Venezuela: "Wir sind ein großes Gespräch"

Markt in Venezuela
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Markt in Venezuela

Cecosesola gibt es seit fast einem halben Jahrhundert. Die Central Cooperativa de Servicios Sociales del Estado Lara ist ein Netzwerk von rund 60 Kooperativen und Basisorganisationen des venezolanischen Bundesstaates Lara mit rund 20.000 Mitgliedern. Das Interview basiert auf Gesprächen, die 2012 in Mexiko City und 2013 in Berlin mit Mitgliedern von Cecosesola geführt wurden.

Silke Helfrich: Lebensmittel anbauen, Kranke pflegen, Handel treiben und Tote bestatten. Wie passt das alles zusammen?

Gustavo Salas: Das ist nur eine Umschreibung dessen, worum es wirklich geht. Wir befinden uns in einem gemeinsamen Prozess, in dem wir uns ständig weiterbilden und unser Leben gestalten. Dabei stecken wir im Fahrwasser des Üblichen: patriarchale Strukturen, Eigentum und so fort.

Jorge Rath: Aber wir »drehen« gewissermaßen den Gehalt. Philosophisch könnte man sagen: Wir heben Eigentum auf, ohne es abzuschaffen.

Gustavo Salas: Stimmt. Niemand kann sagen: Cecosesola ist mein.

Jorge Rath: Und genauso geschieht es – allmählich – mit der Hierarchie: Wir haben weder einen Manager, noch einen Vorsitzenden noch einen stellvertretenden Vorsitzenden. Das einzige Formale sind unsere Versammlungen. Und davon gibt es jede Menge. Wir sind im Grunde ein großes Gespräch.

Lizeth Vargas: Man muss etwas über unsere Geschichte wissen, um das zu verstehen. In den 1970er-Jahren hatten sich viele unserer Mitglieder an Demonstrationen gegen die Fahrpreisverdoppelung der lokalen Busunternehmen beteiligt. Schließlich gründeten sie 1974 einen eigenen Fahrbetrieb als Genossenschaft und selbstverwalteten Betrieb. Er ist später vor allem wegen Verstrickungen in politische Machtkämpfe gescheitert. Aus dieser bitteren Erfahrung hat Cecosesola gelernt. Im Jahr 1982 kündigte der Geschäftsführer des Beerdigungsinstituts. Cecosesola stellte keinen neuen ein. Der Lagerverwalter ging. Die Stelle blieb unbesetzt. Genauso war es mit der Hausmeisterin. Am Ende lernten die Sekretärinnen, LKW zu fahren, und die Fahrer beschäftigten sich mit Verwaltungsaufgaben.

Silke Helfrich: Wie kommen heute die Mitglieder zu ihrer jeweiligen Aufgabe?

Jorge Rath: Sie rotieren. Von einer Aufgabe zur anderen. Alle sollen so viel wie möglich lernen können. Das hilft außerdem, den Blick auf’s Ganze zu behalten statt »das eigene kleine Königreich« abzustecken.

Noel Vale Valera: Es gibt aber keinen Rotationsplan. Das ist wie bei den Tagesordnungen unserer Versammlungen. Die gibt es auch nicht. Wir gehen immer vom Prinzip der Freiwilligkeit aus, von dem, was die oder der Einzelne gerade tun oder lernen will.

Jorge Rath: Aber ich darf Dich schon mal daran erinnern, dass Du schon lange nicht mehr freiwillig rotiert bist. (Lacht)

Lizeth Vargas: Machen wir es konkret. Ich zum Beispiel arbeite in unserem Gesundheitszentrum, mache dort Massagen und Hydrotherapie. Ich kümmere mich um die Buchhaltung oder stelle Arbeitspläne zusammen. Manchmal aktualisiere ich auch die Internetseite oder stehe am Wochenende auf einem der Märkte. Das ist eine fließende Rotation, keine vorher festgelegte. An einem Tag kann ich im Büro arbeiten, am nächsten die Flure wischen und am dritten kochen. Wer was wie lange macht, hängt von den persönlichen Neigungen, dem Können und dem jeweiligen Bedarf ab.

