Ein Jahr „guter Wandel“. Wie viel mehr Recht und Gerechtigkeit?

Demonstration in Warschau gegen die Politik der polnischen Regierung
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Demonstration gegen die Politik der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) am 27. Februar 2016 in Warschau

Was passiert mit Polen ein Jahr nach den Wahlen? Wer den Erfolg der PiS verstehen will, muss zur Kenntnis nehmen, dass die Partei einen gesellschaftlichen Nerv trifft. Gleichzeitig treten neue gesellschaftliche Konflikte auf.

So viel Polen war lange nicht. Im fußballverliebten Deutschland war nach der polnisch-ukrainischen „Euro 2012“ das Bild eines aufstrebenden, sich zügig modernisierenden Nachbarlands in Erinnerung geblieben. Eines verlässlichen Partners, der sich zusammen mit Deutschland, Frankreich und den USA um eine Lösung des russisch-ukrainischen Konflikts bemühte. Und am Ende sogar mit Donald Tusk den weithin geschätzten Präsidenten des Europäischen Rates stellte. Ein reizvolles, nahes und günstiges Reiseziel.

Und jetzt das: EU-Rechtsstaatsmechanismus, Medien unter Druck, hitzige Auseinandersetzungen um Abtreibungsgesetze, antideutsche Parolen - ausgerechnet im Jubiläumsjahr des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags. Beobachtende fragen sich: Was ist bloß (wieder) los in Polen?

Der propagierte konservative Wohlfahrtsstaat kommt gut an

Wer den Erfolg der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) verstehen will, muss zur Kenntnis nehmen, dass sie einen gesellschaftlichen Nerv trifft. Polen ist in den Augen vieler Bürger durch ungleiche ökonomische Chancen und politische Gestaltungsmöglichkeiten geprägt. Der Wahlsieg vor einem Jahr beruhte auf dem Versprechen eines konservativen Wohlfahrtsstaats. Dieser sollte der in der Transformation benachteiligten Arbeiterschaft „ihre Würde zurückgeben“, mehr Bürgerbeteiligung ermöglichen sowie die Verantwortlichen für Korruption bestrafen.

Die Wirtschafts- und Sozialpolitik ist das Herz des konservativen Modernitätsversprechens der PiS. Sie punktet mit dem neuen Kindergeld „500+“ und der Ankündigung eines umfassenden Wohnungsbauprogramms. Eine Steuerreform soll Geld in die Staatskassen spülen, für eine gerechtere Lastenverteilung sorgen und die zunächst kreditfinanzierte Sozialpolitik gegenfinanzieren. Der „Morawiecki-Plan“ für wirtschaftliche Entwicklung setzt auf Hochtechnologiestandorte (z. B. im Bereich Elektromobilität), die Stärkung nationaler Champions und die Renationalisierung von Banken.

Neue gesellschaftliche Konflitke tun sich auf

Am Beispiel der Energiepolitik zeigt sich hingegen, wie schwer sich die Regierung mit dem Austarieren konträrer Interessen tut. Offiziell kämpft sie weiterhin für die Kohle – auch weil viele Bergarbeiter zu ihrer Klientel gehören. Dabei wissen die Verantwortlichen um die Notwendigkeit einer strukturellen, auf Dezentralisierung setzenden Modernisierung und versuchen sich daher etwa beim Ausbau erneuerbarer Energien pragmatisch zu geben. In konkreten Politikfeldern erinnert dieser Kurs an die alte Sozialdemokratie im Westen.

Im ersten Jahr seit der Wahl hat Jaroslaw Kaczyński durch seine Politik des divide et impera auch ungewollte Effekte erzielt: eine breite gesellschaftliche Mobilisierung gegen die gezielte Schwächung des Verfassungsgerichtes sowie die Verschärfung des strikten Abtreibungsrechts. In beiden Fällen hat die PiS die Mehrheitsmeinung gegen sich, dennoch bleibt sie bisher Herrin des Verfahrens. Im Bildungsbereich steht die nächste Protestwelle ins Haus. Mit der Fokussierung auf das Bildungsziel Patriotismus sowie einer schnell vorangetriebenen und wenig konsultierten Schulstrukturreform hat die Partei so ziemlich alle gegen sich aufgebracht: Lehrer, Eltern, Erziehungswissenschaftler und Gewerkschafter, allen voran aber Vertreter kommunaler Selbstverwaltungen, die die Zeche für die Pläne der Zentralregierung zahlen sollen.

