Schiefergas-Gewinnung in der EU

Grüne Europaabgeordnete mit Protest-Plakaten

Subsidiaritäts- versus Vorsorgeprinzip

Angesichts der möglichen nachteiligen Auswirkungen der Schiefergasgewinnung ist ein gesetzlicher Ordnungsrahmen zum Schutz der Bevölkerung und der Umwelt notwendig. In den USA existiert ein solcher Rahmen derzeit nicht. Der Hauptgrund dafür ist das berüchtigte Halliburton-Schlupfloch; außerdem ist die Regulierung der Schiefergas-Industrie in den USA eine Angelegenheit der Bundesstaaten. Daher bestehen unterschiedliche Standards in den USA, und einige Bundesstaaten, z.B. Vermont und New York, haben sich für ein Fracking-Verbot oder ein Moratorium entschieden.

Die Industrie scheint öffentliche Bedenken hinsichtlich der schädlichen Auswirkungen von Schiefergas bloß als "Hindernisse" zu betrachten. Tatsächlich sind die Folgen für die Umwelt und mögliche strenge gesetzliche Auflagen das große, unausgesprochene Problem für die Schiefergas-Firmen, denn sie müssen die Konsequenzen für ihre Investitionen abwägen.

Die Europäische Union darf aufgrund des Subsidiaritätsprinzips nicht in die Wahl eines jeden Mitgliedstaates bezüglich des Energiemixes eingreifen. Die Verantwortlichkeit für die Energiestrategie liegt bei den einzelnen Mitgliedstaaten, und es gibt, wie in den USA, unterschiedliche Reaktionen: Fracking-Verbote in Bulgarien und Frankreich, regionale Moratorien in Deutschland, den Niederlanden und Spanien bis hin zu starker Unterstützung für Schiefergas in Polen, Großbritannien, Rumänien und der Ukraine. In der Tschechischen Republik, in Dänemark und Irland planen die Regierungen Moratorien. In den Niederlanden hat die Regierung das Bohren nach Schiefergas während der Untersuchung der Umweltrisiken vorübergehend gestoppt; im Jahr 2013 soll noch ein Bericht dazu vorgelegt werden. In Österreich hat das Öl und Gasunternehmen OMV seine Pläne, nach Schiefergas zu bohren, aufgegeben, nachdem ein Gesetz eingeführt wurde, das Unternehmen verpflichtet, vor jedem geplanten Projekt eine detaillierte Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen.
 

Zwar kann die EU die Entwicklung der Fracking-Branche nicht dauerhaft stoppen, doch das Bohren nach Schiefergas unterliegt allgemeineren EU-Verträgen und -Richtlinien, u.a. dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Artikel 191, der das Vorsorgeprinzip zum Kern der Umweltpolitik in der EU macht. Dies ist die Grundlage für eine wichtige Rolle der EU. Obwohl sie, rechtlich gesehen, nicht-konventionelle fossile Energieträger bzw. die Fracking-Technik nicht verbieten kann (es sei denn, die 27 Mitgliedstaaten würden sich darauf einigen), kann sie dafür sorgen, dass die in ihrem gegenwärtigen Regulierungsrahmen identifizierten Lücken geschlossen werden. Sie kann außerdem ein harmonisiertes und solides Bündel an Umweltstandards einführen, um die Auswirkungen dieser Branche zu begrenzen, insbesondere in Ländern, die die Schiefergasgewinnung unterstützen und in denen ein Verbot politisch schwer vorstellbar ist. Schließlich kann sie im Fall grenzüberschreitender Unfälle Lösungen anbieten, besonders im Falle zweier Länder mit gegensätzlichen Positionen hinsichtlich der nicht-konventionellen fossilen Energieträger und der Methode ihrer Gewinnung.

