Eine kurze Geschichte der grünen Gerechtigkeitsidee

Der Politikwissenschaftler und Philosoph Ole Meinefeld beleuchtet in seinem Aufsatz historische Einschnitte und Meilensteine in der Entwicklung der grünen Gerechtigkeitsidee - ein kurzer Überblick.

LED-Installation mit der Aufschrift "The same for everyone"

Der Politikwissenschaftler und Philosoph Ole Meinefeld beleuchtet in seinem Aufsatz historische Einschnitte und Meilensteine in der Entwicklung der grünen Gerechtigkeitsidee - ein kurzer Überblick.

Die grüne Erzählung von Gerechtigkeit beginnt mit einer Idee des Sozialen. Wer nach den Anfängen der Gerechtigkeitsidee bei Bündnis 90/Die Grünen sucht, muss zunächst beim Sozialen ansetzen, nicht zuletzt, weil ein Begriff von Gerechtigkeit als solcher in den frühen Texten nicht im Zentrum steht. Vielmehr beginnt die grüne Erzählung mit der Selbstbeschreibung „sozial“, die neben „ökologisch“, „basisdemokratisch“ und „gewaltfrei“ den grünen Wertekompass ausmachte. Mit Erzählung ist hier zunächst einmal schlicht eine Abfolge von Ereignissen und Selbstbeschreibungen gemeint, in denen sich die Partei selbst in ihrer gesellschaftlichen Rolle definiert hat. Die Idee der Gerechtigkeit rückt dabei, wie gesagt, erst relativ spät ins Zentrum der Aufmerksamkeit, nämlich 2002 bei dem Versuch, mit einem neuen Grundsatzprogramm verschiedene Werte narrativ miteinander zu verweben. Die Erzählung des Weges bis dorthin und darüber hinaus in die Gegenwart bleibt natürlich wie jede Erzählung nicht frei von Widersprüchen, Spannungen und Brüchen. Genauso umfasst sie jedoch Kontinuitäten und identitäre Selbstbehauptungen einer noch immer relativ jungen Partei.

Der Grundwert „sozial“ hat keine scharfen Konturen, durch die der später sehr hohe Stellenwert von „gerecht“ oder „Gerechtigkeit“ auf den ersten Blick schon zu erkennen wäre. Ein erstes Ergebnis einer historischen Betrachtung von grüner Sozialpolitik lautet deshalb vorweggenommen, dass sich die Verwendung von „sozial“ oder „gerecht“ erheblich verändert hat. Dabei kann aus der ersten Hälfte der grünen Geschichte bis etwa 1998 genauso etwas gelernt werden, wie aus der zweiten Hälfte seit 1998. Aus gutem Grund wird aber der zweite Teil der Parteigeschichte bei diesem Thema nicht nur wegen seiner Aktualität ausführlicher zu behandeln sein, sondern schon alleine deshalb, weil diese Erzählung natürlich als Retrospektive startet.

Eine in die Zukunft offene Erzählung wird zudem andeuten, wie eine Geschichte der grünen Gerechtigkeit weitergeschrieben werden könnte, d.h. vor allem wie ein grünes „Wir“ an dieser Geschichte weiterschreiben könnte. Die Grünen könnten, so ein zweites vorweggenommenes Ergebnis der Analyse, aus inhaltlichen und aus strategischen Gründen mehr Alternativität in der Sozialpolitik wagen und sich klarer von den (anderen) linken Parteien unterscheiden. Im Folgenden wird in mehreren Schritten deutlich werden, wie die Grünen versuchen könnten, ihre Geschichte in der Sozialpolitik neu zu erzählen. Eine solche politische Erzählung muss jedoch eine ihrer größten Herausforderungen im Blick behalten: Die „sozial Schlechtestgestellten“, denen grüne Solidarität am meisten gelten sollte, sind wenig geneigt diese Partei zu wählen und waren bisher auch weniger die Adressaten grüner Erzählungen. Das sind vielmehr diejenigen, die sich eine derartige Solidarität durch Steuern, Abgaben und zum Teil auch Engagement auch leisten können. Daraus ergeben sich immer dann Spannungen, wenn Wählerinnen und Wähler in der einen oder anderen Richtung Politik für zu wenig ausbalanciert halten. Die Balance zu halten zwischen denen, für die eigentlich Politik gemacht wird und denen, die diese Politik gewählt haben, ist eine beständige Herausforderung. Gerade weil die Grünen den Anspruch haben, gesellschaftlich marginalisierte Gruppen und Formen von Ungerechtigkeit zu thematisieren, lässt sich das nicht einfach beantworten. Die Grünen können dafür vor allem auf Kompetenzen aufbauen, die ihnen von den Wählerinnen und Wählern in Bereichen zugetraut werden, die von „roten“ und „tiefroten“ Erzählungen der „sozialen Gerechtigkeit“ nicht abgedeckt werden. Das umfasst etwa zeitpolitische Anliegen genauso wie die öko-soziale Frage, das grüne Engagement für den Anteil an Rechten für marginalisierte Gruppen, wie auch der konsequente Anspruch, Partizipation zu ermöglichen, und nicht zuletzt der zentrale Anspruch, die Dinge nachhaltig zu gestalten.

Den gesamten Aufsatz gibt es hier zum Download.
 

Inhaltsverzeichnis

I. Die Heterogenität der frühen Jahre

II. Die Reformwerkstatt der 90er

III. Das Grundsatzprogramm von 2002: Der erweiterte Gerechtigkeitsbegriff

IV. Die Agenda 2010 und die Frage nach Teilhabegerechtigkeit

V. Weltwirtschaftskrise und Oppositionsjahre

VI. Zur Verortung grüner Sozialpolitik

VII. Milieu- und schichtenübergreifende Politik

VIII. Auf den Begriff gebracht: Inklusion

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers zur "grünen Erzählung 2018"