Gustavo Salas: Wenn wir rotieren, treten wir immer wieder neuen Menschen gegenüber, und das entspricht unserer Kultur des persönlichen Kontakts. Dort, wo wir gerade tätig sind, werden diese Kontakte gelebt, nicht nur in den Versammlungen. Das ist alles andere als abstrakt. Es ist sehr konkret. Wir berühren den Anderen – im Wortsinne.

Silke Helfrich: Klingt aufregend, aber auch aufwändig.

Jorge Rath: Leicht ist es nicht, aber wir wollen es so, weil Cecosesola nicht unsere Arbeit ist. Es ist unser Lebensprojekt.

Lizeth Vargas: Ich habe jedenfalls nie das Gefühl, dass ich arbeite.

Jorge Rath: Na ja, wir wollen weniger ein »unser« als vielmehr ein »uns« produzieren. Wir wollen uns verstehen und verändern. Daraus entsteht eine Art kollektive Energie. Natürlich gibt es Situationen, in denen sie nicht spürbar ist, aber wir stellen diese Energie immer wieder gemeinsam her.

Noel Vale Valera: Es ist auch eine Frage der Perspektive. Wir versuchen Cecosesola als persönlichen Entwicklungsprozess zu begreifen, nicht als Arbeit. Arbeit! Schon der Gedanke ermüdet! Das gelingt nicht immer und nicht bei jeder und jedem. Aber wir gehen diesen Weg, etwa bei unseren Versammlungen ohne feste Tagesordnung. Wir reden über das, was ansteht. Manchmal kommt der gleiche Punkt zwei bis dreimal auf den Tisch, bis wir einen Konsens gefunden haben.

Silke Helfrich: Gutes Stichwort. Wie trefft Ihr Entscheidungen?

Jorge Rath: Wir haben das Ziel, alles im Konsens zu entscheiden. Wir stimmen also nie ab, denn wir wollen uns einfach nicht in Mehr- und Minderheiten spalten. Stattdessen nehmen wir uns Zeit zu reden, gemeinsam nachzudenken und »gemeinsame Kriterien« zu entwickeln.

Silke Helfrich: Könnt Ihr das genauer erklären?

Jorge Rath: Das sind Kriterien, an denen wir uns in allen möglichen Alltagssituationen orientieren können, wenn einzelne Gruppen oder Personen Entscheidungen treffen. Dazu gehört, dass diejenigen, die die Entscheidung letztlich treffen, sie auch kommunizieren und verantworten.

Noel Vale Valera: Wenn wir uns treffen, haben wir nie die Erwartung, dass gemeinsam Entscheidungen gefällt werden. Wir reden einfach viel darüber, wie und entlang welcher Kriterien eine Entscheidung zustande kommen kann. Die Entscheidung selbst kann letztlich von ein, zwei oder drei Personen gefällt werden.

Silke Helfrich: Und das funktioniert?

Lizeth Vargas: Ja, seit Jahrzehnten. Leicht ist es natürlich nicht. Wir sind schließlich 1.300 Personen. Aber wir müssen auch nicht alles gemeinsam besprechen. Wir sind uns oft sicher, dass uns die anderen Mitglieder gut vertreten und dass sie uns mitteilen, was entschieden wurde.

Silke Helfrich: Wie regelt Ihr die Bezahlung?

Noel Vale Valera: Wir zahlen uns keinen Lohn, sondern einen Vorschuss auf das, was wir voraussichtlich gemeinsam erwirtschaften werden.

Jorge Rath: … ohne für den Gewinn oder die Anhäufung von Gütern zu arbeiten. Das treibt uns nicht an. Deswegen sind unsere Überschüsse auch vergleichsweise bescheiden. Wenn etwas übrig bleibt, geht ein Großteil für gemeinsame Anliegen drauf. Woanders würde man das Reinvestition nennen. Zudem müssen wir gesetzlich vorgeschriebene Reserven vorhalten. Wenn dann immer noch etwas übrig ist – was nicht die Regel ist – passen wir den Vorschuss an. In den letzten Jahren war dabei die Inflationsrate unser Kriterium, damit der Vorschuss nicht dahin schmilzt.

Silke Helfrich: Und wer bekommt wie viel?

Noel Vale Valera: Alle kriegen im Prinzip das Gleiche. Der Koch verdient so viel wie die Buchhalterin, doch wir berücksichtigen auch unterschiedliche Bedarfe, etwa weil gerade ein Kind geboren ist. Ein Ausnahme sind nur die Ärztinnen und Ärzte. Ihnen wird etwa das Doppelte gezahlt, und die Bezahlung ist noch von der Anzahl der Patienten abhängig, die sie betreuen. Nur wenige sind bereit, Vollzeit in Cecosesola auf der Basis unseres Vorschusses tätig zu sein.

Silke Helfrich: Also, je mehr Patienten, umso höher das Honorar?

Noel Vale Valera: Genau. Dies würden wir gern ändern, haben aber noch keine einvernehmliche Lösung gefunden. Beim Gemüse ist es einfacher. Da entkoppeln wir den Aufwand, den wir in eine Sache stecken, vom Preis. Denn wir haben einen Einheitskilopreis.

Silke Helfrich: Heißt das, Paprika kostet so viel wie Kartoffeln?

Noel Vale Valera: So ist es. Wir produzieren in den Kooperativen sehr viel Gemüse. Also sondieren wir genau, was zum Produzieren nötig ist. Wir summieren alle produzierten Kilos – die gesamte Produktpalette – einerseits und alle dadurch entstehenden Kosten andererseits. Dann dividieren wir das Eine durch das Andere. So erhalten wir unseren Einheitskilopreis. Unser Maßstab sind einfach die Produktionskosten inklusive dem, was die Produzenten zum Leben brauchen.

Gustavo Salas: So versorgen wir inzwischen bis zu 300.000 Personen. Es ist ziemlich heikel, solch ein Wachstum zu managen und dabei so kreativ zu bleiben wie am Anfang, als wir mit 5 bis 8 Leuten Gemüse zum Markt brachten.

Silke Helfrich: Und es geht auf?

Noel Vale Valera: Tut es. Wir stehen im Vergleich sehr gut da. Es gibt natürlich Schwund. Wie überall. Lebensmittel verderben, es wird etwas gestohlen und so weiter. Damit müssen wir »jonglieren«. Deswegen achten wir auch sehr darauf, so wenig Schwund wie möglich zu haben, den Salat nicht verderben zu lassen, den Maniok nicht zu beschädigen.

Jorge Rath: Durch dieses Verfahren sparen die Leute übrigens eine ganze Menge Geld. Viele Gemüsesorten kosten »draußen« unverhältnismäßig mehr. Der Einheitskilopreis entbürokratisiert, Zwischenhandel haben wir auch nicht, und von saisonalen Schwankungen lassen wir uns ebenso wenig beeindrucken.

Noel Vale Valera: Entscheidend ist doch, dass wir uns nicht nach dem Markt(-preis) richten. Wenn irgendwo die Preise für Tomaten und Kartoffeln steigen, heißt das nicht, dass wir sie auch erhöhen. Wir richten uns nur nach dem, was wir brauchen.

Silke Helfrich: Was ist für Euren Prozess eigentlich das Wichtigste?

Gustavo Salas: Respekt! Respektvolle Beziehungen im umfassenden Sinne. Ich meine nicht einfach Toleranz, sondern Respekt vor der anderen Person, mit der wir zusammenleben. Wir können unser Gegenüber nicht als ein Etwas behandeln, vom dem wir profitieren wollen. Wir müssen die ganze Person wahrnehmen. Dafür brauchen wir Transparenz, Ehrlichkeit und Verantwortung. Erst daraus entsteht Vertrauen, und das ist fundamental. Denn erst aus Vertrauen entsteht das, was wir »kollektive Energie« nennen.