Jedoch waren die meisten EU-Institutionen – insbesondere die Europäische Kommission – bis zur zweiten Hälfte 2012 der Ansicht, dass kein spezifischer EU-weiter Rechtsrahmen für die Exploration bzw. Ausbeutung nicht-konventioneller fossiler Energieträger erforderlich sei. Ihrer Ansicht nach war die Gewinnung von Schiefergas bereits von einer Reihe bestehender Rechtsvorschriften hinreichend erfasst: die Wasserrahmenrichtlinie, die Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung, die Bergbauabfallrichtlinie und die REACH-Richtlinie zur Sicherheit von Chemikalien, um nur einige wenige zu erwähnen.

Neue Studien, neue Debatten

Seit der Publikation von drei Studien im Auftrag der Europäischen Kommission im September 2012 ist in diese Angelegenheit Bewegung gekommen:

Die Ergebnisse der Studien veränderten durchaus den Ton der Debatte:

Andere Generaldirektionen der Europäischen Kommission haben jedoch ihre offene Unterstützung einer Entwicklung der Schiefergasbranche in Europa erklärt. Der Energiekommissar Günther Oettinger erinnert beispielsweise regelmäßig daran, dass er "die Förderung von Schiefergas [stark] befürwortet, besonders aus Sicherheitsgründen und um die Gaspreise zu senken", trotz des allgemeinen Eingeständnisses, auch vonseiten der Industrie, dass Schiefergas bestenfalls eine lediglich zu vernachlässigende Auswirkung auf die Gaspreise in Europa hätte.

Trotzdem wurde der vorsichtige Ansatz der GD Umwelt und der GD Klimapolitik von den Debatten im Europäischen Parlament bestätigt. Das Europäische Parlament veranstaltete 2011 und 2012 mehrere Workshops und Anhörungen, mit dem Ergebnis, dass die Ausschüsse für Industrie und Umwelt sich dazu entschlossen, jeweils eine separate Stellungnahme zu Schiefergas zu verfassen. (170) Die Befürworter von Schiefergas argumentierten, dass die Risiken im Zusammenhang mit der Ausbeutung von Schiefergas durch vorbeugende Maßnahmen kontrolliert werden könnten, und dass die Gewinnung von Schiefergas in EU-Ländern von den nationalen Behörden reguliert werden sollte, mit der Europäischen Kommission als Überwachungsinstanz. Die Gegner stellten diese Positionen in Frage und entgegneten: Falls ein einfaches Verbot nicht möglich sei, sollte eine breite Palette bestehender europäischer Richtlinien zumindest überprüft und gestärkt werden, um eine Wiederholung der in den USA gemachten Fehler zu vermeiden und die unvermeidbaren Auswirkungen dieser Branche zu begrenzen.

Auf dem Weg zu einem neuen EU-weiten Rechtsrahmen?

Die Diskussionen brachten sowohl die Europäische Kommission als auch das Europäische Parlament dazu, Beschlüsse über die Notwendigkeit einer Überprüfung der bestehenden Gesetzgebung und ihrer Anpassung an die Besonderheiten der Gewinnung nicht-konventioneller fossiler Energieträger zu fassen. Es bleibt nun abzuwarten, inwieweit konkrete Gesetzgebungsmaßnahmen diesen Aussagen folgen werden.

Die Europäische Kommission hat in ihrem Arbeitsprogramm für 2013 eine Initiative mit dem Ziel aufgenommen, Optionen für eine bessere Regulierung und Überwachung der Schiefergasbranche zu untersuchen. Auch wenn noch nicht klar ist, wie dies umgesetzt werden wird – durch neue, eigenständige Gesetzgebung, die Überprüfung bestehender Gesetzgebung, die Definition der besten verfügbaren Praxis, nicht bindende Empfehlungen an Mitgliedstaaten oder eine Kombination einiger dieser Optionen –, arbeitet die Europäische Kommission an einer Risikoabschätzung, um die Auswirkungen dieser Branche auf Gesundheit und Umwelt besser zu verstehen.

Insbesondere hat sie Expertenworkshops organisiert, um die Auswirkungen möglicher Abbauaktivitäten unter der Erde und an der Oberfläche zu analysieren, neue Rechtsgutachten in Auftrag gegeben und Anfang 2013 eine öffentliche Konsultation auf europäischer Ebene angestoßen, um die Erwartungen und Befürchtungen der Öffentlichkeit hinsichtlich der Schiefergasgewinnung in Europa zu bewerten.
Die Ergebnisse wurden im Juni 2013 präsentiert: 23.000 Antworten waren eingegangen, von denen mehr als die Hälfte aus Polen stammten. Allerdings zeigten die nach Bevölkerungszahl gewichteten Resultate, dass:

  • 64 Prozent der Beteiligten der Ansicht sind, dass nicht-konventionelle fossile Energieträger "in Europa überhaupt nicht entwickelt werden sollten";
  • 20 Prozent denken, dass sie "in Europa nur unter der Bedingung ordnungsgemäßer Gesundheits- und Umweltschutzmaßnahmen entwickelt werden sollten";
  • 12 Prozent der Beteiligten waren der Meinung, dass sie "in jedem Fall in Europa entwickelt werden sollten" (mit der gegenwärtigen Gesetzgebung).

Die Europäische Kommission wird vor Ende 2013 ihre Schlussfolgerungen und einen Gesetzesvorschlag vorlegen.

Fortdauernde Überprüfung der bestehenden Gesetzgebung

In der Zwischenzeit setzen die europäischen Institutionen ihren laufenden Prozess der Überprüfung bestehender Gesetze fort, um sie an die neuen Realitäten anzupassen. Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf das Thema "nicht-konventionelle fossile Energieträger", da manche dieser Gesetze, die an die neuen Bedingungen angepasst werden, Schiefergasaktivitäten teilweise regulieren werden.

Dies ist insbesondere der Fall bei der Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP), die in ihrer gegenwärtigen Fassung die Besonderheiten der nichtkonventionellen fossilen Energieträger nicht berücksichtigt und die daher vor dem Beginn neuer Projekte mit nicht-konventionellen fossilen Energieträgern keine systematische Überprüfung der Umweltauswirkungen garantieren kann. Dies bedeutet,

  • dass vor dem Beginn neuer Projekte keine Ausgangsdaten gesammelt werden müssten;
  • dass Bohrunternehmen nicht verpflichtet wären, betroffene Gemeinden über den Beginn eines neuen Projekts zu informieren und zu konsultieren.

Die Branche und ihre Befürworter (insbesondere die polnische Regierung) bemühen sich um Ausnahmen für Schiefergas bei der Umweltverträglichkeitsprüfung und betreiben gegenwärtig energisch Lobbyarbeit mit dem Ziel, dass die Besonderheiten der Schiefergasgewinnung nicht in die Gesetzgebung aufgenommen werden. In Ländern, die die Entwicklung von Fracking beführworten und wo sich kein Frackingverbot durchsetzen läßt, kann eine Umweltverträglichkeitsprüfung ein entscheidendes Instrument für die Bevölkerung darstellen. Sie würde rechtliche Möglichkeiten bieten, Zusammenhänge zwischen Bohraktivitäten und möglichen Unfällen nachzuweisen und neuen Projekten mit juristischen Mitteln entgegenzutreten.
 

Mit gutem Beispiel für die Entwicklungsländer vorangehen
 

Schiefergas geht mit einer Reihe schwerwiegender Klima-, Umwelt- und Gesundheitsrisiken einher, die selbst in Ländern des Nordens schwierig in den Griff zu kriegen sind. Eine Expansion der Schiefergasgewinnung in der südlichen Hemisphäre, insbesondere in Ländern mit schwachen politischen Systemen, könnte die globale Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und die Menge klimaschädlicher Treibhausgasemissionen erhöhen; zudem wäre es ein ernstzunehmendes Risiko für die betroffenen Gemeinden und die Umwelt.

Eine globale Ressource

Schiefergasreserven sind in Algerien, Libyen, Marokko, Tunesien, Südafrika, Argentinien, Brasilien, Bolivien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Paraguay, Uruguay, Venezuela, Indien, Pakistan und China entdeckt worden. Viele dieser Reserven werden bislang noch nicht ausgebeutet. In China wird derzeit – wo Unternehmen wie Shell bereits begonnen haben, im massiven Maßstab zu investieren – aktiv exploriert, auch in Teilen von Südamerika, insbesondere Argentinien.

Infografik Schiefergasvorkommen

Bestätigte Vorkommen von Schiefergas in Billionen cft (Kubikfuß) / Quelle: Citigroup, Bloomberg

Die erhöhten Risiken von Umwelt- und Gesundheitsschäden in Entwicklungsländern

Die Reduzierung der Energiearmut in Entwicklungsländern hat globale Priorität und wird im Rahmen der Millennium-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals, MDGs) der UN gefördert; gleichzeitig besteht als siebtes Entwicklungsziel die Unterstützung ökologischer Nachhaltigkeit. Als eine Unterzeichnerin der MDGs ist die EU verpflichtet, das Erreichen auch dieses Ziels zu unterstützen.

Aus diesem Grund sieht der Entwicklungsausschuss des Europäischen Parlaments eine Unterstützung der EU für die Ausbeutung von Schiefergas in Entwicklungsländern kritisch. Er hat eine Entschließung gefordert, die die schwerwiegenden Bedenken gegen Schiefergas anerkennt. Als Gründe sieht er die nachteiligen Auswirkungen auf die globalen Klimaziele, auf wasserarme Regionen und die Gefahr von Landraub. Das hohe Risiko der Wasserkontamination kann gerade bei Wasserknappheit zu einem wichtigen Thema werden. Wie vom Entwicklungsausschuss herausgestellt, könnte dies das Erreichen der Entwicklungsziele im Hinblick auf Zugang zu sauberem Wasser und Ernährungssicherheit gefährden.

Die Erfahrungen in Nordamerika sowie die ersten Berichte über Unfälle in Europa werfen ernsthafte Fragen darüber auf, wie sich die Schiefergasindustrie in Entwicklungsländern verhalten würde. Es ist wahrscheinlich, dass die Risiken für Mensch und Umwelt wegen fehlender Regulierungen erheblich höher wären. Auch ist eine Zunahme von Korruption, Menschenrechtsverletzungen und sozialen Konflikten zu erwarten, ohne dass die Schiefergasindustrie einen wesentlichen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten dürfte. (1)

Zahlreiche Fälle in der Vergangenheit zeigen, dass sich europäische Öl- und Gasunternehmen bei nicht-konventionellen Ressourcen "weltweit an unterschiedliche Sicherheitsstandards halten", wie der Entwicklungsausschuss des Europäischen Parlaments feststellte. Aus diesem Grund ist es von entscheidender Bedeutung, dass europäische Unternehmen, die in Entwicklungsländern an Schiefergasprojekten beteiligt sind, verantwortungsbewusste Industriestandards an sämtlichen Standorten anwenden, und dass die Kommission neue Optionen zur Stärkung rechtlich bindender Standards zur Haftung der transnationalen Konzerne identifiziert.

Die EU hat bereits anerkannt, dass es nicht ausreicht, nachhaltige Entwicklung in Europa isoliert zu betrachten, sondern dass dies auch "Engagement und aktiven Einsatz für die nachhaltige Entwicklung in den übrigen Ländern der Welt" voraussetzt.

 

Endnoten:
(1) Weiterführend z.B. zu den Aktivitäten von Shell außerhalb von Europa:
» Shell: Erratum to the annual report, Mai 2011, Friends of the Earth International
» Sarah Wykes und Lorne Stockman: Marginal Oil – Energiegewinnung an den Grenzen der Vernunft, hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung, Schriften zur Ökologie Band 29, März 2013 (englisches Original: Mai 2011, Friends of the Earth Europe)

 

Dieser Artikel erschien zunächst in der Publikation "Ressourcenschwindel Schiefergas".
 

Publikation: Ressourcenschwindel Schiefergas
 

 Erscheinungsort: Berlin
 Erscheinungsdatum: Oktober 2013
 Seiten: 57
 License: CC-BY-NC-ND
 ISBN: 978-3-86928-114-8