Blick in die Vergangenheit: Ausbeutung und Schutzgebiete

Das, was heute an „Wildnis“ im Ozean lebt und was wir in Meeresschutzgebieten erhalten wollen, ist nur ein Bruchteil dessen, was früher einmal dort lebte. Deshalb ist es gut zu wissen, was war. Um zu verstehen, was wieder möglich sein könnte.

Infografik aus dem Meeresatlas 2017: Lebendige Erinnerung – was uns die alten Fischer so erzählen
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(Ausschnitt aus kompletter Grafik unten)

Selbst wenn man alle Arten und Kategorien von Schutzzonen zusammenzählt, sind nur 3,5 Prozent des Ozeans geschützt. Und nur 1,6 Prozent sind streng oder voll geschützt. Wie im Rossmeer, das 2017 als weltweit größtes Meeresschutzgebiet zur No-Take-Zone erklärt wurde. Auf mehr als 70 Prozent der Fläche werden Fischerinnen und Fischer in den nächsten 35 Jahren gar nichts mehr aus dem Wasser holen dürfen, der Rest bleibt dem Fang für wissenschaftliche Zwecke vorbehalten.

Umweltschutzorganisationen und die Wissenschaft fordern für die Meeresschutzgebiete zwischen 20 und 50 Prozent der Ozeane. Nicht etwa damit alles so bleibt wie es ist – denn selbst in den Schutzgebieten sehen wir heute nur noch eine Schwundstufe des einstigen Reichtums. Sondern damit sich das wilde Leben wieder erholt.

Fisch konnte im Wattenmeer vor 1.000 Jahren noch mit bloßen Händen und Keschern gefangen werden. Auch lebten noch vor 500 Jahren Grau- und Glattwale in der Nordsee, deren Fleisch auf den Märkten begehrt war. Meeresschildkröten tummelten sich millionenfach in der Karibik – es ist überliefert, dass Kolumbus’ Mannschaft klagte, ihretwegen nicht schlafen zu können. Und zwar, weil die riesengroßen Tiere ständig lautstark gegen den Schiffsrumpf stießen.

Noch im 17. Jahrhundert gab es 90 Millionen Suppenschildkröten. Sie wurden so genannt, weil sie als Frischfleisch-Proviant für Seefahrer und später als Delikatesse für die wohlhabende Bevölkerung herhalten mussten. Heute leben noch etwa 300.000 Exemplare in der Karibik. Noch am Anfang des 20. Jahrhunderts fing man Störe von über drei Metern Länge in der Elbe. Dokumentiert ist auch der Fang eines Teufelsrochens von 2.200 Kilogramm an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Heute gibt es kaum noch große Fische. Schuld ist die Fischerei. Die Fische werden weggefangen, bevor sie die Chance haben, erwachsen zu werden.

Vor 2.000 Jahren waren es die Römer, die im Mittelmeer im großen Stil 150 verschiedene Arten kommerziell befischt haben. Und die koloniale Besiedlung der neuen Welt ab dem 16. Jahrhundert hat nicht nur für die Suppenschildkröte ein böses Ende genommen. Ziemlich gründlich lässt sich die Ausbeutung der Natur an der Geschichte des Walfangs belegen. Die Walfänger nannten die Glattwale „the right whale“, da sie die „richtigen“ Wale für die Jagd waren: Leicht zu erbeuten, trieben sie nach ihrer Tötung an der Oberfläche und gaben viel des begehrten Trans, der dann zu Öl verkocht wurde. Begonnen hatte die Jagd auf sie etwa um 1.000 n. Chr. Mit fortschreitender Seetüchtigkeit der Boote zog man weiter aufs Meer hinaus – dem Wal hinterher. Im 18. und 19. Jahrhundert – der Hochzeit der Walfangflotten – fing man den Glattwal vom südlichen Ozean bis zum Nordpazifik. So wurden die Glattwale bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts nahezu ausgerottet.

Die Menschheit hat sich insbesondere im Verlauf der jüngeren Geschichte rasant fortentwickelt. Unser Respekt vor der Kreatur hat da aber nicht mitgehalten. Ganze Arten wurden neuen Moden und Trends geopfert. So erledigte man ganze Kolonien von Seevögeln, nur um deren Federn für mondäne Damenhüte zu gewinnen. Manch kulinarische Anekdote mutet heutzutage skurril an. Kann man sich vorstellen, dass Hummer um 1890 in Boston einmal so billig war, dass er in Gefängnissen zum Mittag aufgetischt wurde? Wir betrachten die Ozeane als Selbstbedienungsladen.

Wenn wir also immer noch glauben, dass der Ozean voller Leben ist, dann täuschen wir uns. Das, was wir heute in Schutzgebieten erhalten und wiederbeleben möchten, sind nur die Reste eines viel größeren ehemaligen Reichtums. In mancher Hinsicht sind wir schon klüger geworden: Große Meeressäuger werden heute fast gar nicht mehr bejagt. Die Seegurke aber – nicht ganz so hübsch wie beispielsweise ein Robbenbaby – wird in Asien als Delikatesse geschätzt. Bis vor 50 Jahren wurde sie nur dort gefischt. Seither dehnt sich die Seegurken-Fischerei über den ganzen Ozean hinweg aus. Und hier wiederholt sich am Ende die Geschichte: Gut möglich, dass unsere Enkelinnen und Enkel einmal mit der gleichen Trauer auf die verschwundene Seegurke zurückblicken werden, wie wir heute auf den Verlust der Wale.

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