Hieran zeigt sich die Konfliktlinie zwischen etatistischer Steuerung und Dezentralisierung, die in der polnischen politischen Landschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt. Auch in bestimmten konservativen Milieus ist das Streben nach mehr konkreter bürgerschaftlicher Mitbestimmung stark ausgeprägt. Beispielhaft steht dafür die neugegründete und bereits im Parlament vertretene Partei Kukiz’15, die eher dem rechten Spektrum zuzuordnen ist. Obwohl sie die PiS bei vielen Maßnahmen, wie z. B. der Medien- und Justizreform, aktiv unterstützt, kritisiert auch sie die doch nur fassadenhaften gesellschaftlichen Konsultationen von Regierungsprojekten.

Die Opposition ist zu schwach, um dem volkstümelndem Traditionalismus etwas entgegenzusetzen

Ohne Zweifel hat Jarosław Kaczyński klare Vorstellungen einer Staatsräson für seine „geistig-moralische Wende“. Die Schlagwörter „Rechtspopulismus“ und „Orbanisierung“ sind hier irreführend. Der historische und gegenwärtige politische Einfluss der katholischen Kirche, als deren Schutzpatron sich der Parteivorsitzende ohne Regierungsamt versteht, ist im Gegensatz zu Ungarn direkter. Wo bei Orban ein interessegeleitetes Streben nach postmoderner Oligarchisierung deutlich wird, ist bei Kaczyński eher ein Hang zu klerikalem und volkstümelndem Traditionalismus auszumachen. Ihre wesentliche Gemeinsamkeit liegt heute wohl in der Instrumentalisierung von Ausländerfeindlichkeit und einer unterschwelligen Angst vor kultureller Überfremdung.

Die Stärke der PiS ist die Schwäche der Opposition. Die vorherige Regierungspartei PO ist nach der Niederlage durch interne Führungskämpfe paralysiert und steht wegen vermeintlicher Skandale um Amtsmissbrauch am Pranger. Der neuen Hoffnungsträgerin der liberalen Mitte im Sejm, die vom Unternehmer Ryszard Petru geführte Partei „Nowoczesna“, fehlt jedoch das von der Mehrheit gewünschte soziale Gesicht, sie steht symbolisch für die Transformationsgewinner. Das linke Spektrum bleibt trotz der Neugründung RAZEM weiterhin nahezu bedeutungslos. Neben personellen Schwächen liegt das vor allem daran, dass die PiS sozialpolitisch nur noch schwer links überholt werden kann.

Polen ist an einer gemeinschaftsorientierten EU-Politik auf Augenhöhe interessiert

Trotz euroskeptischer Stimmen aus den Reihen der PiS wäre es ein Fehler, die Partei als Ganzes in eine europafeindliche Ecke zu stellen. Vielmehr wäre es gut zur Kenntnis zu nehmen, dass Polen im Allgemeinen und die PiS im Speziellen eigene Vorstellungen von europäischer Kooperation und Integration vertritt. Dabei handelt es sich auch ein Jahr nach dem Wahlerfolg noch immer um mediale Kampagnen der „Rückgewinnung polnischer Souveränität“. Diese sollten nicht davon ablenken, dass jede Gesellschaft ihre eigene Interpretation „europäischer Solidarität“ entwickelt. So ist auch Polen an einer verlässlichen, gemeinschaftsorientierten EU-Politik interessiert. Das von Deutschland vorangetriebene Nord-Stream Pipelineprojekt hat nicht nur aus polnischer Sicht die Einigkeit europäischer Energiepolitik stark erschüttert.

Gerade wegen der unterschiedlichen Wahrnehmung europäischer Gegenwart ist jetzt eine Rückbesinnung auf die besonnene Diskussion und das Erringen sinnvoller Kompromisse notwendig, die die vitalen nationalen Interessen aller Mitglieder berücksichtigen. Eine starke, dynamische und bürgernahe EU muss kritische Stimmen ernster nehmen und nicht pauschal als Populismus abtun. Wenn Deutschland und Polen auf Augenhöhe ihre unterschiedlichen Interessen in Einklang bringen, hat die EU gute Chancen, ihre gegenwärtigen Herausforderungen zu meistern.

Dieser Text wurde zuerst in einer gekürzten Fassung in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht.