Was ist Zeitpolitik?

Darstellung der Zeit
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Darstellung der Zeit

Zeitpolitik – ein relativ neuer Begriff in der öffentlichen Debatte, der aufhorchen lässt. Bei den einen löst er erst einmal Neugier aus, bei anderen Bedenken oder gar Ängste: Heißt das, dass sich nun auch die Politiker dessen bemächtigen wollen, was doch unser aller Ureigenstes ist, unsere Lebenszeit? Also noch mehr Zugriff auf unsere Privatsphäre durch Einfluss von außen in Gestalt von Staat, politischen Parteien oder Verbänden?

Bei näherem Hinsehen entdeckt man schnell, dass wir in unserem Alltag ja eigentlich schon längst in ein engmaschiges Netz zeitlicher Anforderungen und Strukturen eingebunden sind, die wir weithin nicht selbst gemacht haben. Sie sind das Ergebnis vorangegangener Entscheidungen staatlicher und religiöser Autoritäten oder wirtschaftlicher Akteure. So setzt etwa eine Schulbehörde Beginn und Ende des Schultages und der Ferienzeiten fest, an die sich Eltern und Kinder zu halten haben, wenn sie nicht unangenehme Sanktionen riskieren wollen. Ebenso bestimmt der Arbeitgeber Arbeitsbeginn und -ende oder aber auch, ob Gleitzeit in seinem Unternehmen möglich ist oder nicht.

Auf dem Weg zur Schule oder Arbeit treffen wir auf die Fahrpläne öffentlicher Verkehrsmittel, die von den Stadtwerken oder der Bundesbahn ausgearbeitet wurden. Falls wir nach der Arbeit noch etwas einkaufen gehen wollen, hindern uns daran (aus gutem Grund) nicht selten die Grenzen des Ladenschlussgesetzes, aber auch die Zeiten, die die Supermarktketten sich selbst gesetzt haben. Und wenn wir am folgenden Sonntag unseren Rasen mähen wollen, weist uns der Nachbar auf die Bestimmungen der «Rasenmäherverordnung» hin, nach der solche Arbeit in Deutschland als Verstoß gegen die vom Grundgesetz geschützte Sonntagsruhe gewertet und in schweren Fällen mit Bußgeldern geahndet werden kann.

Zeitpolitik ist also schon längst mitten unter uns – und war es schon immer, nur hatten wir bis vor kurzem noch keinen allgemein zugänglichen Begriff dafür. Denn immer wenn der Staat oder große gesellschaftliche Organisationen ihren Einfluss geltend machen, um die zeitliche Struktur der Gesellschaft, das gesellschaftliche Zeitregime, nach ihrem Bilde zu formen, handelt es sich um Zeitpolitik. So kann man zeigen, wie die Kirchen über die Jahrhunderte zeitpolitisch agiert haben, nicht nur wenn es um den Schutz einer ihrer zentralen, tief in Theologie und Kirchenpraxis/-geschichte verankerten Zeitinstitutionen, den Sonntag, geht. Und auch die Eisenbahngesellschaften haben in ihrer frühen Phase ihre je eigenen Zeitsysteme verteidigt, bis schließlich staatliche Autoritäten die Notwendigkeit erkannten, eine gesellschaftlich gültige Einheitszeit einzuführen.

Zeitpolitik kann also, stark vereinfacht, zweierlei heißen:

  • mit den Mitteln der Politik gesellschaftliche Zeitstrukturen gestalten zu wollen (Zeit als Gestaltungsgegenstand)
  • mit der Veränderung von Zeitstrukturen nicht-zeitliche Sozialstrukturen gestalten zu wollen (Zeit als Gestaltungsinstrument).

Zum Beispiel sollen die Bürger regelmäßig die Möglichkeit erhalten, ihren politischen Willen zu artikulieren; dafür gibt es zeitlich gleich gestaltete Wahlperioden. Die Regelmäßigkeit und damit Vorhersagbarkeit von Wahlterminen ist somit ein Instrument zur Aufrechterhaltung einer lebendigen Demokratie.

Zeitpolitik ist aber nicht nur dem Staat vorbehalten. Je nachdem, wie weit man den Politikbegriff fasst, kann man davon sprechen, dass sogar jedes Individuum Zeitpolitik macht. So können etwa die Konsumentinnen und Konsumenten durch Nutzung oder Nichtnutzung von Spätkaufzeiten im Einzelhandel Einfluss auf die Ladenschlusszeiten nehmen. Mehr noch erzeugen Individuen und kleinere oder größere Gruppen allein mit ihren alltäglichen Lebensgewohnheiten bestimmte Zeitstrukturen – wenn man so will als materialisierte Kondensstreifen ihrer Alltagsgeschäfte. Beispielsweise hat ja niemand jemals eine spanische Siesta verordnet, ebenso wenig wie das inzwischen weithin aus der Mode gekommene deutsche Mittagsschläfchen. Beide sind als geronnene Form gewohnheitsmäßigen Handelns eines großen Teils der Bevölkerung zu Zeitinstitutionen geworden. Allerdings lässt sich gegen einen solchen weiten Politikbegriff mit einigem Recht einwenden, dass Handeln, um zu Politik zu werden, eigentlich immer eine bewusste Gestaltungsabsicht des Akteurs voraussetzt.

Diese ist auf jeden Fall gegeben, wo Individuen zusammenkommen, um gemeinsame Interessen zu verfolgen. So finden sich Bürgerinitiativen, die für eine alltagsnähere zeitliche Organisation ihres unmittelbaren Lebensumfeldes streiten; sie versuchen, den Schulbeginn, die Fahrpläne des ÖPNV sowie die Öffnungszeiten von Ämtern, Arztpraxen oder Stadtbüchereien besser mit den Bedürfnissen der Bewohner eines Quartiers in Einklang zu bringen. Dies hat übrigens eine deutsche Kleinstadt kreativ aufgenommen und versucht nun schon seit einigen Jahren, zur "Chrono-City" zu werden. Von den Zeitinteressen der Menschen in abhängiger Beschäftigung, die von den Gewerkschaften bei Arbeitgebern und Gesellschaft in gebündelter Form eingebracht werden, war schon die Rede. Die Individuen benötigen also angemessene Organisationsformen, um ihre Zeitbedürfnisse artikulieren und durchsetzen zu können. Denn die bekannte Einsicht, dass man nur gemeinsam stark ist, gilt selbstverständlich auch für die Zeitpolitik.

Zeitpolitik wahrt die natürlichen und sozialen Rhythmen einer Gesellschaft

Allerdings wäre es ein Irrtum zu glauben, dass ein zeitpolitisches Optimum beziehungsweise maximaler "Zeitwohlstand" dann gegeben wäre, wenn eine möglichst große Zahl der Menschen die Möglichkeit hätte, ihre ganz persönlichen Zeitoptionen möglichst umfassend zu verwirklichen. Zeitpolitische Begriffe/Konzepte wie das eines "Rechts auf eigene Zeit" (s. a. Ulrich Mückenberger, Seite 12), legen eine solche Vermutung zunächst zwar nahe. Doch Zeitpolitik hat nicht nur das Individuum als letzten Bezugspunkt im Blick, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes. Sie sieht den handelnden Menschen als Teil seines sozialen und darin auch seines zeitlichen Umfeldes, also eingebunden in die Zeitordnung seines Landes beziehungsweise einer Region. Die natürlichen Rhythmen, in die eine Gesellschaft eingebettet ist, ebenso wie die sozialen Rhythmen, die sich die Menschen im Verlauf ihrer Geschichte gegeben haben, sind ein wesentlicher Bestandteil der Zeitkultur einer Gesellschaft und damit Teil ihrer Identität – ähnlich wie die Sprache oder wie Nationalgerichte. Zeitpolitik muss dazu beitragen, mit diesem Kulturgut pfleglich umzugehen und hegemoniale Ansprüche und Partialinteressen in Bezug auf die zeitliche Architektur einer Gesellschaft abzuwehren.

Erst der jahrzehntelange Protest unterband die Arbeit am Sonntag

Die Geschichte hält hierfür markante Beispiele bereit. So war es den Unternehmern der frühkapitalistischen Periode möglich, aufgrund ihrer Funktion als Bereitsteller (nicht "Anbieter"!) von Arbeitsplätzen die Arbeitszeiten auf 16 Stunden und mehr heraufzusetzen und zudem die Tradition einer kollektiven Arbeitsunterbrechung am Sonntag aufzulösen, jedenfalls für die Arbeiterschaft. Erst der jahrzehntelange Protest der Kirchen und die zum Teil sehr heftig verlaufenden Kampfmaßnahmen der Gewerkschaften zwangen die Politik zu einer Gesetzgebung, die die Arbeitszeiten drastisch reduzierte und Sonntagsarbeit mit wenigen Ausnahmen grundsätzlich untersagte.

Zeitpolitik bewirkte hier erstens, dass überhaupt erst ein gemeinsamer gesellschaftlicher Rhythmus, wie er sich etwa in Gestalt eines gelebten kollektiven Wechsels zwischen Arbeit und Ruhe manifestiert, für die Mehrheit der Bevölkerung entstehen konnte. Damit schuf sie zweitens zugleich die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich, wenn auch nur innerhalb eines zeitlichen Biotops, die zeitliche Selbstbestimmung der arbeitenden Menschen erstmals entfalten konnte. Dies wirkt bis heute: Ohne die zeitlichen Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit, die das Grundgesetz durch seinen Begriff der Sonntagsruhe setzt, die "der Erholung und Entspannung sowie der seelischen Erhebung" dienen soll, wären die Freiheiten bei der Gestaltung unseres freien Wochenendes wahrscheinlich schon längst nicht mehr im gewohnten Umfang vorhanden. Dafür sprechen jedenfalls die jahrzehntelangen Versuche verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, diese Regelung zu unterhöhlen oder gar ganz zu Fall zu bringen.

"Jedes Individuum, jede Gruppe macht Zeitpolitik. Niemand hat zum Beispiel jemals die spanische Siesta verordnet oder das weithin aus der Mode gekommene deutsche Mittagsschläfchen."

Zeitpolitik wird also verstanden als eine Arena, in der in Permanenz über die zeitliche Gestalt der Gesellschaft verhandelt wird – und damit über die Möglichkeiten des Individuums, mit seiner Zeit so umzugehen, dass daraus ein möglichst hohes Niveau an Lebensqualität und Zeitwohlstand resultiert. Darüber hinaus braucht es aber auch eine ganz individuelle Befähigung zum guten Umgang mit Zeit: "Zeitkompetenz" meint die Fähigkeit, Zeitstrukturen kritisch zu reflektieren und Schlussfolgerungen für den eigenen, aber auch öffentlichen guten Gebrauch der Zeit daraus ableiten zu können. So gesehen beginnt Zeitpolitik in der Zivilgesellschaft eigentlich mit dem Erlernen des klugen Umgangs mit der Zeit schon von Kindesbeinen an – also bei guten Vorbildern in der Familie und in der Schule.

Jürgen P. Rinderspacher ist Zeitforscher und arbeitet am Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften der Uni Münster. Er ist Mitbegründer und stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu unterschiedlichen Aspekten von Zeit und Gesellschaft.