weit größeren Wandel der Medienlandschaft bewirkt als das Fernsehen. In ihm schwindet die Asymmetrie von Sender und Empfänger. Medien entscheiden nicht mehr allein darüber, wessen Meinung sichtbar ist und welche nicht, sondern jeder kann sich im Netz Gehör verschaffen und eine breite Öffentlichkeit erreichen.

Ich frage mich, was Heinrich Böll davon gehalten hätte. Ich glaube, er würde diese Entwicklung zwiespältig betrachten. Gut fände er wahrscheinlich, dass es mehr Aufklärung, mehr Information und mehr Vielfalt der Berichterstattung nie gegeben hat. Tatsächlich geht sie so schnell vonstatten, dass es schwer ist, die Übersicht zu behalten. Dadurch gibt es allerdings auch die, die sich der Aufklärung verweigern und eher ihren eigenen Gefühlen vertrauen. Das Internet bietet nämlich auch mehr Raum für die Verbreitung gezielter Falschmeldungen. Diese sind in ihrer Ausrichtung leider nicht nur apolitisch, sondern können auch klare politische Agenden, mit dem Ziel andere Menschen zu diffamieren, verfolgen.

Den Schwachen eine Stimme leihen

‚Postfaktisch‘ und ‚Filterbubble‘ sind gerade vielzitierte Neologismen, die dieser Tendenz Ausdruck verleihen. Hier braucht es für mich auch heute Intellektuelle wie Böll, unbeirrbare Gegenstimmen, gegen den Populismus, die mit kühlem Kopf für humanistische Ideale eintreten und in einer als zu komplex empfundenen Welt eine Art Kompass darstellen können. Dabei ist es egal, dass diese Stimmen wahrscheinlich hauptsächlich in ihren eigenen Blasen gehört werden. Wichtig finde ich, dass es sie gibt.

Der Lautsprecher am Bahnhof verkündet endlich das Einfahren der Bahn. Langsam zieht diese ein. Ich unterbreche mein ständiges Auf und Ab, steige in den letzten Waggon und genieße die Wärme im Inneren. Ich lasse mich in eine leere Sitzreihe fallen und freue mich auf mein Zuhause. Heinrich Böll hat sich in seinen Romanen und seinem sozialen Engagement mit vielen Fragen und Problemen beschäftigt, die in veränderter Form auch heute noch existieren. Er hat den Schwachen seine Stimme geliehen und sich unermüdlich für eine gerechtere, offenere Gesellschaft engagiert. Seitdem hat die Gesellschaft sich verändert, doch sein Denken und Handeln kann auch heute noch Vorbild für das Eintreten für eine freiere gerechtere Welt sein. Das macht Heinrich Böll, den Intellektuellen, für mich bis heute aktuell.                
   
Daniel Schütz hat von Oktober bis Dezember 2016 ein Praktikum in der Pressestelle der Heinrich-Böll-Stiftung absolviert. Derzeit ist er Bachelorstudent an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.