Lizeth Vargas: Und die kann Berge versetzen.

Gustavo Salas: Vertrauen lässt sich übrigens unendlich ausbauen. Deswegen sagen wir auch, dass unser Prozess grenzenlos ist. Wir zeigen, dass es möglich ist, sich anders zueinander in Beziehung zu setzen. Das kann, wer mag, in sein jeweiliges Umfeld tragen. Nur einen Instrumentenkoffer haben wir dafür nicht. Denn wir bauen ja keine Sachen zusammen, sondern wir gestalten Beziehungen.

Silke Helfrich: Wie ist Euer Verhältnis zum Staat?

Gustavo Salas: Unabhängigkeit ist uns ganz wichtig. Deswegen bemühen wir uns beim Staat auch nicht um Finanzierung. Wir versuchen mit eigenen Mitteln zu arbeiten und fangen deshalb stets klein an. Aber wir arbeiten respektvoll zusammen, wo es erforderlich ist. Mit den eigenen Mitteln zu arbeiten schafft übrigens etwas Mystisches. Eine große Begeisterung für das, was wir tun.

Silke Helfrich: Was sind Commons für Euch?

Jorge Rath: Es gibt viele Theorien über Commons. Das ist nicht so unser Thema. Wir zeigen, wie eine Commons-Praxis aussieht oder aussehen kann. Wir brauchen mehr Praxis! Nicht im Sinne von »Modellen«. Cecosesola ist kein Modell und möchte auch keines sein – aber Commons-Theorie kann sich nur aus einer gemeinschaftlichen Praxis, aus konkreten Prozessen speisen. Cecosesola ist unser Commons.

Gustavo Salas: Wir gehen nicht von einem Traum aus, wie die Welt oder die Gesellschaft sein soll. Dieses »So soll die Welt sein« endet oft damit, dass das, was »sein soll«, den Menschen aufgezwungen wird. Wir gehen von uns und unserer Kultur aus und sind uns sehr bewusst, dass kulturelle Transformation Zeit braucht. Dieser ganze Individualismus! Das ist etwas anderes als Individualität, die wir sehr fördern. Wie soll man Vertrauen aufbauen, wenn alle ihren »Möglichkeiten hinterherjagen«. Deshalb analysieren wir oft, wie unsere Kultur unsere Beziehungen beeinflusst und was daraus Konstruktives werden könnte.

Silke Helfrich: Kannst Du das mit einem Beispiel erklären?

Gustavo Salas: Irgendwann kam der Vorschlag auf, Registrierkassen auf den Märkten einzuführen. Registrierkassen sind ja überall die Norm. Aber bei uns gibt es das nicht. Die Cooperativistas auf dem Markt nehmen das Geld ein und bringen es in einem Umschlag zu uns ins Büro. Fertig. Irgendwann kam also dieser Vorschlag der Registrierkassen auf, um die Vorgänge besser überprüfbar zu machen. Wir haben das in unzähligen Versammlungen diskutiert. Fast drei Jahre lang. Bis uns schließlich klar wurde: Diese Registrierkasse tut vor allem eines – die Cooperativistas auf dem Markt kontrollieren. Das käme einem Vertrauensentzug gleich. Und das wollten wir nicht. Also verfahren wir weiter wie bisher. Ohne Registrierkassen, mit Umschlägen. Investition gespart. Vertrauen gewonnen. Bis dann das Finanzamt die Registrierkassen in Venezuela zur gesetzlich verpflichtenden Norm machte …

 

 

Dies ist ein Beitrag ist aus dem Buch:
Die Welt der Commons
Muster gemeinsamen Handelns

 

Hinweis: Das Buch kann über die Website des transcript-Verlags auch als E-Book bestellt werden.